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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„Orpheus und Eurydike“ (Orphée et Eurydice) von Christoph Willibald Gluck am Staatstheater Darmstadt

Neuinterpretation des faszinierenden Orpheus-Mythos

Von Margarete Berghoff

Wen wundert es, dass Orpheus als Sohn der Calliope, Muse der Dichtkunst und des Gesangs, und des Apollon, Gott der Künste, eine wunderbare Stimme hatte, die mit seinem Instrument, der Lyra, zu einem Gesang von himmlischen Klängen verschmolz. Mensch, Tier, Pflanzen, Steine und sogar Meere konnte Orpheus damit berühren und beruhigen. Die Geschichte des die Zuhörer betörenden Sängers, der den Tod seiner Frau nicht akzeptieren und sie ins Reich der Lebenden zurückholen will, bietet immer wieder neuen Interpretations- und Projektionsspielraum wie zuletzt im Staatstheater in Darmstadt unter der Regie  von Søren Schuhmacher.

Orpheus und Eurydike: Lena Sutor-Wernich als Orpheus, Foto: Bettina Stöß

Als Orpheus sich entschloss, seine Eurydike – sie war an ihrem Hochzeitstag an einem Schlangenbiss gestorben – aus dem Totenreich zurückzuholen, gelang es ihm sogar, Charon und Cerberus, die Furien, Pluton und Persephone in der Unterwelt mit seinem Gesang zu erweichen. Er durfte seine Eurydike wieder ans Licht der Welt bringen. Unter der einen Bedingung, sie auf dem Weg nach oben nicht  anzuschauen. An einer Stelle des Weges aber war Orpheus irritiert, da er nichts mehr hinter sich hörte.

Die Angst, Eurydike könnte ihm nicht mehr folgen, brachte ihn dazu, sich umzudrehen. Im gleichen Moment entschwand Eurydike wieder in die Unterwelt. Orpheus trauerte und versagte sich allen Frauen, was die Mänaden, wilde Anhängerinnen des Dionysoskults, so sehr erboste, dass sie ihn zerrissen. Orpheus‘ Kopf aber sang immer weiter, bis er in die Tiefen des Meeres versenkt wurde. Seine Lyra wurde als Sternbild an den Himmel gebannt.

Diese unglaubliche Geschichte aus der griechischen Mythologie inspirierte viele Künstler in vielen Jahrhunderten zu einzigartigen Kunstwerken. Monteverdi vertonte sie als erster 1607, sein Werk gilt als Geburtsstunde der Oper.

Orpheus und Eurydike: Jana Baumeister als Eurydike und Marie Smolka als Amor, Foto: Bettina Stöß

Der deutsche Komponist Christoph Willibald Gluck ( 1714 -1784 ) hatte lange Zeit die Form, der in Italien entstandenen Opera Seria, bedient. Eine Opernform für die obere Gesellschaftsschicht. Die damals besonders in Italien beliebten Kastratensänger beherrschten außerordentliche anatomische und technische Fähigkeiten. Entsprechend komponierte man für sie virtuose Bravourarien. Sie durften ihre sehr langen Da-Capo-Arien nach Belieben mit Koloraturen und Schnörkeln ausschmücken. Das Publikum ergötzte sich an den akrobatischen Gesangskünsten der eitlen Kastratensänger.

Mit „Orpheus und Eurydike“ schuf Gluck 1762 in Wien ein bahnbrechendes Werk ganz neuer Art, das die Opera Seria infrage stellten sollte und das die Dramatik der Geschichte und den Menschen in den Mittelpunkt stellte. Die Musik sollte sich in den Dienst der Handlung stellen und nicht umgekehrt: „Prima la parole, Dopo la musica“ („Zunächst der Text, dann die Musik“).

Ranieri de’ Calzabigis Libretto reduziert die Handlung von „Orpheus und Eurydike“ auf die drei Personen Orpheus, Eurydike und Amor. Alle anderen Personen werden vom Chor gesungen. Glucks Idee: Vereinfachung durch Weglassen. Und gerade in den hochdramatischen Momenten antwortet Gluck mit einer einfachen Melodie. Eine Melodie, die aus dem Herzen kommt, die ohne großartigen Pomp, ohne falsche Emotionen und Schnörkel auskommt. Gluck gilt heute als einer der wichtigsten Opernreformer und Wegbereiter in die Moderne. Seine Oper „Orpheus und Eurydike“ ist der erste Schritt im Bemühen darum, die Oper wahrhaftiger zu machen, was 150 Jahre später mit dem „Verismo“ zur Blüte kam.

Orpheus und Eurydike: Marie Smolka, Marcos Abranches als Mort / Psyche, Jana Baumeister, Lena Sutor-Wernich, Foto: Bettina Stöß

In Darmstadt ist von den vier überlieferten Fassungen die vierte Version, eine von Hector Berlioz bearbeitete Fassung, zu hören. Berlioz, als Verehrer Glucks, nahm sich die Freiheit, aus den ersten drei Fassungen eine neue, den damaligen Stimmen angepasste Version zusammenzustellen. Er veränderte die Musik Glucks im Ursprung aber nicht.

Ein surreales und düsteres Bühnenbild mit zwei Ebenen öffnet sich bereits vor der Ouvertüre und stimmt das Publikum in Darmstadt auf die Unterwelt ein. Ein altes Boot, eine Treppe, an den Wänden verwelkte Sonnenblumen auf verblichenen Silbergrund. Wie ein Wirbelwind ertönt das Orchester und wenn Orpheus dann zum ersten Mal erscheint, zeigt er sich von hinten und nimmt geworfene Hochzeits-Blumensträuße in Empfang. Seine Siegerpose lässt vermuten, dass ihn am Ende einer Vorstellung ein tosender Applaus umgibt. Ein Star ist geboren. Der Star heißt Orpheus.

Orpheus und Eurydike: Marie Smolka, Jana Baumeister, Lena Sutor-Wernich, Marcos Abranches, Foto: Bettina Stöß

Der Regisseur Søren Schuhmacher stellt die Frage, warum Orpheus seine Eurydike unbedingt aus der Unterwelt zurückholen möchte. Ist es wirklich die tiefe Liebe zu Eurydike? Wer ist Orpheus eigentlich? Was treibt ihn an und welche Ziele verfolgt er? Schuhmacher folgt in der Deutung der Geschichte nicht dem Mythos, sondern versucht eine neue psychologische Interpretation. In dieser Inszenierung verkörpert Orpheus einen erfolgreichen Sänger und Musiker, der ganz auf der Welle seines Erfolgs schwimmt und dafür seine Muse Eurydike unbedingt braucht. Ohne sie ist er seiner dunklen Innenwelt ausgeliefert. Einer Welt zwischen Starkult und Einsamkeit. Diese Innenwelt wird von dem brasilianischen Tänzer Marcos Abranches verkörpert. Abranches, momentan Tänzer in Residenz in Darmstadt, tanzt die innere Zerrissenheit Orpheus‘ mit starken und rauhen Bewegungen. Einmal stürzt er von der Treppe. Einmal kämpft er mit Orpheus wild und kompromisslos. Einmal schmiegt er sich an Amor wie ein verlassenes Kind.

Amor, der zu Beginn als Double von Eurydike auftritt, scheint Orpheus verführen zu wollen. Davon später mehr, wenn er am Ende der Oper eine Konzertarie von Mozart singt, in der er seine Liebe zu Orpheus gesteht. Einsam und ohne eigene Geliebte muss Amor seit Jahrtausenden den Verliebten zusehen. Hat Orpheus mit seinem Gesang auch Amor verzaubert? Amor, der die Handlung der Oper vorantreibt, reißt sich am Ende die schwarzen Flügel ab und es scheint, als wäre er seiner Rolle überdrüssig geworden. „Die Liebe besiegt alles“ schreibt er auf den Bühnenboden.

Orpheus und Eurydike: Lena Sutor-Wernich als Orpheus in Siegerpose, Foto: Bettina Stöß

Die drei Gesangspartien Orpheus, Eurydike und Amor werden in Darmstadt von drei Frauen gesungen. Der unsichtbare Chor, der alle anderen Rollen verkörpert, tritt in einen Dialog mit Orpheus. Hier spart der Regisseur mit Bildern. Es gibt keine Furien und keine seligen Geister. Orpheus sitzt lange ganz allein in seinem Boot.

Wenn Orpheus und Eurydike dann in die Oberwelt aufsteigen, überfallen Eurydike auf dem Weg nach oben Zweifel. Orpheus schaut sie nicht an, beachtet sie nicht und sie fragt sich, ob sie nicht in der Unterwelt glücklicher war. Sie sehnt sich nach Frieden, vielleicht nach der wahren Liebe, die sie dort gefunden hatte, zurück. Spürt sie, dass Orpheus sie nur aus Eigennutz wieder ans Licht bringt? Nach dem fatalen Blick von Orpheus verliert er Eurydike erneut. Aber Amor vereint die beiden Liebenden und es könnte ein Happy End geben. Hätte der Regisseur nicht noch eine Idee gehabt. Orpheus und Eurydike blenden sich mit einem Messer und sinken in ihrem Boot kraftlos zu Boden. Fallen sie in die Dunkelheit der Unterwelt zurück?

Schuhmachers Interpretation erschließt sich nicht ohne Weiteres. Die Idee, ein Psychogramm der Personen zu zeichnen, macht aber durchaus Sinn. Eine zeitbezogene Analyse der drei Personen, die diese komplexe Oper stemmen, passt zu Glucks Idee, die Opera Seria zu reformieren. Orpheus ist hier nicht nur der Mythos eines begnadeten Sängers, sondern auch Sänger unserer Zeit. Musik als zeitlose universelle Sprache, als mächtiges Frieden stiftendes Instrument, als über den Menschen hinaus wirkende Kraft, die die ersehnte Einheit wieder herstellen kann.

Künstler haben die Freiheit, die Mythologie als Quelle von Inspiration zu nutzen. Wandel und Herausforderungen in jeder Zeitepoche erfordern Neudeutungen und fordern das Publikum auf, neu zu denken. Trotz der eher weltlichen Deutung gelingt es der Inszenierung mit Hilfe der Musik, den symbolhaften Requisiten und Gesten der Akteure und dem Zauber der phantasievollen Ausstattung eine zweite, tiefere universelle Ebene zu vermitteln.

Das Orchester spielt auf neuen Instrumenten und legt ein gutes Tempo vor. Ganz dem modernen Konzept folgend erklingen keine weichen barocken Klänge. Wer Mozart kennt, meint ihn an manchen Stellen zu hören. Mozart war ein Bewunderer Glucks und die Konzertarie von Mozart am Ende beweist den Einfluss, den Gluck auf Mozart hatte.

Die Kostüme von Norbert Bellen, die sich zwischen barocken und modernen Stoffen und Schnitten bewegen, verdeutlichen die Ideen Glucks. Seinen Wunsch, dass sich die Oper entwickeln muss, um den Menschen, für die sie gemacht wird, etwas Authentisches und Wahrhaftiges zu zeigen. Die Bühne, ebenfalls von Norbert Bellen, hat eine magische Wirkung. Auch hier vermischen sich wie bei den Kostümen barocke und modern anmutende Elemente. Ein mit der Baumkrone nach unten hängender Apfelbaum mit roten Früchten erinnert an Adam und Eva im Paradies. Nebel versperrt die Sicht in die Tiefen der Unterwelt.

Oprheus und Eurydike: Lena Sutor-Wernich, Jana Baumeister, Marcos Abranches, Marie Smolka, Foto: Bettina Stöß

Orpheus, gesungen von Lena Sutor-Wernich mit facettenreicher Altstimme, war der sehr großen Partie mehr als gewachsen. Sie sang mit Körper und Stimme, agierte voller Leidenschaft und mit großer Kraft. Als sie am Ende die bekannteste Arie der Oper „Ach, ich habe sie verloren“ anstimmt, singt sie so ergreifend, als sei der wirkliche Orpheus zurückgekehrt.

Eurydike, gesungen von der Sopranistin Jana Baumeister, zweifelt ausdrucksstark und dramatisch an der Liebe zu Orpheus. Amor, gesungen von Marie Smolka mit sehr beweglicher Sopranstimme, begeisterte mit ihrem Charme. Der unsichtbare wunderbare Chor blieb auch beim Applaus unsichtbar. Schade.

Ein bereichernder Abend, der lange nachwirkt.

Die letzte Vorstellung von „Orpheus und Eurydike“ ist am 15.02.2025

https://www.staatstheater-darmstadt.de/veranstaltungen/orpheus-und-eurydike-orphee-et-eurydice.1803/#event-10589

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