„ZeitErfahrung“: Vernähe Deine Wunde – Annegret Soltaus Vaterportraits
Wer bin ich und woher komm‘ ich?
Vertreterin der Nachkriegsgeneration auf der Suche nach Identität
Von Petra Kammann
Eigenwillig, frappierend, aktuell und zugleich zeitlos sind die collagenähnlichen Objekte von Annegret Soltau (*1946), die sich seit den 1970er Jahren mit Fragen der persönlichen und sozialen Identität beschäftigt. Das Museum Goch widmet der Darmstädter Künstlerin, die sich konzeptionell mit ihrer Rolle als Frau im Umfeld ihrer eigenen Familie beschäftigt hat, unter dem Titel „ZeitErfahrung“ eine herausragende Ausstellung mit den Werken zu ihrer „Vatersuche“, die zwischen 2003 und 2007 entstanden und aufs Engste mit der Biografie der Künstlerin verwoben sind. Die Pionierin auf dem Gebiet der feministischen Kunst und der Body Art Soltau zählt heute zu den bedeutendsten feministischen Künstlerinnen ihrer Generation.
Vorder-und Rückseite: Doppelseite aus dem Katalog „Annegret Soltau, Vatersuche“, edition clandestin, Biel CH
Als Nachkriegskind hat sich Soltau die Freiheit, Künstlerin zu werden, hart erkämpfen müssen. Da sie Anfang 1946 in Lüneburg kurz nach dem 2. Weltkrieg als uneheliches Kind zur Welt kam, hatte ihre Mutter die Umstände ihrer Geburt als äußerst schwierig beschrieben. Schon sehr lange beschäftigt sich die seit 1973 in Darmstadt lebende Künstlerin mit der Suche nach ihrem Vater, nach dieser Leerstelle in ihrem Leben und mit der Geschichte ihrer Eltern. Dazu hat das Wissen um die „Normalität“ des Frauseins ihre Arbeit seit nunmehr fünf Jahrzehnten geprägt.
Dabei war es in den Siebzigerjahren alles andere als selbstverständlich, wenn man Kinder hatte, als Künstlerin weiterzuarbeiten. So thematisierte Soltau nicht zuletzt die eigene Schwangerschaft und fragte sich, ob eine Frau heute Künstlerin und Mutter sein kann oder ob eine Mutterschaft die Künstlerin zwangsläufig zum Verstummen bringen muss. Ihre persönlichen Erfahrungen und die Beschäftigung mit dem eigenen Körper und der eigenen Identität gingen in ihre Werke ein.
Über die Jahre schuf Soltau zahlreiche eindringliche Foto- und Videoarbeiten zu dem Thema. Darüberhinaus setzte sie sich mit den Geschlechterrollen auseinander. Immer wieder und in den verschiedensten Variationen zerschnitt sie Porträts von sich sich selbst, von ihren Kindern und nähte sie neu zusammen. Oder aber sie zerstörte die jeweilige Identität schon, indem sie Fotonegative zerkratzte und darauf Neues entstehen ließ. Unerbittlich stellte sie Fragen wie: Was gibt eine Mutter weiter, was ist vom Kind schon in ihr? Wo ist Mutter, wo ist Tochter, wie definiert sich deren jeweilige Identität oder die ihnen zugeschriebene Rolle?
Eine Vernissage in der Galerie Anita Beckers mit Mutter Annegret Soltau (re) und Tochter Julia, Foto: Petra Kammann
Doch trotz der teils brutalen Zerstörung der Gesichter und des groben Zusammennähens der Einzelteile schrieb sie den Montagen und Collagen jeweils ein teils liebevolle, eine an feinen Fäden hängende Zartheit ein. In den 90er Jahren stellte sie sich selbst mit ihren Fotovernähungen in eine Reihe von Generationen, wie mit ihrer Arbeit „Selbst mit Tochter, Mutter und Großmutter“.
Die zentrale Technik der Künstlerin, die zwar auch malt und zeichnet, wurde das Rekonstruieren, Neuzusammenstellen und „Vernähen“ von Teilen von Identität. Wie eine Chirurgin bearbeitete sie die von ihr vorher in Stücke zerrissenen Fotos von sich selbst und ihr Nahestehenden, die sie dann mit großen Stichen neu und anders ver- oder zusammennäht. Die Arbeitserfahrung der „Fotovernähung“ hatte sie bereits als junge Frau in der Arbeit bei einem Unfallarzt erworben. Vergleichbar mit der Chirurgie, in der genäht wird, um Wunden zu schließen und so einen Heilungsprozess des Wiederzusammenwachsens in Gang zu setzen, macht sie diesen Prozess sichtbar und provoziert damit einen „neuen“ Blick auf scheinbar Vertrautes, verbunden mit dem Wunsch, eine Art Heilungsprozess von Körper und Seele zu erzielen.
Katalogdoppelseite von Annegrets Fotovernähung „Vatersuche“ mit Briefausschnitt der Antwort vom Deutschen Roten Kreuz
Wer ist mein Vater Albert Betz?
Zeitlebens schwierig war das Bild von ihrer Mutter, die ihrem unehelichen Kind, das vorwiegend bei ihrer Großmutter in der Elbmarsch bei Hamburg aufwuchs, nicht die nötige Aufmerksamkeit entgegenbringen konnte. Über ihren leiblichen Vater wurde erst gar nicht gesprochen. Er blieb für sie ein ungelöstes Rätsel, das sie auf verschiedenste Weisen zu lösen suchte.
1988 schrieb sie erstmals den DRK Suchdienst an, um zu erfahren, ob der Vater gefallen war oder eine Stellung eingenommen hatte, die mit der Verleugnung ihrer Existenz verbunden war. Es folgten weitere Suchanfragen bei den unterschiedlichsten Behörden – immer wieder mit niederschmetterndem Erfolg. 2003 entschied die Künstlerin dann, das gesammelte Material dieser umfangreichen Korrespondenz auf der Grundlage eines Fotoporträts von sich selbst, von dem man lediglich die Umrisse, aber keine Gesichtszüge wiedererkennt, künstlerisch konsequent in die bis 2007 insgesamt 69 entstandenen Porträtcollagen einzubauen.
„Als Ausgangsmaterial für meine künstlerische Arbeit verwende ich die Dokumente meiner jahrelangen, erfolglosen Suche nach meinem verschollenen Vater. Die Arbeit besteht bisher aus 69 Selbstportraits. In mein Gesicht habe ich die Original-Briefe der Behörden z.B. Rotes Kreuz, Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. oder Deutsche Dienststelle für Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen Deutschen Wehrmacht eingenäht. Somit wird meinen Selbstportraits die ungelöste Schicksalsgeschichte infolge des 2. Weltkrieges förmlich ins Gesicht geschrieben, aber diese förmlichen Antwortschreiben bleiben wie eine leere Stelle in meinem Gesicht, wie ein weißer Fleck“, sagt sie.
Blieb allein die Hoffnung auf Aufklärung durch eine anrührend handschriftliche Bemerkung „von dein lieben Albert“ auf der Rückseite eines Fotos von einem Soldaten. Doch die erwies sich als falsch. Die legasthenische Mutter hatte es nachträglich beschriftet, um den Nachfragen der Tochter Ruhe zu geben. Die Suche nach dem Vater ist und war für Annegret Soltau bis heute die Suche nach der eigenen Identität. In den Porträts wurde die Suche nach ihm ein Teil ihrer selbst.
So sehr ihr Schaffen auch emotional durchdrungen ist, so eindrücklich gelingt es ihr, ihre persönlichen und intimen Erfahrungen in einen spezifischen künstlerischen Prozess zu überführen, mit dem sie sich stellvertretend für eine traumatisierte Kriegs- und Nachkriegsgeneration äußert und der so Allgemeingültigkeit erlangt. So auch die Meinung des Gocher Museumsdirektors Stephan Mann, der in diesen Zeiten die Aktualität der Künstlerin sieht.
Die dringliche Konsequenz, mit der sie es tut, lässt einen förmlich spüren, wie stark die Generation der nach 1945 Geborenen noch immer einen Krieg in sich trägt, den sie selbst nie erlebt hat. Bei all dem hinterlassen Soltaus Arbeiten, die der Vorstellung folgen, dass auch das Private politisch sei, jedoch kein Gefühl der Hilflosigkeit. Beeindruckend sind die Stärke und das Selbstbewusstsein, mit der die Künstlerin ihre Sicht auf sich selbst, ihre Familie und die Gesellschaft richtet, diese analysiert und transformiert.
Die Suche nach dem Vater, die im Katalog „Annegret Soltau, Vatersuche“, edition clandestin, ganz klar dokumentiert ist, geht weit über das Dokumentarische hinaus. Ihre zunächst monströs wirkenden, in Einzelteile zerrissenen Körperteile führen in die Traumata des vergangenen Krieges und heilen die Verletzungen durch „Vernähungen“. So werden die Fetzen des Dokumentarischen Teil eines neuen Ganzen. Annegret Soltaus Kunst vermag zwar die durch den Krieg bedingten Wunden und Risse nicht zu heilen, aber ihre Werke zeigen mögliche Heilungsprozesse von Körper und Seele auf. Sie eröffnet uns Anschauungsräume und zeichnet, wie es der Autor und Soltau-Kenner Francesco Colli in einem der Katalogbeiträge formuliert, „so das unsichtbare Band zu ihm (dem Vater) nach“.
Wer nicht die Gelegenheit hat, die besondere Ausstellung in Goch am Niederrhein zu besuchen, wird im kommenden Sommer die Gelegenheit haben, sich mit dem eindrucksvollen Gesamtwerk von Annegret Soltau zu beschäftigen. Das Frankfurter Städel Museum hat eine Retrospektive vom 8.5.2025 – 17.8.2025 unter dem Titel „Unzensiert“ angekündigt.
Die Ausstellung
ZeitErfahrung
ANNEGRET SOLTAU
bis 30.03.2025
Museum Goch
Kastellstraße 9
47574 Goch
Der Katalog
Cover des Katalogs Annegret Soltau, „Vatersuche“
edition clandestin
ISBN: 978-3-907262-69-6
Preis: € 35,- / CHF 35,-
Der Ausstellungskatalog „Annegret Soltau, Vatersuche“ wurde im Schweizer Verlag edition clandestin, Biel CH, von Stephan Mann, Direktor des Museums Goch, herausgegeben. Er versammelt erstmalig alle bisher entstandenen Blätter der Serie „Vatersuche“. Durch die Gegenüberstellung von Vorder- und Rückseite der entstandenen Werke auf Doppelseiten kann man den Verlauf der real stattgefunden Suche nachvollziehen. Die den Hintergrund erhellenden Texte von Francesco Colli und Stephan Mann sind auf Deutsch und Englisch nachlesbar.
CV Annegret Soltau
1967-72 Studium der Malerei und Grafik an der Hochschule für Bildende Künste, Hamburg und Wien
1970 Heirat mit dem Bildhauer Baldur Greiner
1973 DAAD-Stipendium für Mailand
1977 Erste vernähte Fotos
1978 Geburt der Tochter
1980 Geburt des Sohnes
1982 1986 1986/87 1989/90 1999 2010 Werkstipendium des Kunstfonds eV., Bonn
1985 Künstlerische Gestaltung „Innenräume“, Frauenklinik Klinikum Bremen
1986 Gewinnerin „Kunst im Öffentlichen Raum“, Zentralkrankenhaus Bremen
1986-87 Stipendiatin der Villa Massimo, Rom
1989-90 Stipendiatin Kunstfonds (Art Foundation), Bonn
1998 Maria Sibylla Merian-Preis an Hessische Bildende Künstlerinnen
2000 Kunstpreis der Stadt Darmstadt mit Werkschau „Ich selbst“
2011 Marielies Hess-Preis, Frankfurt am Main
2016 Johann-Heinrich-Merck-Ehrung der Stadt Darmstadt
2025 Shortlist Gabriele Münter Preis, Berlin
Annegret Soltau lebt und arbeitet seit etlichen Jahren in Darmstadt.