Das kulturelle Erbe der Khmer-Hochkultur in Kambodscha
APSARA, Tanz der himmlischen Nymphen
Von Paulina Heiligenthal
Seit Ende letzten Jahres läuft der Dokumentarfilm „Pol Pot Dancing“von Enrique Sánchez Lansch in den Kinos. Er schildert die Geschichte der Startänzerin des klassischen kambodschanischen Balletts am ehemaligen Königshof, Chea Samy, deren Ziehsohn Pol Pot zu einem der größten Massenmörder der Geschichte wurde. Während der Schreckensherrschaft der Roten Khmer (1975 bis 1979) kam geschätzt ein Viertel der 8 Millionen Einwohner um. FeuilletonFrankfurt-Autorin Paulina Heiligenthal hat Kambodscha besucht – mit intensivem Blick auch auf die Tanz-Tradition.
Die Tempelanlage von Angkor Wat: erhaben, monumental, spektakulär und geheimnisvoll, Foto: Paulina Heiligenthal
Sie tanzen und tanzen und tanzen voller Hingabe, den Göttern zur Ehre: Anmutige Apsara-Tänzerinnen, deren Übersetzung himmlische Nymphen bedeutet. Sie verkörpern Gnade, Grazie und Schönheit, um dem göttlichen Reich Freude, Frieden und Harmonie zu übertragen. Sie tanzen aus heiliger Handlung heraus in der Absicht, eine magische Verbindung zwischen Menschheit und Göttlichem mit dem Universum zu schaffen. Zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos. Ein übernatürlicher Brückenschlag zwischen Himmel und Erde.
Apsaras am Bayontempel – für die Ewigkeit in Stein gemeißelt, Foto: Paulina Heiligenthal
Sie gelten als Erscheinungen der Wolken und Gewässer, entstammen sie doch den Lotosblüten und berühren die Wolken den Nymphen gleich in der griechischen und römischen Mythologie.
Rosa sind die heiligsten aller Lotosblüten auf dem spirituellen Weg zur Erleuchtung, Foto: Paulina Heiligenthal
Ritualtänze waren bereits seit dem ersten Jahrhundert nach Chr. in südostasiatischen Kulturen bekannt. In Kambodscha gehen ihre Wurzeln auf die Zeiten der Khmer Kultur, 9. bis ca. 1500. Jahrhundert nach Chr., einer der mächtigsten Zivilisationen Südostasiens, zurück. Der Khmer-König nahm eine göttliche Identität an. Ausdruck von Autorität, Macht und Reichtum.
In seinem Palast hatten die aus dem Milchmeer geborenen Apsara-Tänzerinnen einen göttlichen Status. Sie erfreuten ausschließlich die königliche Familie, als Gespielinnen der Götter auf dem Berg Meru. Ein integraler Bestandteil der höfischen Riten, um bei Feierlichkeiten, mittels Körpersprache klassische Mythen oder religiöse Geschichten zu erzählen. Ursprünglich rein religiös wurden die Tänze im Laufe der Zeit mit neuen Symmetrien und Choreografien verfeinert. Die Bewegungen wurden harmonischer, fließender und komplexer. Weltliche Tanzthemen – zwischen Mythos und Wirklichkeit – verflochten sich auf blumiger Weise mit dem göttlichen Tanz. Alljährlich wurden die 100 schönsten Frauen des Reiches auserkoren, um am Hofe im Apsara-Tanz ausgebildet zu werden.
Nichts für Anfänger – abenteuerlich der Straßenverkehr in Phnom Penh, Foto: Paulina Heiligenthal
Im geschäftigen Phnom Penh muss ein Taxifahrer viel Geduld aufbringen, um seine Fahrgäste im chaotischen Verkehrsgetümmel fortzubewegen. Handkarren werden zwischen Tuk-Tuks, Lieferwagen, Krankenwagen oder andere Fahrzeuge geschoben. Links und rechts des Weges spielt sich das tummelnde Leben ab: eine Verkäuferin hinter einem Berg aus Baguettes, Speisen und Gebäck aus der Vitrine vor der Moped Reparaturwerkstatt.
Lokalkorit der Innenstadt von Phnom Penh, Foto: Paulina Heiligenthal
Viele Street Food-Stände. Open Air natürlich, Abgase inklusive. Vom überdachten Balkon pendeln rote Lampions synchron, ein Kerzenleuchter hängt neben einer Art-Déco-Leuchte. Auf dem Trottoir, gefährlich nah am Straßenrand, spielt ein hübsch geschmücktes Mädchen in einem Sandkasten aus weggebrochenen Pflastersteinen.
Noch zu klein für den Apsara-Tanz – nicht für den Schmuck, Foto: Paulina Heiligenthal
Gegenüber einem Designer-Hotel in Khmer-Stil, im Herzen der Stadt, ist die Champey Arts Academy untergebracht. Sie schützt, stimuliert und bildet kostenfrei benachteiligte Kinder in Kunst, Musik und Tanz aus, um das kulturelle Erbe zu bewahren. Neue Perspektiven werden gewonnen, nie gewagte Träume werden wahr. Die Gesellschaft wird von einer NPO (Non Profit Organisation) finanziell unterstützt.
Kostenfreie Ausbildung im Aspara Tanz für Kinder aus minderbegüterten Familien in der Apsara-Kunstschule, Foto: Paulina Heiligenthal
„Sampeah!“ heißt die respektvolle Begrüßung mit gefalteten Händen an der Stirn in der Kultur der Khmer. Nebst drei Musikern an ihren traditionellen Instrumenten grüßen auch bunte Handabdrücke an der Wand zur heutigen traditionellen Apsara-Tanzvorführung. Im Theaterraum überrascht ein monumentales, handbemaltes Bühnenbild: Eine Tierwelt, die im Urwald friedlich zusammenlebt. Davor schweben Apsaras, himmlische Tänzerinnen über die Bühne, um die Zuschauer mit ihrem graziösen Tanz und lieblichen Lächeln zu betören. Diese erfahren Vieles über das Erbe der Apsara-Tanztradition in Kambodscha, eine detaillierte Kunstform der Zeichensprache, die mehr als 1800 exquisite Handgestiken und Positionen kennt. Präzise ausgeführt, sorgfältig choreografiert.
Neun Jahre dauert die Ausbildung zum Apsara-Tanz wegen der vielen komplizierten Handgesten, Foto: Paulina Heiligenthal
Während seines Studiums in Paris radikalisierte sich Bruder Nr. I, Pol Pot, dessen wahrer Name Saloth Sar lautet. Unter seinem Regime der Khmer Rouge brach im Frühling 1975 eine Schreckensära von ungeahntem Ausmaß in Kambodscha an. Pol Pot führte eine Art Steinzeit-Kommunismus ein, in der jegliches intellektuelle, religiöse und kulturelle Leben aus ideologischem Wahn auszulöschen war. Jegliche Individualität sollte beseitigt werden. Auch Brillenträger als Intellektuelle! Kulturelles Gut, Wissen und künstlerische Fähigkeiten gingen in unsäglichem Maße verloren. Universitäten, Museen, Bibliotheken wurden niedergebrannt, Menschenleben wurden zerstört.
Unfassbare Schicksale, immense Verluste. Ein schwer traumatisiertes Land in Asche. In dieser Zeit sind mehr als 90% aller Apsara-Tänzerinnen und Tänzer ums Leben gebracht worden. Ein Genozid! In den Diasporen, in die viele Kambodschaner geflohen waren, wurde das kulturelle Erbe des Apsara-Tanzes zu einem Symbol der Verbundenheit, um Traumata zu überwinden, um Wunden zu heilen, um sich der eigenen Identität zu erinnern und zu vergewissern.
Noch sind die Devatas von Ta Prohm den Würgefeigen gewachsen, Foto: Paulina Heiligenthal
Auch wenn spanische und portugiesische Missionare bereits im 16. Jahrhundert die Tempelruinen von Angkor beschrieben, so dauerte es noch drei Jahrhunderte, bis sich diese spektakuläre Entdeckung in Europa verbreitete. In seinen 1867 posthum in Paris erschienenen Reisebeschreibungen gelang es dem französischen Naturwissenschaftler Henri Mouhot, auf die von tropischer Vegetation überwucherten Reste aufmerksam zu machen. In mitreißender Sprache entfachte er eine Begeisterung für die exotische Schönheit der geheimnisvollen Überreste seiner wundersamen Entdeckung.
Anker und Wahrzeichen Kambodschas
Angkor Wat, die majestätische Tempelanlage, ist das berühmteste Monument im archäologischen Park von Angkor. Das Meisterwerk gilt als das größte Sakral-Bauwerk weltweit. Zeugnis einer gloriosen Metropole in der vorindustriellen Zeit. Zunächst hinduistisch, später buddhistisch.
Das größte-Sakral Monument der Welt: Angkor Wat aus der Luft betrachtet, Foto: Paulina Heiligenthal
Zwischen 1113 und 1150 wurde der Komplex aus Sandstein ohne Bindemittel als Staatstempel nach kosmologischem Konzept erbaut. Im Auftrag des Königs Surayavarman II. Im Zentrum steht der Tempelturm, Prasat, mit fünf nach Lotosblüten geformten Türmen als Abbild des Götterberges Meru. Der höchste Turm ragt 65 Meter empor. Streng gegliederte Galerien stehen für eine kosmische Ordnung, die Schutz und Wohlergehen garantieren. Der umgebende künstliche Wassergraben, der den mystischen Ozean symbolisiert, stellt ein hochentwickeltes Wassersystem dar. Die Innen- und Außenwände der Galerien sind auf rund 1.800 Basreliefs mit lächelnden Devatas (Göttinnen) und auf Lotosblüten tanzenden Aspara-Tänzerinnen geschmückt. Sie tanzen in den höchsten Nischen der Tempeltürme den Göttern entgegen.
Die vierköpfigen Giganten der Gesichtertürme von Bayon, Foto: Paulina Heiligenthal
Im Zentrum von Angkor Thom – 3 km nördlich von Angkor Wat – strecken sich 37 imposante Türme des Bayon-Tempels empor – die lächelnden Gesichtstürme. Aufstrebend, überblickend: Jeder Turm vier Gesichter – vier Himmelsrichtungen. Meterhoch. Das neue Heiligtum des „Herrschers der Welt“ repräsentiert den Mahayana-Buddhismus. Er wurde Ende des 12. Jahrhunderts unter einem der bedeutendsten Könige von Angkor Jayavarman VII errichtet, der im Jahr 1181 den Thron bestieg. Viele tausend in Stein gemeißelte Reliefs erzählen seine Geschichte als jungen sieges- und ruhmreichen Heeresführers der Khmer gegen die Invasoren der Cham. Am Elefantentempel transportieren Apsara-Tänzerinnen die Eleganz und Grazie in feinsten Steinmetzarbeiten.
König Jayavarman VII gab Ta Prohm zu Ehren seiner Mutter in Auftrag. Der Tempel wurde im Jahr 1186 geweiht und war gleichzeitig ein Kloster. Er ist der Herrlichkeit vergötterter Eltern gewidmet. Eine Augenweide, dieser aufgegebene Tempelkomplex in phänomenaler Umarmung mit der Überwucherung der Natur. Berühmt wurde der Tempel, auch Tomb Raiser genannt, nach einem Hollywoodfilm aus dem Jahre 2001, der hier mit Angelina Jolie als Lara Croft in der Hauptrolle gedreht wurde.
Gigantischer Anblick des berühmten Ta Prohm Tempels und ein magisches Beispiel der erobernden Natur, Foto: Paulina Heiligenthal
Über 600 Tänzerinnen sollen sich im Dienst des Tempels befunden haben. Meisterhafte Verzierungen und exzellente Ornamentik am Heiligtum Banteay Srei zeugen von großer Kunstfertigkeit der Khmer. Sie machen den Tempel zur „Zitadelle der Frauen“, bzw. „Zitadelle der Schönheit“, wie die Übersetzung lautet. Rund 25 km nordöstlich von Angkor Wat entfernt, wurde er zu Ehren des Gottes Shiva errichtet. Die Einweihung fand am 22. April 976 statt, die Wiederentdeckung erst fast tausend Jahre später im Jahre 1914.
Einzigartig sind die Flachreliefs aus rotem Sandstein an den Türstützen und Portalgiebeln der Tempeltürme, „Bibliotheken“ und Eingangsbereichen. Sie zeigen Darstellungen aus der hinduistischen Mythologie, vor allem aus dem Ramayana-Epos. Die Schmuckflächen an den Giebeln der „Bibliotheken“ gelten als die schönsten in der Khmer-Kunst. In zahlreichen Nischen stehen etwa 70 bezaubernde Frauen: Devatas und Apsaras. Sie sind so fein gearbeitet, dass sie wie geschnitzt anmuten. Seit Dezember 1992 gehört der 162 Hektar große archäologische Park von Angkor mit hunderten zum Teil überwucherten Tempeln zum UNESCO–Weltkulturerbe.
Himmlische Nymphen am Tempelfries, Foto: Paulina Heiligenthal
Im Dokumentarfilm „Pol Pots Dancing“ verflicht der Regisseur Enrique Sánchez Lansch in beeindruckenden Sequenzen und zeitversetzten Ebenen, nie gezeigtes Archivmaterial über den Werdegang Pol Pots und seine untrennbare Verbindung mit dem jahrhundertalten Apsara-Tanz. Im Königspalast von Phnom Penh zieht die Startänzerin Chea Samy den kleinen Bruder ihres Mannes voller Zuneigung auf, als wäre er ihr eigenes Kind. Sie schickt ihn auf die besten Schulen, ermöglicht ihm Geigenunterricht und später ein Studium in Paris. Jahrzehnte später, als Zwangsarbeiterin unter der Herrschaft der Khmer Rouge, entdeckt sie das Unfassbare. Ihr Ziehsohn ist kein anderer als der Diktator Pol Pot. Unter seiner Führung ist zwischen 1975 und 1979 geschätzt ein Viertel der kambodschanischen Bevölkerung umgekommen. Kunstvolle Partituren gingen verloren, der klassische Tanz war beinahe ausgerottet.
Schon seit 1200 Jahren entzücken die graziösen Nymphen am Bayon-Tempel, einer der eindrucksvollsten Anlagen der Khmer-Dynastie, Foto: Paulina Heiligenthal
Chea Samy überlebt den Völkermord durch bitterharte Zwangsarbeit. Nach dieser Zeit fokussiert sie sich vollends auf die Tanzausbildung hunderter traumatisierter Mädchen, um die tiefverwurzelte kulturelle Ausdrucksform vor dem Vergessen zu retten. Eine filmische und tänzerische Spurensuche, berührend, hoffnungsreich und atemberaubend schön. Nahezu skulptural: Das Synonym für die kulturelle und künstlerische Identität Kambodschas, das lebendige, reiche Erbe seit 1500 Jahren.
Im Jahr 2008 wurde der Apsara-Tanz als immaterielles Kulturgut der Menschheit in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen.