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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Notwendige Erinnerungskultur: 80 Jahre Auschwitz-Befreiung – Gedenktag in der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt

Neue Wegmarken für Zusammenhalt und Menschlichkeit

Von Petra Kammann

Am vergangenen Sonntag gedachte die Jüdische Gemeinde Frankfurt am Main des 80. Jahrestages der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz durch die Soldaten der Roten Armee. Der von der Jüdischen Gemeinde Frankfurt organisierte Gedenktag, der für sie in der Regel ein Tag der Trauer und Besinnung ist, bot erstmals ganztägig und in größerem Rahmen Raum für vielfältige Reflexionen über die Bedeutung des Erinnerns für unsere heutige Gesellschaft – mit Ansprachen, Keynotes sowie Diskussionsformaten zur Zukunft jüdischen Lebens in Deutschland, zu jungen jüdischen Perspektiven sowie zum Stellenwert des Jahrestages. Neben den 700 Gemeindemitgliedern waren geladene Gäste aus Politik, Wirtschaft, Kirche, Kultur und Stadtgesellschaft ins Ignatz Bubis-Gemeindezentrum gekommen, u.a. auch Dr. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland und Bundeskanzler Olaf Scholz, der sich mit einer Rede an die Anwesenden richtete, und im Anschluss diskutierte.

Die lichtdurchflutete, aufklärerisch wirkende Architektur des Jüdischen Gemeindezentrums, wurde vom ehemaligen Vorstandsvorsitzenden Salomon Korn entworfen, Foto: Petra Kammann

Benjamin Graumann, Vorstandsvorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt

Benjamin Graumann, einer der beiden Vorstandsvorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, dessen Großvater im KZ war, brachte es auf den Punkt: „Da es kaum noch Zeitzeugen gibt, ist es nun unsere Verantwortung, die Erinnerung an die Shoah weiterzutragen, denn nur das Wissen um die Vergangenheit in Kombination mit dem richtigen Umgang mit der Erinnerung festigen die Verantwortung für die Zukunft. Gerade das letzte Jahr hat uns Juden in Deutschland eindrucksvoll und schmerzlich gezeigt: Nie war es wichtiger, darauf hinzuweisen, was passieren kann, wenn aus der Vergangenheit nicht gelernt wird. Schweigen darf niemals die Antwort auf Hass sein. Wir müssen als Gesellschaft klarer und lauter für unsere Freiheit und für Menschlichkeit einstehen und gegen den puren Hass. Gerade deshalb ist es so wichtig, dass bei unserer Veranstaltung viele junge jüdische Stimmen zu Wort kommen“.

Die aufmerksame Zeitzeugin Eva Szepesi nahm an der Veranstaltung teil, Foto: Petra Kammann

Diese Aussage könnte gewissermaßen stellvertretend über den vielfältigen und verschiedenartigen Aspekte der Ganztagsveranstaltung stehen. Beginnen wir also mit dem Erinnern als einer der großen Herausforderungen der Zukunft, da es nicht mehr sehr viele Zeitzeugen gibt, die authentisch und persönlich über ihre Erfahrungen berichten können. Mit ihrem Verschwinden muss so etwas wie eine neue Empathie entstehen. Sie können uns somit unmittelbar und fühlbar vor Augen führen, was das der Shoah vorangegangene Leid wie auch deren Befreiung davon für sie persönlich bedeutet hat.

Eine von ihnen ist die inzwischen zur „Frankfurterin“ mutierte 92-jährige, ursprünglich aus Budapest stammende und einen ungeheueren Optimismus verströmende Eva Szepesi. Sie war als 12-Jährige durch die Rote Armee aus dem Konzentrationslager Auschwitz befreit worden und sagt heute: „Die Shoah begann mit dem Schweigen und Wegschauen der Gesellschaft“. Und sie selbst schwieg zunächst auch über das, was mit ihr selbst geschah, als sie sich in den 1950er Jahre hier in Frankfurt ein neues Leben aufbaute, das unbelastet sein sollte. 70 Jahre lang hatte Eva Szepesi gebraucht, um endlich über den Tod ihrer Familie in Auschwitz weinen zu können. Heute erzählt sie Jugendlichen davon und berührt sie emotional mit ihrer Geschichte und erzeugt so Empathie.

Shoah-Überlebende Eva Szepesi wird nach seinem Auftritt persönlich von Bundeskanzler Olaf Scholz begrüßt, Foto: Petra Kammann

Zurecht wurde sie daher sowohl von Bundeskanzler Olaf Scholz erwähnt und persönlich begrüßt wie auch zum Beispiel von Frankfurts OB Mike Josef, der betonte: „Wir erinnern am Gedenktag der Befreiung von Auschwitz an alle Opfer der Naziherrschaft. Der Tag erinnert uns an die Gräueltaten des schrecklichen Unrechtsregimes und ist gleichzeitig eine Handlungsaufforderung für unser heutiges Leben. Menschenhass und Antisemitismus sind auch heute noch Teil unseres Alltags. Die traurige Wahrheit lautet: Das Böse lebt weiter. Doch wir dürfen deshalb nicht resignieren. Diese Wahrheit muss uns Ansporn sein, weiter und sehr laut und deutlich für Recht und Gerechtigkeit, für Toleranz und Freiheit, für Respekt und Menschlichkeit einzutreten. Wer jetzt und heute die Augen verschließt und nichts tut, spielt dem Bösen in die Hände. Nur wer sich erinnert, kann die Zukunft meistern.“

Er stellte sich in seiner Rede als Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt in die Tradition des jüdischen liberalen Kommunalpolitikers der Weimarer Republik Ludwig Landmann (1868-1945), der mit visionärer Kraft die Wege für das „Neue Frankfurt“ geebnet hatte. Die Mahnung „Nur wer sich erinnert, kann die Zukunft meistern“ verkörpert Eva Szepesi mit ihrer menschlichen Anteilnahme, ihrem zugewandten Blick, ihrer warmen Stimme mit dem leicht ungarischen Akzent, der an ihre Vorgeschichte, der eines ursprünglich glücklichen Kindes in Budapest erinnert, in hohem Maße.

Die in Los Angeles lebende Illustratorin Stephanie Lunkewitz hat aus Gesprächen mit Eva Szepesi, geb. Diamant ein eindrucksvolles Kinderbuch „Ich war Eva Diamant“ für die kommende heranwachsende Generation gestaltet, wozu ich sie interviewt habe. Sie, deren Haus gerade im kalifornischen Feuersturm abgebrannt ist, hat diese Geschichte, für die sie sich über Jahre mit Szepesi beschäftigte hat, aus der Perspektive des Kindes neu erzählt und illustriert und ihrer Biographie ein Denkmal gesetzt.

Frankfurts OB Mike Josef, Foto: Petra Kammann

Und Bundeskanzler Olaf Scholz mahnte an: „Damit auch die nächsten Generationen, Kinder und Jugendliche von heute, die richtigen Schlüsse ziehen, gehört zur Vermittlung der historischen Fakten auch die Vermittlung von Empathie mit den Opfern. Die Schoah, das sind Millionen einzelne Geschichten, Schicksale voller Leid, Trauer und Verlust. Das waren Menschen wie du und ich – auch um diese Einsicht muss es bei unserer Erinnerungsarbeit gehen.“ Und er rief noch einmal die Ungeheuerlichkeit des Faktischen der Gräueltaten ins Gedächtnis: „Sechs Millionen ermordete Jüdinnen und Juden – getötet in Vernichtungslagern wie Auschwitz, Kulmhof, Belzec, Sobibor und Treblinka, ausgehungert in Ghettos und Arbeitslagern, umgekommen auf Todesmärschen, erschossen und erschlagen bei Massakern in mehr als 1.500 Städten, Kleinstädten und Dörfern in Osteuropa.“

Dr. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Foto: Petra Kammann

Einen der Schlüsse zog auch Dr. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, mit der Bemerkung: „80 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, das in seiner Grausamkeit der Vernichtung für den Zivilisationsbruch der Schoah steht, befinden wir uns erneut an einer Wegmarke unserer Erinnerungskultur. Unser Blick auf Auschwitz darf sich in seinem Kern nicht verändern. Er kann es nicht, wenn dieses Land seiner Gründungsidee und seiner Verantwortung vor der Geschichte gerecht werden will. Diese Gewissheit ist essentiell für jüdisches Leben in Deutschland.“

2015 nach den Anschlägen in Paris und Kopenhagen hatte Schuster noch betont, er sehe derzeit „keinen Grund, warum Juden Deutschland verlassen sollten“. Jüdisches Leben in Deutschland sei weiterhin möglich. Dieser Optimismus habe jedoch in den vergangenen Jahren einen Riss bekommen, bekannte er auf dem Nachmittagspanel, das unter dem Motto stand: Optimismus kann tödlich sein? Jüdisches Leben in Deutschland, an dem auch der Vorstandsvorsitzende der Jüdischen Gemeinde Frankfurt Marc Grünbaum, die Autorin Marina Weinband und SZ-Redakteur und Autor Dr. Ronen Steinke teilnahmen. Sie waren da als Vertreter der „zweiten“, nicht mehr unmittelbar von der Shoah betroffenen Generation, die deren Traumata aber weiter mit dem Wissen um sie in sich trägt.

 

Marc Grünbaum, Vorstandsvorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main, Foto: Petra Kammann

Die Situation in ganz Europa sei sehr schmerzlich zu erleben, betonte Marc Grünberg, dass nämlich der Raum unserer geschützten Kindheit kein Erwachsenenalter mehr erlebe. Denn das symbolische Datum des  27. Januar stehe in diesem Jahr – 80 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz – schließlich im Zeichen der bevorstehenden Bundestagswahlen, wo es nach 1945 erstmals möglich sein könne, dass eine „in großen Teilen rechtsextreme und antidemokratische Partei zweitstärkste Fraktion im Deutschen Bundestag“ werden könne, was bedeute, dass die Lehren aus der menschenverachtenden Diktatur, die zu diesem gewaltigen Zivilisationsbruch geführt haben, bedeutungslos geworden seien. „Wenn der Aufstieg des Rechtsextremismus aber das Ergebnis von 80 Jahren Demokratie und Rechtsstaat ist, dann müssen sich diejenigen, die Verantwortung tragen und getragen haben, die Frage gefallen lassen, was falsch gelaufen ist und was sie tun werden – für eine Zukunft, in der jüdisches Leben, aber auch das Leben anderer marginalisierter Gruppen möglich bleibt.“

Der Jurist und Journalist Dr. Ronen Steinke, , Foto: Petra Kammann 

Der Jurist, SZ-Redakteur und Autor  Dr. Ronen Steinke zum Beispiel äußerte den provokativen Satz: „Ich existiere aus Trotz“. Man solle sich trauen und die Probleme benennen und darstellen, dabei aber innerlich „nicht hart werden“.

Wenn es um die aktuelle Gegenwart, 80 Jahre danach geht, glich sich die Analyse und das Gefühl der Diskutierenden: „Die Angst geht um“. Gleichwohl waren sich die Diskutanten darüber einig, dass die Angst ein schlechter Ratgeber sei. Aber: könne man sich noch als Jude zu erkennen geben etwa durch das Tragen von Kippas. Oder mache einen das noch angreifbarer? Das betreffe vor allem die Generation der Kinder und Jugendlichen, die sich noch nicht entsprechend verteidigen könnten. Inzwischen seien Juden tagtäglich von Antisemitismus bedroht, sei es auf der Straße, in den Klassen oder in Hassmails. Davon konnte auch im letzten Gespräch Sarah Maria Sander, die erfahrene Schauspielerin für und in Israel sowie für die Ukraine tätige Aktivistin, ein Lied singen. „Die Menschen, die mir dreckige Jüdin hinterherrufen sind die gleichen, die ,Free Palestine‘ skandieren“. Social Media sei eben ein rechtsfreier Raum. Und was bedeute das am Ende für die Identität, die man gerade im Land der Täter zu finden geglaubt hatte. Heute gebe es keinen „Schindler“. Und wie sehe die Situation in 10 Jahren aus?

Die Autorin Marina Weisband: „Wohin sollen wir denn gehen? „Wir müssen autarker werden“, Foto: Petra Kammann

Die Publizistin Marina Weisband warf auch einen Blick auf das liberale Nachbarland Frankreich, wo inzwischen Juden auch das Land verließen. Da bleibe nur die Frage: wohin? Sei es nicht vielmehr sinnvoller, Strukturen für Krisensituationen zu entwickeln, um auch im immer schwieriger werdenden Europa autarker zu werden?

Der Publizist und inzwischen in New York lebende Politikwissenschaftler Dr. Yascha Mounk,Foto: Petra Kammann

Unter den Rednerinnen und Rednern sowie Podiumsgästen waren außerdem die Autorin und Publizistin Dr. Carolin Emcke, der Publizist und Politikwissenschaftler Dr. Yascha Mounk, der in Deutschland aufgewachsen ist, die Schule besuchte und inzwischen in New York lebt und lehrt, somit den Blick von innen und außen auf das Land hatte, der Autor und Aktivist Monty Ott, dann Joelle Abaew, der International President BBYO(tfc) sowie Richard Ettinger, Chefredakteur des EDA Magazins, und für die erkrankte Journalistin Erica Zingher sprang kurzfristig der Philosoph und Ethik-Lehrer Leon Joskowitz ein. Die in Berlin aufgewachsene, gerade mal 30jährige Schauspielerin und Aktivistin Sarah Maria Sander sowie der Jurist, Philosoph, Autor und Publizist Prof. Dr. Dr. Michel Friedman diskutierten unter der Leitung von PEN- Berlin-Präsidentin Thea Dorn.

Der brillante Rhetoriker und Publizist Michel Friedman leitete die Podiumsdiskussion unter dem Motto „Jüdisches Leben in Deutschland – Was tut die Politik?“ und konstatiert: „40 Prozent aller Menschen unter 20 Jahren wissen nicht mehr, was Auschwitz ist.“ Und Judenhass sei zwar keine deutsche Erfindung, aber „Auschwitz ist eine deutsche Erfindung.“ Und die könne Nachahmer finden. Seine Mutter sei von Oskar Schindler gerettet worden. Aber lange habe er sich hier als Fremder gefühlt, sei es, dass er auf Antisemiten wie auch auf Philosemiten gestoßen sei, was die Sache nicht besser gemacht hätte. Was er fordere, sei nach 80 Jahren eine größere Selbstverständlichkeit und weniger Exotismus im Umgang mit jüdischen Menschen in Deutschland. “Jüdische Kinder wuchsen schon lange damit auf, dass Polizist:innen vor den Schulen stehen, um sie zu schützen:  Von Kindheit an  lernten sie. „Man will uns schlagen, man will uns töten.“ Da jüdische Einrichtungen unter ständiger Bewachung stehen, konstatierte er auch, dass inzwischen die Mauern, um sich zu schützen, höher gezogen seien. Aber er sei nun mal ein „verzweifelter Optimist“.

Der Publizist Michel Friedman  am Morgen im Gespräch mit Referentin und Friedenspreisträgerin Carolin Emcke, Foto: Petra Kammann

Als es darum ging, wie es zur letzten documenta gekommen sei, bezog Michel Friedman auch als Jurist Stellung und sagte: „Es gibt juristische Instrumente. Sie werden nicht angewendet. Es gibt Verschärfungen. Sie werden nicht angewendet“. Da ist zweifellos noch Luft nach oben. Hass und Hetze im Netz müssten ebenso wie volksverhetzende Graffiti schlicht härter bestraft werden. Und die Bedrohungen kämen inzwischen von extrem Rechten wie von extrem Linken, den gegenüber man entschieden auftreten müsse. Zu lange haben wir uns in Deutschland und in Europa in verschiedener Hinsicht in Sicherheit gewogen und sollten wehrhafter werden.

Abschlussdiskussion v. links: Prof. Dr. Dr. Michel Friedman, Schauspielerin, Aktivistin Sarah Maria Sander und Bundeskanzler Olaf Scholz, Foto: Petra Kammann

Die jüdische Perspektive auf den 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz stand neben dem nichtjüdischen Blickwinkel im Mittelpunkt der Veranstaltung. Über den hochspannenden Tag, bei dem u.a. auch Bischof Georg Bätzing, der reformorientierte Katholik und Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, intensiv zuhörte, ließen sich etliche Einzelbeobachtungen und -artikel schreiben.

Dass die Veranstaltung kurz vor Tores Schluss mit der Befreiung der ersten drei israelischen Geiseln endete, zählte zu den Höhepunkten und kam einer kleinen Erlösung gleich. Aber es ist noch lange nicht das Ende der Geschichte. Leider! Aber es enthebt uns nicht der Anstrengung, weiter Aufklärung zu betreiben und nach neuen Lösungen zu suchen.

Einigkeit macht stark: v.l.:  Timon Gremmels, Hessischer Minister für Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kultur, Oberbürgermeister Mike Josef, Dr. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Prof. Dr. Dr. Michel Friedman, Jurist, Publizist und Philosoph, Innenministerin Nancy Faeser, Bundeskanzler Olaf Scholz, Benjamin Graumann, Vorstandsvorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, Dr. Rachel Heuberger und Boris Milgram von der Jüdischen Gemeinde Frankfurt sowie Marc Grünbaum, Vorstandsvorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, Copyright: Jüdische Gemeinde Frankfurt, Foto: Petra Kammann

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