Alexander Zemlinksys selten gespielte Oper „Der Kreidekreis“ an der Oper am Rhein in Düsseldorf
Strichmännchen aus Kreide, Käfige voller Frauen, Schnee und Eis
Von Simone Hamm
Ein schmutziges Saxophon. Jazz. Alexander Zemlinskys letzte vollendete Oper beginnt, als spielte sie in einem Ballhaus im Berlin der Zwanziger Jahre. Doch „Der Kreidekreis“, 1933 Zürich uraufgeführt, spielt in China. Die Oper basiert auf einem Text von Klabund aus dem 14. Jahrhundert, wie das zehn Jahre später entstandene Stück Bert Brechts. Zemlinsky, der jüdische Komponist, hatte aus Berlin fliehen müssen.

„Der Kreidekreis“ von Alexander Zemlinsky. hier: Elisabeth Freyhoff (Ein Mädchen), Cornel Frey (Tong, ein Kuppler), Foto: Sandra Then
„Der Kreidekreis“ ist eine Geschichte von Liebe und Verrat, Eifersucht und Macht. Es ist eine Oper, ein Schauspiel, ein Märchen. Anrührend und dann wieder ganz banal. Musikalisch – eine wilde Mischung aus Wiener Spätromantik, derbem Jazz, expressionistischen Klängen und pentatonischen Melodien, die an chinesische Musik erinnert. Dem musikalischen Leiter Hendrik Vestmann und den Düsseldorfer Philharmonikern gelingt der ständig (und schnelle ) Wechsel der Musiken, der Stile, meisterhaft.
David Bösch lässt die Oper nicht in China und auch nicht in Düsseldorf spielen. Allenfalls die chinesischen Schriftzeichen an langen Bannern (die man besser von einem guten Kalligraphen hätte zeichnen lassen, das wäre überzeugender gewesen), erinnern an China. Ansonsten ist seine Inszenierung zeit- und ortsunabhängig. Eine dunkle Bühne, ein schwarzer Kreis als Spielfläche, Schneefall, meist schwarz-weiße Kostüme. Hinreißende, mit Kreide gezeichnete Strichmännchen, die das Märchenhafte hervorheben. (Bühne: Patrick Bannwart/Kostüme: Falko Herold).
Das vorherrschende Gefühl ist Kälte. Eine Mutter muss ihre geliebte Tochter an einen Teehausbesitzer verkaufen, um nicht zu verhungern. Ein Teehaus ist ein besseres Bordell. Käfige, in denen Frauen kauern, hängen von der Bühne herab. Im letzten Akt erhebt sich der Kreis und sein Rand scheint aus Eis zu sein. Die Bühne ist schwarz, die Strichmännchen werden auf den Vorhang projiziert.
Der Bordellbesitzer, ein Eunuch, trägt einen weiten, schwarzen glitzernden Rock. (Großartig: kalt und schmierig und topp gekleidet: Cornel Fry). Er verkauft Hai Tang für ein Vielfaches dessen, was die arme Mutter für sie erhalten hat. Katarzyna Kuncio überzeugt als Mutter, die Grausames tut, damit sie und die Tochter überleben können.
Der Steuereintreiber Ma ersteigert Hai Tang. Ein junger Mann, von dem noch zu hören sei, bietet mit, zieht aber den Kürzeren. Ma ist eben jener gierige Mann, dessentwegen sich Hai Tangs Vater, ein Seidenraupenzüchter, das Leben genommen hat. Ihr Bruder ist ein Revolutionär. Helfen kann er der Familie nicht.

Joachim Goltz (Ma, ein Mandarin), Lavinia Dames (Tschang-Haitang), Sarah Ferede (Yü-Pei, Herrn Mas Gattin ersten Ranges), Jorge Espino (Sekretär bei Gericht), Foto: Sandra Then
Der Käfig, in dem Hai Tang jetzt wohnt, ist nur größer als der im Bordell. Sie bleibt unfrei. Lavina Dames ist eine anmutige, schicksalsergebene Haitang. Phantastisch, wenn sie leise ihrer Verwundbarkeit Ausdruck gibt, etwas zu schrill, wenn sie dramatisch wird.
Ma macht eine Wandlung durch. Vom zynischen Steuereintreiber wird er zum liebenden Ehemann. Tenor Joachim Goltz verkörpert diese Veränderung – stimmlich wie darstellerisch. Kaum ist er freundlich geworden, muss er auch schon sterben. Seiner Ehefrau Nummer eins Yü-Pei passt es nämlich gar nicht, dass Hai Tang, die Mutter eines Sohnes, jetzt erbberechtigt ist. Yü-Pei ist stolz, stark und elegant. Sarah Ferede, immer elegant in roter Seidenbluse oder wippendem langen weißen Mantel mit schwarzen Fransen singt Yü- Pei warmherzig, wenn sie von Liebe spricht und kühl, wenn sie Rache übt. Sie vergiftet Ma und behauptet überdies, sie sei die Mutter des Kindes. Sie besticht den korrupten Richter Tschu-Tschu (in einer Sprechrolle der grandiose Werner Wölbern).
Hai Tan wird zur Schuldigen erklärt und zum Tode verurteilt. der neue Kaiser von China schreitet ein. Er lässt das Kind (eine überdimensionale Puppe) in den Kreidekreis setzten und beide Frauen an ihm ziehen. Wer es herauszöge, sei die Mutter. Die wahre Mutter will ihr Kind nicht quälen. Und dann stellt sich auch noch heraus, dass der Kaiser von China jener junge Mann gewesen ist, der Hai Tan dem Bordellbesitzer abkaufen wollte. Matthias Koziorowski singt den Kaiser klar und selbstbewusst.
Und damit sind wir bei der einzigen, allerdings groben Unzulässigkeit der Inszenierung von Zemlinskys „Kreidekreis“.

Werner Wölbern (Tschu-Tschu, Oberrichter), Lavinia Dames (Tschang-Haitang), Matthias Koziorowski (Pao, ein Prinz), Sarah Ferede (Yü-Pei, Herrn Mas Gattin ersten Ranges), Jorge Espino (Sekretär bei Gericht), Richard Šveda (Tschang-Ling, der Bruder), Statisterie der Deutschen Oper am Rhein, Foto: Sandra Then
Als Hai Tang nämlich im Teehaus schlief, ist der Prinz und künftige Kaiser zu ihr geschlichen und hat sie geschwängert. Haitang erinnert sich daran wie an einen Traum. Das hatte schon immer einen schalen Beigeschmack, aber nach dem Prozess der im Schlaf vergewaltigten Gisèle Peilcot wirkt das noch abstoßender. Und das hätte man so und nicht anders zeigen sollen. Oder gleich kürzen.
So hat der von Richard Šveda mit tönendem Tenor gesungene Bruder Hai Tangs, der Revolutionär, doch Recht. Ein Kaiser ist wie der andere. Nur auf seine Macht bedacht. Und die Armen und Gequälten werden bleiben, was sie sind.