Wechsel-Spiel von Musik und Literatur im Kulturzentrum Englische Kirche in Bad Homburg – Innere Korrespondenzen zwischen Himmel und Hölle
Aufbruch in die Moderne oder wie Frauen sich Freiräume eroberten
Ein besonderer Abend: Die hoch angesehene luxemburgisch-schweizerische Pianistin Viviane Goergen spielte kurz vor dem 100. Todestag der in Vergessenheit geratenen französischen Pianistin, Komponistin und Musikpädagogin Marie Jaëll (1846-1925) in der Bad Homburger Kulturkirche ausgewählte Szenen aus den 18 Klavierstücken, die Jaëll zu Dantes „Göttlicher Komödie“ komponiert hatte. Parallel dazu las FAZ-Feuilletonchefin Sandra Kegel ausgewählte Kurzgeschichten von Schriftstellerinnen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhundert , denen die Anerkennung zu ihrer Zeit verwehrt blieb, aus dem von ihr herausgegebenen Sammelband „Prosaische Passionen“ (Manesse).
„Musik trifft auf Literatur“ – Pianistin Viviane Goergen auf FAZ-Feuilletonchefin Sandra Kegel, Foto: Petra Kammann
Was an diesem ungewöhnlichen Abend zunächst wie ein Versäumnis aussah, erwies sich im Nachhinein als Glücksfall. Die Kulturdezernentin der Stadt Bad Homburg Dr. Bettina Gentzcke erklärte, dass die Ausdrucke des Programms versehentlich im Kulturamt liegen geblieben waren. So mussten die auf der Bühne Agierenden selbst vor jedem Auftritt nochmal eine kurze Einführung zu dem von ihnen Dargebotenen machen, was sie für den Abend ausgewählt hatten – mit dem Effekt: Das Publikum spitzte die Ohren, ließ sich konzentriert auf das Klavierspiel wie auf die vorgetragenen Kurzgeschichten und deren Hintergründe ein.
Bad Homburgs Kulturdezernentin Dr. Bettina Gentzcke, Foto: Petra Kammann
Vorab aber stellte Gentzcke in ihrer einführenden Rede beide Akteurinnen vor: die Germanistin und Romanistin Sandra Kegel, die etlichen Bad Homburgern als Jury-Vorsitzende des in Bad Homburg vergebenen Hölderlin-Preises bekannt sein dürfte, anderen wiederum durch ihren vor 15 Jahren erschienenen, noch heute so provozierenden FAZ-Artikel über „Die Rabenmütter“, in dem Kegel sich mit dem weiblichen Rollenverständnis auseinandersetzte. In ihrem zuletzt herausgekommenen Sammelband „Prosaische Passionen“ lässt sie schreibende Frauen des Fin de Siècle und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu Wort kommen, die noch bis in die 1970er Jahre gesellschaftlich ausgegrenzt waren und oft genug heimlich am Küchentisch produzierten, weil sie kein eigenes Arbeitszimmer hatten.
Die inzwischen in Bad Homburg lebende renommierte schweizerisch-luxemburgische Pianistin Viviane Goergen, die zwischen kammermusikalisch und solistisch schon in Konzertsälen in Prag, London, Paris, Frankfurt, Algier, Salzburg, Wien oder Berlin aufgetreten ist, sich in ihrem „Zentrum für Musik und konstruktives Denken“ in Frankfurt ab 2013 vor allem um den musikalischen Nachwuchs kümmerte und hin und wieder in der Kulturkirche Bad Homburgs zu erleben ist, beschäftigte sich wiederum mit komponierenden Frauen der selben Zeit, so wie etwa mit der Französin Germaine Tailleferre (1892-1983) oder mit Marie Jaëll (1846-1925). Vom Beginn der Pandemie in 2020 kehrte sie wieder intensiv zu ihren solistischen Auftritten zurück, da sie wieder mehr Zeit für ihr eigenes Üben fand.
„Würde der Name eines Mannes auf ihren Kompositionen stehen, wären sie auf allen Klavieren zu finden.“ So äußerte sich kein Geringerer als Franz Liszt über die virtuose Pianistin und Komponistin Marie Jaëll, die ihn bewunderte und ihm in den letzten Lebensjahren in Weimar selbstlos zur Seite stand und teils seine Kompositionen korrigierte. Nicht nur spielte sie selbst brillant Klavier – so hatte sie zum ersten Mal ebenso alle 32 Beethoven-Sonaten hintereinander gespielt wie auch das komplette Klavierwerk von Franz Liszt. Doch bringt es seinen Ausspruch auf den Punkt: „Sie hat zwar alles: Begabung, Ehrgeiz, Ausdauer, Fleiß, Kreativität, Können und Geschmack. Aber sie ist und bleibt eine Frau“, schreibt Liszt über Jaëll und deutet damit die Tragik ihres Lebens an.
Ausgebildet in Paris bei dem belgischen Komponisten César Franck (1822-1890) und befreundet mit Gabriel Fauré (1845-1924) und Camille Saint-Saëns, (1835-1921), der ihr Mentor wurde, wie auch durch Johannes Brahms und Franz Liszt, trat sie zur Freude der Kritiker auf ausgedehnten Konzertreisen quer durch Europa nicht nur in Leipzig, Paris oder Antwerpen, teils im Duo mit ihrem 15 Jahre älteren und sehr viel früher verstorbenen Mann, dem Pianisten Alfred Jaëll (1832-1882) auf, sondern spielte auch da schon eigene Kompositionen. Nach dem Tod ihres Mannes 1882 wendete sie sich wieder stärker dem Komponieren zu und wurde bereits 1887 als erste Frau in die anspruchsvolle Pariser Société des compositeurs aufgenommen. Dennoch blieb sie immer im Schatten der männlichen Kollegen. Die 18 Klavierstücke zu Dantes „Göttlicher Komödie“ sind jedoch ihre letzte Komposition. Vielleicht, weil ihr Mentor Saint-Saëns diese nicht goutierte?
Viviane Goergen beschäftigte sich intensiv mit Jaëlls Dante-Vertonung, Foto: Petra Kammann
Der 1894 entstandene dreiteilige Klavierzyklus mit dem französischen Titel „18 Pièces pour piano d’après la lecture de Dante“ ist inspiriert von der intensiven Lektüre der hochkomplexen „Commedia“ des mittelalterlichen italienischen Dichters Dante Alighieri (1265 -1321), dessen „Göttliche Komödie“ mit der Dreiteilung in Inferno (Hölle), Purgatorio (Fegefeuer) und Paradiso (Paradies) den ganzen metaphysischen und physischen Raum und Kosmos menschlicher Begierden und Abgründe der damaligen Zeit zwischen Florenz und Ravenna, wo der Dichter im Exil lebte, ebenso ausmisst wie seine vergebliche Liebe zu der früh verstorbenen Beatrice, die er buchstäblich anhimmelte.
Alle drei Teile der „Commedia“ hat Jaëll mit der Zusatzbemekung „Ce qu’on entend“ überschrieben , also „was man hört“, möglicherweise als Ergänzung zu dem, was man sieht und sich daher leichter erschließt. Vermutlich hätte das Leben von Marie Jaëll nicht mehr ausgereicht, wenn sie alle Dante-Episoden hintereinander malerisch vertont hätte. Vielmehr ging es ihr wohl darum, in ihren Kompositionen neue Klangwelten zu erschließen. Viviane Goergen spielte daraus so bewegende Stücke wie die „Désirs Impuissants“ („Vergebliche Sehnsucht“), die „Remords“(„Gewissensbisse“), den „Appel“ („Ruf“), die „Voix célestes“ („Himmlische Stimmen“) aus dem Zyklus „Paradies“ und schließlich „Dans les flammes“ („In den Flammen“) aus Dantes Inferno, jeweils abgestimmt auf die vorgetragenen Kurzgeschichten.
Insofern war Goergens Bemerkung hilfreich, die lebendig und in ihren souveränen Ankündigungen darauf aufmerksam machte, dass Jaëll sich insgesamt atmosphärisch von der „Commedia“ inspirieren ließ und sich Fragen stellte wie: Wie hört sich zum Beispiel das „Fegefeuer“ an? Auch in Goergens Interpretation klang es so, wie es wohl auch die Impressionisten zur selben Zeit in der Malerei mit dem Pinsel taten, mit teils hingetupften Tönen auf der Klaviatur. So begann sie ihr Spiel mit den „Désirs impuissants“ (Vergebliche Sehnsucht“), den zögerlichen Aufschwüngen und musikalisch sich ostentativ wiederholenden Tönen aus diesem Zyklus, der auch mit Sehnsucht überschrieben ist, aber auch auf die Vergeblichkeit des Verlangens hinweist, auf das Flehen und Gefangensein vor dem Himmelstor, was durch die Doppelungen besonders intensiv zum Ausdruck kam, und was wiederum zur ersten Geschichte von Kate Chopin (1850-1904) passte, die Sandra Kegel vorstellte, in der sich die Autorin zunächst zögernd nach Freiheit sehnt, und die ihre Protagonistin Mrs. Mallard entspannt im Sessel sitzend, nur kurz und leise die Worte „frei, frei frei“ ausstoßen lässt, dann nämlich, als diese für einen Moment glaubt, sie könne den beschwerlichen Alltag einer Hausfrau und sechsfachen Mutter hinter sich lassen, während sie sich mit der Nachricht auseinandersetzt, ihr Mann sei während einer Eisenbahnfahrt ums Leben gekommen.
Lesung von Sandra Kegel, Foto: Petra Kammann
Die kurze „Geschichte einer Stunde“ der amerikanischen Autorin Kate Chopin von der am Herzen leidenden jungen physisch und psychisch erschöpften Mrs. Mallard phantasiert sich durch die Nachricht des Todes in eine neue Lage hinein. Nachdem ihre Angst um die unmittelbar nahe Zukunft „einer monströsen Freude“ gewichen ist, spürt sie förmlich, wie neues Leben in sie einströmt und sie sich bei dem folgenden Gedanken erwärmt: „In diesen kommenden Jahren würde niemand für sie leben, sie würde für sich selbst leben.“ Als ihr Mann dann wider Erwarten an der Haustür auftaucht, sinkt sie ihm in die Arme und stirbt an Herzversagen. Ironie des Schicksals einer begabten schreibenden und wahrnehmenden Frau. Da Chopin nicht nur mit dieser Erzählung anerkannte und gängige gesellschaftliche Moralvorstellungen in Frage stellte, fand die Autorin, die zuvor schon einen Roman geschrieben hatte, nun keinen Verleger mehr für ihre Kurzgeschichte und erst recht nicht für ihren nachfolgenden Roman „Das Erwachen“, der erst Ende der 1960er Jahre wieder entdeckt wurde.
Beide Schöpfungen – die Klavierkomposition wie auch die Kurzgeschichte – waren im Jahr 1894 entstanden. Dieser zeitliche Zufall führte wohl auch zur Zusammenarbeit der Musikerin Goergen und der Literatin Kegel. In dieser Zeit des Auf- und Umbruchs zum 20. Jahrhundert hin warfen und gestalteten experimentierlustige und eigenwillige Frauen einen neuen Blick auf die heraufziehende Moderne mit all ihren Rissen, expressiv und zugleich konsequent karg, mit etlichen Hinternissen, aber anerkannt wurden sie deswegen eben noch nicht.
Wechselspiel von musikalischer und literarischer Darbietung, Foto: Petra Kammann
Dass in dieser Zeit Frauen auch ironisch bis kabarettistisch frech sein können, davon zeugte die von Kegel gelesene Kurzgeschichte „Das jüngste Gericht“ der schon sehr viel selbstbewussteren Franzsika von Reventlow (1871-1918). Ihre köstliche Geschichte spielt am Vorabend des „Jüngsten Gerichts“, wo sich der liebe Gott und Petrus fragen, ob sie wohl wegen der lasterhaften Vorgänge für den nächsten Tag einen Staatsanwalt hinzuziehen sollten, um die Konfusion im Himmel, in dem es drunter und drüber ging, juristisch zu regeln. „Der liebe Gott und Petrus saßen vor ihren großen Büchern, suchten, zählten und verglichen um die Wette. Da waren die Geburts- und Todesregister, die Himmel-, Höllen- und Fegefeuerlisten. Da waren die Kontobücher – auf der einen Seite standen die Sünden, auf der anderen die guten und verdienstlichen Werke der Menschheit aufgezeichnet.“ Um der Sache ein Ende zu bereiten, beschäftigen sie im Fegefeuer Herrn Donnerschlag. Der sollte die „armen Sünder“ Mores lehren und Exempel statuieren. Und was wird aus Hiob? Petrus und der liebe Gott lösen einen Aufruhr aus und stellen alles in Frage. Diese Parodie einer rebellischen Frau, die sich zur freien Liebe und zur freien Mutterschaft bekannte, reagierte mit Witz auf die Dreiteilung der Welt in Himmel, Fegefeuer und Hölle sowie auf die Moralvorstellungen der damaligen Zeit…
Passend, wenn auch sehr viel ernster wiederum geht es zu in Marie Jaëlls vertontem „Ruf“ („Appel“) aus Dantes Zyklus des Infernos. Da verirrt sich in einem dunklen Wald der Ich-Erzähler Dante und gerät in die Hölle. Als er sich dessen bewusst wird, will er sie sofort verlassen. Mit wenigen, sich wiederholenden tiefen Moll-Tönen erzeugt die Komponistin eine düstere höllische, bedrohlich wirkende Atmosphäre. In Dantes Commedia ist es der Ruf der geliebten Seelenführerin Beatrice, die Vergil bittet, Dante zu Hilfe zu kommen, ihn zu schützen und ihn unbeschadet durch die Hölle und das Fegefeuer zu geleiten. Den Schluss dieser Szene mit – zu dieser Zeit – bislang ungehörten Dissonanzen spielte Goergen schwebend offen und ließ so Raum für Assoziationen.
In der Kurzgeschichte „I will be glad when you are dead“ der österreichischen Autorin Marlen Haushofer (1920-1970), den meisten eher durch ihren Roman „Die Wand“ bekannt, geht es schon im Titel nicht gerade harmonisch zur Sache: Dabei ist dieser so aggressiv wirkende Satz wohl eher einem Song von Sam Theard (1904–1982) entlehnt, in dem es heißt: „I’ll Be Glad When You’re Dead, You Rascal You!“. Gesungen wurde er 1938 außerdem von Jazzgrößen wie Louis Armstrong, was wohl auch die Autorin dazu inspiriert hat, von langweiligen Ehen zu erzählen, von der Sehnsucht der Frau nach einem „richtigen Leben“ statt nach einem „richtigen Leben im Falschen“, von ihren meist vergeblichen Versuchen, aus dem lähmenden Alltag auszubrechen. In dieser Kurzgeschichte kann die junge Frau aus dem alltäglichen häuslichen, sich wiederholenden Grauen nicht ausbrechen. Vielmehr ergibt sie sich der Lage, in dem sie ihr Gefühlsleben gegenüber dem indifferenten Mann beschreibend festhält: Der ist in seinem roten Sessel gesessen, ja, in dem roten, in dem du jetzt sitzt, und hat jeden Abend drei-, viermal geseufzt. Es ist wohl ganz natürlich, dass man auf einen Menschen wütend wird, der einen so quält.“ Diese Geschichte – so Kegel – erschien in ihrer Radikalität erst 2023 in der Haushofer-Gesamtausgabe.
In Marie Jaëlls „Remords“ („Gewissensbisse“) aus dem Zyklus „Fegefeuer“, wird die Schuld, die durch Neid und Zorn entsteht, hart auf die Probe gestellt. Das angedeutete „Dies irae“-Motiv, das die gesamte Komposition durchzieht, endet, mal betörend hell in einem wilden Wehgeschrei und pianistisch herausfordernd, bis es mit dem Septakkord auf der Klaviatur abwärts geht.
„Himmlisch“ und subtil ging es nach der Pause dann bei den „Voix célestes“ aus dem Zyklus des Paradieses auch pianistisch zu, wo zarteste flirrend-helle Töne und Stimmen wie Wellen einander umspielen. Man glaubte förmlich, Dantes idealisierte Gestalt der engelsgleichen Beatrice, den Wellen entsteigend, vor sich zu sehen.
Anders – ganz down to earth – als in der Erzählung „In einer fernen Welt“ von Olive Schreiner (1855–1920), Tochter eines deutschen Missionars und einer englischen Pfarrerstochter, die 1855 in Südafrika als 9. von 12 Kindern geboren wurde, in ärmlichen Verhältnissen aufwuchs und später gegen Rassismus und für Frauenrechte kämpfte. Sie konnte ihre Debütgeschichte „Die Geschichte einer afrikanischen Farm“ seinerzeit gegen alle Widerstände sogar damals nur unter dem männlichen Pseudonym Ralph Iron veröffentlichen. In der literarischen Qualität sei sie durchaus vergleichbar mit Autorinnen aus Südafrika wie Tanja Blixen oder Doris Lessing – so Kegels Urteil.
Viel Beifall gab’s für die Pianistin Viviane Goergen wie für die Literatin Sandra Kegel, Foto: Petra Kammann
Zum Abschluss las Kegel dann noch die Erzählung „Der Baum des Odysseus“ der hochgebildeten Exilschriftstellerin Anna Seghers (1900-1983) aus ihrer Erzählltrilogie der „Drei Bäume“, die 1940 auf den Verstecken in den sie verfolgenden Nazis in Frankreich entstand, wo die Autorin – ständig unterwegs – sich mythologisch mit ihren Todesängsten beschäftigte. Ihre Flucht wurde auch psychisch zur Odyssee. So war Seghers Mann Laszlo Radvanyi im südfranzösischen Lager Le Vernet interniert, während sie mit den Kindern nach Marseille floh. Als „Odysseus“ nach langer Fahrt endlich zur Gattin heimkehrt, ist die Unsicherheit der Frau groß. Es ist die Hölle. Ist der Ankömmling wirklich ihr Ehemann? Haben sich die Liebenden in der Zwischenzeit entfremdet? Später entpuppt sich dann die Geschichte von der Heimkehr des verwegenen verschollenen Odysseus als Urtypus des Heimkehrers und der Dichter Ovid als Vorbild des modernen Emigranten. Diese 1940 entstandene und erst spät entdeckte Exil-Geschichte war zunächst 1946 in der Zeitschrift „Neues Deutschland“ in Mexiko, wohin sie geflohen war, erschienen.
Fluchtbewegungen spiegeln sich auch im Zyklus „Hölle“ des im Exil des in Ravenna lebenden Dichters Dante wieder. Marie Jaëll setzt in „Dans les Flammes“ („In den Flammen“) malerisch-akustische Akzente, man meint anfangs das Murmeln der mit der rechten Hand ausdrucksvoll von Goergen artikulierten, zündelnden Flämmchen zu vernehmen, die sich – getrieben vom Wind – zu einem regelrechtem Flammenmeer ausweiten, indem die linke Hand durch das Thema der rechten Hand überkreuzt und konterkariert wird. Goergen spielt diese Dynamik und die damit verbundenen Rhythmik mit großem virtuosem Raffinement. Ihr Spiel gerät zum pianistischen Höhepunkt des Abends, der mit aller Dringlichkeit auf die in Vergessenheit geratene exzeptionelle Pianistin und hochmoderne Komponistin aufmerksam macht: auf eine Frau, zerrissen zwischen ihrem Leben als hochbegabte Künstlerin und Ehefrau, auf eine angesehene Klavierpädagogin, die einfach verstehen will, wie Klavierspielen im Innersten funktioniert und die sich daher auch intensiv und wissenschaftlich mit der Physiognomie der Hand und darüberhinaus auch noch philosophisch mit Nietzsche und Schopenhauer und literarisch mit Dante beschäftigte. Kurze, eine Komponistin, die Fragen an die mögliche Ausdrucksgestaltung der neuen Zeit der Moderne stellt, die Antworten sucht und ihrer Zeit weit voraus war, die immer wieder an ihre Grenzen stieß und doch nicht aufgegeben hat.
Die an der renommierten „Ecole Normale de musique“ und am „Conservatoire National Supérieur“ in Paris bei Lucette Descaves und Thierry de Brunhoff ausgebildete Pianistin Viviane Goergen beherrscht die Klaviatur himmlischer wie höllischer Kräfte bestens, vom empfindsamsten und poetischsten Pianissimo bis zum orgiastischen Klang. Gut, dass sie die besonderen „Pièces pour Piano“ von Marie Jaëlls Werk auch auf CD (Händler Klassik) eingespielt hat. So kann man die gesamte Vertonung von Dantes „Commedia“ nochmal in einem Zug hören und die darin steckende Raffinesse entdecken so, wie man auch in den von Kegel herausgegebenen„Prosaische(n) Passionen“ bislang wenig beachtete Autorinnen kennenlernen kann.
Weibliches Weltpanorama der literarischen Moderne
Viviane Goergen spielt Werke noch wenig bekannter Komponistinnen