Jean Muller – ein großer Pianist im kleinen, feinen Bad Homburg
Von Erhard Metz
Wir werden nachdenklich: Was bewegt einen der großen Pianisten unserer Zeit, im kleinen Kulturzentrum Englische Kirche in Bad Homburg aufzutreten – schließlich begeisterte er das Publikum im Berliner Konzerthaus und in der Alten Oper Frankfurt, in der Münchner Philharmonie und der Liederhalle Stuttgart, im Konzerthaus und im Musikverein Wien, in der Londoner Cardegan Hall und in der Carnegie Hall New York, im Athener Megaron und in der Salle Cortot in Paris, in großen Sälen in Peking und Shanghai, um nur die wichtigsten zu nennen? Ist es innerer Größe zu verdankende Bescheidenheit, vielleicht Dankbarkeit für das ihm geschenkte musikalische Genie, dass sich der Professor für Klavier am Conservatoire de la Ville de Luxembourg und Steinway-Künstler mit seiner überragenden Kunst auch einer in einem kleinen Haus wie diesem fast greifbar vor ihm lauschenden Konzertgemeinde zuwendet?
Freundschaftlich verbunden: Pianistin Viviane Goergen und Pianist Jean Muller
Ein Gutteil mag auch Jean Mullers langjährige Freundschaft mit der Bad Homburger Konzertpianistin und Kulturveranstalterin Viviane Goergen beigetragen haben, der es gelang, ihn zu einem Auftritt in einem solch intimeren kammermusikalischen Zuschnitt zu gewinnen. Das Publikum dankte es ihm mit rauschendem, herzlichem Beifall, den er mit einer besonderen, seinem Innersten offenbar innig verbundenen und ergreifend dargebotenen Zugabe beantwortete, Frédéric Chopins traumhaft schönem, ja in Träume führenden Nocturne für Klavier op. 27 Nr. 2 Des-Dur mit der Bezeichnung Lento sostenuto.
Zu der erwähnten Zuwendung gehörten neben seinem sich selber das Höchste abfordernden konzentrierten Spiel seine so überaus empathisch vorgetragenen einleitenden Worte, mit denen er sofort in einen übergreifenden Kontakt zu seinem Publikum trat. Von erhabener körperlicher Größe und Gestalt scheint er mit ausgebreiteten Armen gleichsam nicht nur den Flügel, sondern mit ihm auch das ganze Auditorium umarmen zu wollen.
Jean Muller spannte dramaturgisch einen weiten musikalischen Bogen über den Abend, indem er an den Beginn seines Konzerts Franz Schuberts 1826 komponierte, letzte zu seinen Lebzeiten veröffentlichte, zumeist eine gute halbe Stunde Spielzeit beanspruchende Sonate op. 78 D 894 in G-Dur setzte (Sviatoslav Richter brachte sie einst in rund 46 Minuten zu Gehör). Robert Schumann nannte sie, führte Muller aus, Schuberts vollkommenste Sonate. „Sie gehörte schon immer zu meinen Lieblingssonaten, und ich verbinde persönlich sehr viel mit ihr. Ich durfte sie in der Aufnahme von Sviatoslav Richter entdecken, die ich in meiner Jugend dann auch sehr oft gehört habe, ausserdem verbinde ich eines meiner schönsten Konzerterlebnisse mit dieser Sonate, als ich sie im Jahre 2007 von Radu Lupu live erlebt habe. Die Sonate ist von sehr heller Stimmung mit wunderbaren Melodien und recht wenig dramatischen Momenten, trotzdem verbirgt sich, wie so oft bei Schubert, eine tiefe Melancholie unter der Oberfläche“.
Das spieltechnisch anspruchsvolle, früher auch wegen seiner freien und romantischen Komposition im Gegensatz zur normierten Sonatenform mit der Bezeichnung Fantasie versehene Werk mit den Sätzen Molto moderato e cantabile, Andante, Menuetto. Allegro moderato und Allegretto bezaubert durch seine musikalische Freiheit, ja Heiterkeit, scheint aber gleichzeitig in einer intimen, entrückten, auch melancholisch grundierten Welt von erheblicher musikalischer Spannweite zu schweben. Einzig der dritte Satz wirkt bodenständig, vom Diesseits bestimmt. Das Allegretto führt am Ende wieder in eine fast überirdische Sphäre. Jean Muller schien in sie fast versunken zu sein. Tief über die Tastatur gebeugt verharrte er eine Weile, bis er sich aufrichtete und das Publikum ihm alsbald mit stürmischem Applaus dankte. Pianist wie Auditorium tat die anschließende Pause gut.
Den zweiten Teil des Konzertabends begann Jean Muller mit Wolfgang Amadeus Mozarts heiterer, 1783 komponierten Klaviersonate Nr. 10 C-Dur KV 330 (von gemeinhin etwa 15 bis 20minütiger Spieldauer) mit den Sätzen Allegro moderato, Andante cantabile und Allegretto. Sie zeichne, wie die vorangegangene Schubert-Sonate, ebenfalls eine helle Stimmung aus, erläutert Muller. „Mozart zeigt sich von seiner liebenswürdigsten und freundlichsten Seite. Nur im Andante ziehen kurz f-Moll Wolken auf, die ich in der Programmgestaltung als Vorankündigung der Appassionata von Beethoven sehe“. Jean Muller stellte hier seine herausragende Kompetenz als Mozart-Interpret unter Beweis, hat er doch beispielsweise bei Hänssler Classic alle 18 Klaviersonaten mit wesentlichen neuen interpretatorischen Akzenten und in interessanter Mischung innerhalb der einzelnen Volumina eingespielt, was in der Fachwelt hohe Aufmerksamkeit und Anerkennung fand.
Wenn wir eingangs von einem dramaturgisch gespannten Bogen über dem Konzertgeschehen sprachen, so führte Jean Muller das Auditorium nach Schuberts besinnlicher Klaviersonate über Mozarts bei aller hintergründiger Tiefe filigran-heiterer Musik hin zum schwergewichtigen Höhepunkt des Abends, der unter dem Beinamen Appassionata bekannten Klaviersonate Nr. 23 op. 57 in f-moll (1804/1805) von Ludwig van Beethoven; ihre Sätze lauten Allegro assai, Andante con moto und Allegro ma non troppo.
„Die Appassionata“ erläuterte Muller, „ist ein monumentales Werk und der krönende Abschluss von zehn Jahren intensiver Beschäftigung mit dem Genre der Klaviersonate. Das Werk ist erstaunlich modern und verarbeitet Material, das eher spröde und wenig melodisch ist. ‚Musik soll nicht schön, sondern wahr sein‘ hat Arnold Schönberg einst gesagt. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt Beethoven: ihm ist der Ausdrucksgehalt seines Werkes in der Appassionata wichtiger als deren Schönheit. Und wie gewaltig ist dieser Ausdruck, das Klavier ist ins Orchestrale gesteigert, und der Interpret muss mit heroischem Gestus durch das Werk finden“. Wohl wahr.
Der Autor dieser Zeilen erinnert sich seiner Schulzeit, als er, inspiriert vom frühgymnasialen Musikunterricht, mit Beethovens Klavierwerk bekannt und von ihm fasziniert wurde. Zu seinen ersten Erwerbungen in diesem Bereich zählte damals die Mono-Venylplatte des Labels Columbia mit der Appassionata des 1956 verstorbenen, unvergessenen Pianisten Walter Gieseking – im bekannten Dreierpack mit der „Pathétique“ und der „Mondschein-Sonate“. Sie wurde sein Einstieg in die große erhabene musikalische Welt Beethovens.
Die Appassionata (der erste Satz: „in die Tiefe hinab wie in eine Gruft und wieder nach oben“, der zweite „choralartig mit der Illusion einer himmlischen Tröstung inmitten des Leids“, der dritte „Attacke ohne Pause; wahnwitziges Presto“) kann im hiesigen Zusammenhang nicht beschrieben werden; sie wurde charakterisiert als „Ausdruck radikaler Subjektivität“ (der legendäre Pianist Edwin Fischer), als „eruptiv herausbrechende Leidenschaft“ (der Pianist Klaus Wolters), als „Aufschrei der Angst“ und „Sturm der Seele“ (der Musikwissenschaftler und Komponist Adolf Bernhard Marx). Zahlreiche Monografien und Essays unternahmen den Versuch, das Werk zu deuten. Manche sehen in der Sonate eine pianistische Antwort auf die 1802/1803 komponierte 3. Sinfonie, die „Eroica“. Auf alle Fälle ist sie der Inbegriff expressiver solistischer Virtuosität, der Pianisten auf das Äußerste herausfordert.
Wie Jean Muller diese Herausforderung in jeder Weise in souveräner Virtuosität meisterte, schlug das Publikum in Bann. Atemlose Stille nach den in die Tasten gehämmerten Schlußakkorden – bis der Meister sich erhob und lang anhaltender, jubelnder Beifall ausbrach.
Nach mehreren „Vorhängen“ dann die bereits erwähnte Zugabe: das beruhigende und berührende, verklärende Nocturne Nr. 8 Des-Dur Lento sostenuto von Frédéric Chopin, von Robert Schumann ehrfurchtsvoll gepriesen als „das Herzinnigste und Verklärteste, was nur in der Musik erdacht werden könne“.
Ein großer Abend mit einem großen Pianisten im kleinen, feinen Bad Homburg.
Fotos: Erhard Metz
→ Musikalische Matinee mit Jean Muller im Gästehaus der Frankfurter Goethe-Universität
→ Pianist Jean Muller im Hauskonzert von Viviane Goergen und in der Alten Oper Frankfurt
→ Viviane Goergen spielt aus dem Zyklus „18 Pièces pour piano d’après la lecture de Dante“ von Marie Jaëll