home

FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Eldads reale und imaginäre Reisen

Paris, Leipzig und andere Reisen

Impressionen von Eldad Stobezki

Gleichzeitig in beiden Städten zu sein, YouTube macht’s möglich! Im einen Film singt der Thomanerchor Motetten in der Leipziger Thomaskirche und im anderen gehe ich über den großen Pariser Flohmarkt von Saint-Ouen. Berge von glänzendem Silberbesteck, auch Fisch- und Vorlegebestecke aller Art und aus allen Epochen werden angeboten. Wie viele Haushalte wurden wohl entrümpelt?

Bachs letzte Ruhestätte in der Leipziger Thomanerkirche, Foto: Petra Kammann

Ich denke an die Großfamilien, die zerstreut sind, an die Hochzeiten, Taufen, Geburtstage, an Ostern und Weihnachten und auch an den Leichenschmaus, zu dem sie zusammengekommen sind. Wieso ist das Besteck nicht in der Familie verteilt worden? Während die zarten Stimmen der Thomaner die Choräle anstimmen, gehen japanische Touristen über den Flohmarkt und erkundigen sich, wofür das eine oder andere Geschirr und Besteck verwendet wird. Ich bin gleichzeitig in zwei Welten, die beide perfekter, aber auch gegensätzlicher nicht sein können. Die geistige Musik versus erlesenen Konsum oder Edeltrödel. Der graue Himmel kann mir nichts anhaben. Wohin geht die nächste Sesselreise?

Edeltrödel oder Krempel – was hält schon ewig, was landet auf dem Flohmarkt?, Foto: Petra Kammann

Englisch war die erste Fremdsprache im Gymnasium und ich war fest entschlossen, sie einmal zu beherrschen. Verliebt in die Sprache, verliebte ich mich bald auch in die Lehrerin. In der amerikanischen Botschaft in Tel Aviv habe ich Bücher ausgeliehen und das Oxford-Wörterbuch machte Überstunden. Unvergessen bleibt die haptische Wahrnehmung und der Geruch des hochwertigen Papiers. So riecht die große Welt, dachte ich. Die in Israel gedruckten Bücher waren auf dünnem, billigem Papier gedruckt und rochen nicht so gut. Damals konnte man ohne Sicherheitskontrolle in die Bücherei gehen und man konnte dort auch Schallplatten ausleihen. So lernte ich Charles Ives und Aaron Copland kennen. Auch das war eine Reise, ohne zu reisen.

Diese Reise fand wirklich statt: An einem Montagmorgen fuhr ich mit der Bahn nach München. Kurz vor der Ankunft am Stuttgarter Hauptbahnhof verabschiedete sich der Lokführer von den Fahrgästen, die dort aussteigen wollten: „Ich wünsche Ihnen einen tüchtigen Arbeitstag.“ Vor der Weiterreise kam noch die Durchsage: „Bitte beachten Sie, dass die Türen jetzt zwanghaft geschlossen werden.“

Im Zweiten Weltkrieg starben insgesamt etwa 5,5 Millionen deutsche Soldaten und 1,267 Millionen Zivilisten. Ohne Migration hätte man nach dem Krieg die deutsche Wirtschaft nicht wieder in Gang setzen können. So war es schon vor dem Krieg und so ist es noch heute. Doch Migration und Flucht sind keine Reise.

Diskussion in der Jüdischen Gemeinde Frankfurt über die Bedeutung von Migration und Emigration, Foto: Petra Kammann

Nach einer hitzigen Debatte hat der Bundestag einem Antrag der CDU zur Verschärfung der Migrationspolitik zugestimmt – auch mit Stimmen der AfD. Die „Brandmauer“ war gebrochen, SPD und Grüne sahen darin einen Tabubruch. Zum ersten Mal bekam ich Angst. Den Gesetzentwurf der Union zur Migration hat der Bundestag aber abgelehnt. Ich atmete auf. Und wie geht es weiter? Wann werden wir endlich ein vernünftiges Migrationsgesetz haben? Was muss noch geschehen bis wir alle Städte nach dem Alphabet auf der Todes-Liste haben? Jetzt sind es schon Aschaffenburg, Berlin, Halle, Magdeburg, und noch weitere. Auf diese Städtetour hätte ich gerne verzichtet.

Mehr Kopfreisen und echte Reisen

Erst durch die Migrationsdebatten ist mir in den Sinn gekommen, dass ich ein Kind von Flüchtlingen bin. Die Reise meiner Eltern von Deutschland nach Palästina, im Jahr 1933, war eine Reise ins Unbekannte. Über ihre Flucht haben sie nur selten gesprochen und es geschafft, ihren Kindern eine behütete Kindheit zu schenken. Erst Jahrzehnte später verstand ich, was sie verloren haben und wie schmerzlich das gewesen sein muss. Daraus resultiert meine Verachtung für die populistischen Wahlsprüche einiger Politiker.

„Gespenster in Prag“- eines der Themen der Münchner Ausstellung „Aber hier leben? Nein danke“, Foto: Petra Kammann

„Ich war heute Nacht in einem jüdischen Dorf“, schrieb mir eine Freundin, „Die Häuser hatten keine Türen.“ Als ich fragte, warum kein Haus eine Tür hat, antwortete man mir, mit leichtem Vorwurf in der Stimme, ob ich nicht wüsste, dass ‚jüdische Häuser‘ keine Türen haben. „Und wer soll das nun deuten?“, fragte sie. Ich dachte sofort an den Anschlag auf die Synagoge in Halle im Oktober 2019. Anlässlich der jüdischen Feiertage hatten sich etwa achtzig Gläubige in der Synagoge versammelt. Der Attentäter konnte die verriegelte Sicherheitstür nicht überwinden. Das bedeutete die Rettung der Gemeinde. Auf der Straße vor der Synagoge erschoss der antisemitische Täter dann zwei Menschen und verletzte zwei weitere schwer.

Beim Überfall der Hamas am 23. Oktober 2023 boten die Schutzräume nur teilweise Sicherheit. Manche schafften es, die Tür verriegelt zu halten, bei anderen konnten die Terroristen einbrechen und haben die Menschen getötet oder verschleppt.

In der Nacht reise ich durch meine Albträume. Ich befinde mich in fremden Bahnhöfen und U-Bahn-Schächten, muss einen Fahrschein lösen, aber wie macht man das hier? In welcher Stadt bin ich? Die Gegend sieht fremd aus, doch die alten Häuser kommen mir bekannt vor. Wer wohnt jetzt da? Wo ist die Bushaltestelle? Warum sind die Gärten so steil? Mein Ziel, werde ich es noch pünktlich erreichen?

Der U-Bahn-Schacht in München dient noch der Orientierung, Foto: Petra Kammann

Als Sechsjähriger fuhr ich mit meinem Vater zum ersten Mal nach Jerusalem. Aus dem flachen Tel Aviv kommend, kamen mir die Hügel vor Jerusalem, in denen wilde Anemonen, Ranunkeln und Mohn blühten, wie hohe Berge vor. Anlass für die Fahrt war der Schnee, der über Nacht dort gefallen war. Den wollte mein Vater mir zeigen. Wir verließen den Bahnhof, tappten durch den bereits schmelzenden Schnee und fuhren mit nassen Schuhen gleich wieder zurück. Der Zweck einer Reise ist etwas Neues kennenzulernen, erklärte mir mein Vater. Auf Deutsch sagte er: „Reisen bildet.“

Im Dezember 2024 waren wir in den Niederlanden, um in Naarden das Weihnachtsoratorium von J. S. Bach zu hören. In Utrecht, an einem der größten Bahnhöfe des Landes, stiegen wir um. Während wir auf den Anschlusszug warteten, hörte ich schrilles Vogelgezwitscher, sah aber keine Vögel und dachte, die niederländische Bahn berieselt ihre Fahrgäste mit Naturgeräuschen. Weit gefehlt. Ich wurde belehrt, dass man mit dieser Methode die Tauben abwehren kann. Besonders effektiv sind dabei die Rufe von Raubvögeln wie Falken oder Habichte, die von Tauben als natürliche Feinde gefürchtet werden. Diese Methode gehört zu den tierfreundlichsten Ansätzen, Tauben ohne Gewalt zu vertreiben.

Gleitschirme im Flug, aus: Wikipedia 

Beneidenswert sind Menschen, die Parahawking betreiben. So wird die Kombination von Gleitschirmfliegen und Falknerei bezeichnet. Dabei werden Greifvögel von einem Falkner dazu trainiert, Gleitschirmflieger zu begleiten. Beide nutzen die natürlichen thermischen Aufwinde. Beim Parahawking begleitet der Vogel „seinen“ Piloten oft über mehrere Stunden und fliegt mit einem Abstand von wenigen Metern neben ihm her.

Ein israelischer Freund, der in San Francisco lebt, lud mich vor Jahren ein, ihn und seine Familie zu besuchen. Nach dem er mir erzählt hatte, dass er eine große Schlange besitzt, die sich frei im Haus bewegt, fuhr ich nicht. Sie war zwar nicht giftig, aber nein, Danke!

Eine Bekannte überwintert in Asien. Täglich postet sie Fotos vom Sonnenuntergang am Strand, beim Aperol Spritz. Neulich wollte sie das Wort „Wissensstand“ benutzen. Sie vertippte sich und schrieb: Wissensstrand.“

Nach vielen Europa-Reisen in den 70er Jahren kam ich 1979 auf die Idee, die Richtung zu wechseln. Ich wollte Teheran erkunden. Zu spät, die Revolution war ausgebrochen. Stattdessen flog ich nach Frankfurt, besuchte Freunde und entschied mich, in Deutschland zu bleiben.

Trauer und Erinnerung an den Überfall der Hamas am 23. Oktober 2023, Foto: Petra Kammann

Neulich bin ich auf ein altes, englisches Wort gestoßen – „Dustsceawung“ und fand keine adäquate Übersetzung. Das Wort stammt von dūst („Staub“) und sceawung („Inspektion, Betrachtung“). Dustsceawung ist die Betrachtung der Tatsache, dass Staub aus dem Zerfall festen Materials entsteht: Den Mauern einer Stadt, einem Buch, einem großen Baum. Staub ist immer das endgültige Ergebnis. Solche Betrachtung kann die weltlichen Begierden mäßigen, die uns im Griff haben. „Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub“. Der Gedanke hinter dieser Formel ist, dass der Mensch dorthin zurückkehrt, wo er hergekommen ist. Die Schöpfungsgeschichte ist der Ursprung des Gedankens, dass der Verstorbene wieder zu Erde, Asche und Staub wird. Das ist die letzte Reise.

 

Eldad Stobezki, der Autor des Textes, ist 1951 in Tel Aviv geboren und lebt seit 1979 in Frankfurt am Main. Als Literaturvermittler baut der Lektor, Moderator, Gutachter und Übersetzer Brücken zwischen den widersprüchlichsten Welten. Zuletzt erschienen seine humorvollen wie tiefgründigen Geschichten und Alltagsbeobachtungen „Rutschfeste Badematten und koschere Mangos“(edition w). 

Comments are closed.