Fulminanter Abend mit dem Opern- und Museumsorchester in der Alten Oper
Museumskonzert huldigt Impressionismus, Edel-Jazz und Ravel
Von Uwe Kammann
Hat man das je gesehen? Da wiegt sich jemand im Takt, folgt mit seinem Körper, seinen lässig bewegten Armen der Musik, gibt sich ihr hin, und es ist – der Dirigent. Dass Giancarlo Guerrero dieses orgiastische Finale des Ravelschen Bolero genießt, das ist offensichtlich. Und man sieht, man spürt, dass er verliebt ist in dieses Orchester, das wirklich alle Register zieht (darf man es so salopp sagen?), als es den exotisch-erotischen Taumel dieses berühmten Werkes zum Äußersten steigert. Ein Finale, das in seiner ungezügelten Wucht immer wieder verblüfft, nicht zuletzt, weil es so verhalten beginnt mit einem ganz leisen Trommelsolo, dessen Rhythmus sich wie eine Dauerschleife (auch Melodie und Harmonik ändern sich nicht) durch das ganze Stück zieht, ihm sozusagen ein Rückgrat verleiht, dessen Linie dem Körper der imaginierten Tänzerin (das Stück war ja als Ballett geplant) eine immer leidenschaftlichere Beweglichkeit erlaubt.
Bravourös – das Frankfurter Museumsorchester unter dem Dirigat von Giancarlo Guerrero, Foto: Petra Kammann
Das Opern- und Museumsorchester befeuerte diese Bewegung perfekt, in einer hoch dynamisierten Steigerung, in einem sich gegenseitig beflügelnden Zusammenspiel. Insofern: Guerrero konnte sich tatsächlich im Schlusspart auf diese Perfektion verlassen, wissend, dass jeglicher Grad der suggestiven Steigerung in jeder Hundertsel Sekunde von allen Musikern in absoluter Synchronität realisiert würde. Ein Finale, das im großen Jubel endete. Und das bejubelter Höhepunkt eines an Höhepunkten nicht armen Abends in der Alten Oper war. Mit einem Programm, welches Außergewöhnliches in eine spannungsreiche Beziehung setzte. Unter einer großen Klammer: die französischen Impressionismus und Jazz verband; in einer Symbiose, die natürlich einen amerikanischen Stempel trug, aber zugleich europäische Wurzeln hatte. Eine mehr als reizvolle Reise.
Sie begann mit einem Instrumentalwerk der französischen Komponistin Lili Boulanger, gerne beschrieben als impressionistische Orchesterminiatur, die einen Frühlingsmorgen beschreibt. „D’un matin de printemps“, so lautet der Titel, was die Offenheit dieser Tondichtung andeutet – eben durch das „von“ eines frühen Tageseindrucks. Unbeschwert wirkt diese zarte, in sich sehr transparente Instrumentierung, die stets leichthin fortschreitet, so wie es auch bei Debussy, Fauré oder Ravel klingt – eine vollkommene klangliche Entsprechung dessen, was der Impressionismus, also schlicht: die Wiedergabe von Eindrücken, in die Malerei hineinträgt. Eine helle Palette an Klangfarben ist zu hören, in einem arabesken Fluss, changierend zwischen lyrischen und lebhaften Phasen, mit immer neuen rhythmischen Überraschungen. Das alles meistert das Frankfurter Orchester bravourös, jede Nuance des taghellen Stücks ist so präzise gesetzt wie tönend präsent. Niemand könnte ahnen, dass dieser Frühlingstag das letzte Werk einer todgeweihten 24-Jährigen war. Die hochbegabte und schon früh ausgezeichnete Lili Boulanger starb 1918. Das zuvor, gleichsam parallel entstandene Gegenstück – D’un soir triste, also Von einem traurigen Abend – wird eher ihrem schweren Krankheitsleiden entsprochen haben.
Viel Beifall für den rasanten kanadischen Pianisten Stewart Goodyear, Foto: Petra Kammann
Dann, Schnitt, nach der zarten eine in langen Passagen geradezu wilde Tonmalerei bei George Gershwins Konzert für Klavier und Orchester F-Dur. Ein Kritiker des Magazins „FonoForum“ beschrieb den Charakter vor einem Jahrzehnt am Konzertbeispiel so: als ob jemand „nicht nur den Pinsel, sondern gleich den ganzen Arm in den Farbeimer“ getaucht hätte. Und in der Tat, was Guerrero mit dem Opern- und Museumsorchester voller Temperament heraufbeschwor, war geradezu ein Rausch an Effekten und Farbreichtum. Ein Rausch, dem der kanadische Pianist Stewart Goodyear ein bis zur Ekstase hämmerndes Rückgrat einzog, in einer wirbelnden Verbindung – geradezu atemberaubend.
Dieser rasante Klavierpart hatte natürlich schon einen Ausgangspunkt beim Komponisten selbst. Denn Gershwin selbst war Pianist (von stupenden Fähigkeiten, wie es hieß), jazzig wie es nur ging, zudem mit jugendlichem Temperament gesegnet. Nach seiner berühmten „Rhapsody in Blue“ schrieb der Mittzwanzigjährige sein Klavierkonzert, das alle Elemente vereinte, eben vom Jazz bis zu den Klassikern der Klavierkonzerte, und zwar in einer Rasanz, die als so verblüffend wie mutig empfunden wurde, als es als Solist 1925 in der Carnegy Hall erstmals aufführte.
In der Alten Oper war es in jedem Moment zu spüren, wie hier einem völlig unbefangene Verschmelzung unterschiedlichster Musikkulturen gelang/gelingt, wie er einen völlig eigenen Stil findet, der tatsächlich ein ureigenes amerikanisches Tonbild verkörpert, natürlich fokussiert auf den rasanten Lebensstil von New York. Das alles war in jedem Moment zu hören, intoniert von einem Orchester, das tatsächlich nicht nur wie eine jazzige Big Band, sondern wie eine Biggest Band agierte, mit soviel Feuer wie Energie, aber in den subtileren Passagen ebenso durch Feinheit überzeugend.
Dann, nach der Pause, noch einmal eine Steigerung des Bigger then Big, des New-York-Feelings, mit den Symphonischen Tänzen nach Schlüsselszenen der „West Side Story“, dem 1957 uraufgeführten Musical, mit dem Leonard Bernstein die Urgeschichte von Romeo und Julia in die heiße Metropole verlegte – und statt der verfeindeten Familien den Großstadt-Bandenkrieg eine Liebe tragisch enden ließ. Jeder kennt sie, die Melodien wie „Maria“ oder Sommewhere“. In den Symphonien mit ihren neun Tänzen tauchen gleichsam wie Zitate auf, werden aber zugleich verfremdet und gesteigert, in einer mächtigen Orchestrierung, die alles übertrifft, was nur vorstellbar ist.
Wo gibt es das sonst? Allein fünf Schlagzeuger werden eingesetzt, es ertönt ein Wirbel aus Bongos, Becken, Vibraphone, Zimbeln, Triangel, Maracas, Pauken – selbst eine Polizeipfeife schrillt, Symbol für das Kampfmilieu (das in dieser sozialkritischen Form noch nie in einem Musical auf die Bühne gebracht wurde). Aber das ist auch kein Wunder, denn die Milieus und situationsnahen Farben sind höchst unterschiedlich, vom melancholischen „Somewhere“ bis zum aufwühlenden „Rumble“, der peitschenden Kampfzene, welcher das elegische Finale folgt – das eben nicht nach Happy Ende klingt. Dazwischen Tänze wie der höchst lebhafte Mambo, gut gelaunte Cha-Cha oder die ganz besonders jazzig-amerikanische Cool Fugue als Stilfigur einer Gang.
Perfektes Zusammenspiel zwischen Orchester dem Pianisten Goodyear und Dirigenten Guerrero, Foto: Petra Kammann
Auch hier, in dieser dynamischen Reihung, sehen wir einen Giancarlo Guerrero in Höchstform, federnd, voller körperlicher Spannung, mit befeuernden Gesten: Er ist augenscheinlich in jeder Sekunde ganz in seinem Element. So wie dann auch im den Konzertabend beschließenden „Boléro“, den Maurice Ravel selbst, so heißt es, bei der Komposition im Jahr 1928 selbst als eine Art Experiment betrachtet hat, mit dieser Dauerschleife aus Melodie, Harmonik und Rhythmus, die während des ganzen Stückes unverändert bleibt – bis auf die Klangfarben, den kontinuierlich erweiterten Umfang der Orchesterstimmen und die sich stets steigernde Lautstärke, bis zum ohrenbetäubenden Finale.
Einem Finale, in dessen Schlusspassagen sich der Dirigent von der Musik tragen ließ. Weil er sich in jeder Sekunde auf das Opern- und Museumsorchester verlassen konnte, in lächelnder Seligkeit. Ein fulminanter Abend, der beim begeisterten Publikum noch lange nachhallen wird.