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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Römerberggespräche zur Migration: Ringen um Narrative

Ein Symposion ohne Gegenpositionen – Vehementer Schlussappell an gesellschaftliche Solidarität

Anmerkungen und Fotos von Uwe Kammann

Wie steht die Gesellschaft zur Migration, welche Einstellungen, welche Fragestellungen, welche Vorbehalte gibt es, wie sehen die Diskurse aus, in welche Richtungen kann, in welche Richtung sollte es gehen? Einem solchen Frageumfeld wollte sich die nunmehr 56. Ausgabe der renommierten Römerberggespräche widmen. Der Spannungsbogen bei diesem Thema reicht dabei weit. Vom berühmten „Wir schaffen das“ der  früheren Bundeskanzlerin Angela Merkel im Jahr 2015 bis zur aktuellen Warnung des CDU-Politikers Jens Spahn: „Unser Land wird in einigen Jahren gar nicht mehr wiederzuerkennen sein“. Was wurde auf dem traditionsreichen Symposion diskutiert, wie lässt es sich einordnen?

Ein aufmerksames Publikum im vollbesetzten Chagallsaal der Frankfurter Oper, alle Fotos: Uwe Kammann

In den letzten Tagen vor der Jahreswende wurde heftig diskutiert, ob Flüchtlinge aus Syrien nach dem Sturz des Assad-Regimes Deutschland wieder verlassen müssten, da der Schutzstatus verwirkt sei. Befürwortern hielt die SPD entgegen, sie bedienten lediglich „von Ressentiments aufgeladene Forderungen“. Im gleichen Atemzug wurde der Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg zu einer Brennpunktfrage, unter direktem Bezug auch zum Solinger Messertod eines Polizisten im Namen des Islamismus. Nach den Sylvesterfeiern wiederum erntete Berlins Regierender Bürgermeister aufgrund seiner Feststellung, bei vielen aggressiven Pyro-Angriffen auf Polizei, Rettungskräfte und Feuerwehr seien junge Migranten überproportional vertreten gewesen, heftigen Widerspruch („befeuert rassistische Ressentiments“).

Die Äußerungen und Reaktionen in all diesen Fällen gehorchten ersichtlich oft lediglich dem Muster Pro und Contra, mithin einer schematischen Positionierung in der Frage, wie hiesige Migrationspolitik einzuordnen, zu bewerten und zu gestalten sei. Insofern war die Fragestellung der im Dezember ausgerichteten Römerberggespräche – die 56. Ausgabe dieser traditionsreichen Diskurs-Veranstaltung  – von hoher Relevanz: „Wie hältst Du’s mit der Migration?“

Der Fragenachsatz „Einwanderung als nationale Schicksalsfrage?“ ließ bereits eine Färbung erkennen, welche im einleitenden Programmtext aufgenommen wurde. So mit der Feststellung: „Die Angst vor wachsender Kriminalität, Terroranschlägen ausländischer Täter und die Alarmrufe überforderter Kommunen bilden ein Schreckensszenario, mit dem populistische Parteien das Polit-Establishment vor sich hertreiben.“ Und weiter: „Wer sich heute noch zur Willkommenskultur bekennt, wer das uneingeschränkte Recht auf Asyl verteidigt oder auf die Bedeutung der Migration für den Arbeitsmarkt und die Sozialsysteme verweist, wird als weltfremd und blind für die Sorgen eines Teils der Bevölkerung denunziert.“

Das bewährte Moderatorenteam bei den Römerberggesprächen: Hadija Haruna-Oelker und Alf Mentzer (beide HR)

Es folgte die Zielsetzung: „Zeit für einen Faktencheck und mehr Differenzierung: Was ist begründete Sorge, was medialer Hype, was politisch motivierte Panikmache?“. Doch leider – dies zog sich bis zum Schluss der sehr gut besuchten Veranstaltung im Chagallsaal der Frankfurter Oper hin – war es mit einem offenen Diskurs nicht weit her. Die Referenten verfolgten in ihren Vorträgen und auch in den anschließenden Moderationsbefragungen durch Hadija Haruna-Oelker und Alf Mentzer (beide HR) erkennbar eine einheitliche Hauptlinie: Migration zeitübergreifend und pauschal als positiv zu sehen. Was  entsprechend bedeutete, kritische Einschätzungen zu relativieren oder negative Feststellungen zu einzelnen Begleiterscheinungen der schon rein zahlenmäßig beträchtlichen Einwanderungsbewegungen – speziell nach Deutschland – weitgehend als lediglich „gefühlte“ Begleiterscheinungen und als „gefühlte Überforderung“ auszublenden und/oder damit verbundene Positionen als „populistisch“ zu kennzeichnen.

Interessant wäre sicherlich gewesen, welche Akzente der deutsche Soziologe Aladin El-Mafaalani (Professor für Migrations- und Bildungssoziologie an der Technischen Universität Dortmund) in der generellen Debatte gesetzt hätte. Doch er musste aufgrund direkter persönlicher Betroffenheit – wegen seiner syrischen Familie – absagen, so dass seine unter dem Titel „Einseitiger Diskurs und komplexe Wahrheiten“ angekündigte Sicht der Dinge nicht zu hören war. Ebenso wenig wie das Referat, dass der (erkrankte) Historiker Ulrich Herbert zum Thema „Migrationsprozesse in Europa nach 1945 – ein kritischer Vergleich“ hätte halten sollen.

Gerade eine internationale Perspektive, konzentriert auf den europäischen Raum, hätte angesichts der gegenwärtigen Entwicklungen in Europa und wegen der Neubestimmungen der EU-Migrationspolitik aufschlussreich sein können. So blieb es bei einer Übertragung eines US-zentrierten Blickes und Bildes – natürlich unter dem Großschatten des wiedergewählten Trump –, um die deutsche Situation auch grenzüberschreitend zu skizzieren und zu beurteilen.

Blick aus dem Opernfoyer auf die Realität des Willy-Brandt-Platzes

Doch schon an grundlegenden Statistiken – welche Länder haben bislang wie viele Migranten aufgenommen, wie sehen diese Zahlen auf einer Zeitachse von zumindest zwei Jahrzenten aus, wie setzen sich die Gruppen zusammen und wie verteilen sie sich, was lässt sich der illegalen Migration zuordnen, was einem politischen Asylbegehren – fehlte es bei den Römerberggesprächen. Ebenso an weiteren Angaben, welche der inkludierten Fragen nach einer möglichen Überforderung der Gesellschaft eine materielle Unterfütterung hätten geben können.

Denn natürlich spielen Fragen wie die nach den finanziellen Aufwendungen von Bund, Ländern, Kommunen (in der Regel wird eine Gesamtsumme von rund 50 Milliarden Euro pro Jahr genannt) in der Gesamtdiskussion eine Rolle, ebenso wie die Weiterungen im Gesundheits-, Bildungs- und Justizbereich oder die Konkurrenzkämpfe auf dem stark strapazierten Wohnungsmarkt. Solche Kernangaben (die bei einem Faktencheck zu erwarten wären) und die damit verbundenen Einordnungen und Beurteilungen blieb die knapp sechsstündige Veranstaltung leider schuldig.

Stattdessen gipfelte sie einem flammenden Appel der an der Berliner Humboldt-Universität lehrenden Migrationsforscherin Manuela Bojadžijev, welche eine 2023 verfasste „Berliner Erklärung“ zur „Verteidigung der Migrationsgesellschaft“ vorstellte. Ihr zentraler Begriff lautet „transforming solidarities“, ausgehend von der Grundformel, dass „Solidarität die Bedingung der Möglichkeit gesellschaftlichen Lebens“ sei.

Die an der Humboldt-Universität lehrende Migrationsforscherin Manuela Bojadžijev

Wie nun genau diese mit Vehemenz eingeforderte gesellschaftliche Solidarität praktisch aussehen soll und kann: das schien auch Alf Mentzer wenig konkret oder gar „kontrafaktisch“ hinsichtlich der im Vortrag umrissenen Handlungsebenen, von lokal über national bis international. Mehrfach fragte er nach, wie diese Solidarität (von der Referentin beschrieben als „nachhaltig, egalitär, partizipativ“) gestaltet und organisiert werden könnte (wobei ohnehin offen blieb, wie „transforming solidarities“ am besten zu verstehen ist: als in sich veränderbar oder als verändernde Kraft). Eine konkrete Antwort blieb aus. Stattdessen wurde eine Richtung vorgegeben: nicht auf eine „Kanalisierung durch Asyrecht“ zu setzen, sondern das „hausgemachte Problem“ in allen Migrationsfragen „auf solidarische Weise“ zu lösen – eine Forderung, die großen Beifall auslöste.

Ebensoviel Beifall hatte gleich eingangs eine Schlussfeststellung des Politikwissenschaftlers Volker Heins gefunden. „Man kann Migration nicht regeln wie den Verkehr“. Seine Beschreibung der Situation in den USA (Titel seines Referats: „Der Trump-Effekt. Eine Zeitenwende für die Migrationsgesellschaft?“) war drastisch, beim vergleichenden Grundbefund, dass die USA „uns auf der abschüssigen Bahn voraus“ seien. Zu den in der Wahl bestätigten Trump-Faktoren gehöre der Wille, „wieder Herr im eigenen Haus“ zu sein. Die unter dieser Zielsetzung geforderte massenhafte Abschiebung führe ebenso wie eine massive Abschottung zu einer teuren Aufrüstung und Militarisierung eines zunehmend autoritären Staates („Wir lassen uns den Rassismus etwas kosten“). Zur Handlungsgrundlage gehöre die Auslöschung von Empathie mit den Opfern einer solchen Politik – für Heins ein „Faschismus des Herzens“. Angesichts aller gegenwärtigen Erscheinungen räumte Heins eine „gewisse Ratlosigkeit“ ein. Der er nur eines entgegensetzen könne, nämlich Hoffnung als „erneuerbare Energie“.

Der Politikwissenschaftler Volker Heins setzt auf Hoffnung als „erneuerbare Energie“

Zum im Programm angekündigten Komplex des Faktenchecks sollte gehören, die in der Öffentlichkeit vieldiskutierte Empfindung von abnehmender allgemeiner Sicherheit und zunehmender Kriminalität gerade von Ausländern (dass diese Kennzeichnung ebenso unterkomplex ist wie die Kombinationen mit ‚Migrationshintergrund’, war Konsens) zu erörtern. Die Kriminologin und Soziologin Gina Wollinger (Professorin an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung in Nordrhein-Westfalen) zeigte am Beispiel der Kriminalitätsstatistik der Polizei, dass die vorliegenden Zahlen die tatsächliche Situation nur annähernd beleuchten könnten. Diese Statistik nehme nur bei der Polizei registrierte Delikte auf, welche dann an den Strafverfolgsbehörden weitergegeben würden: mit offenen Folgen bei den Verfahren.

Als vielsagendes Beispiel kann die Sylvesternacht 2015 in Köln mit einer Vielzahl (1200) von angezeigten Delikten (vorwiegend deklariert als sexuelle Übergriffe, weitgehend zugeschrieben Männern aus dem maghrebinischen und arabischen Raum) gelten. Am Ende gab es lediglich drei Verurteilungen. Für die einen der Beweis einer aus rassistischen Gründen völlig übertrieben dargestellten Situation; für die anderen der Beleg, dass die Verfahrensweisen viel zu langwierig und die Justiz zu lasch gewesen sei. Dort wiederum wird die überaus schwierige Beweislage als Grund für diese offenkundige Zahlenschere genannt.

Professorin für Kriminologie und Soziologie: Gina Wollinger

Wollinger – die großen Wert auf die Feststellung legte, dass Zugehörigkeiten nicht einfach aufzuschlüsseln seien – beschrieb gleichwohl ein generelles Verhältnis, wonach der statistische Kriminalitätsanteil von ausländischen „Tatverdächtigen“ ungefähr doppelt so hoch sei wie ihr Anteil an der Bevölkerungszusammensetzung (rund 35 Prozent zu 15 Prozent). Dass hier vielfach junge Männer nochmals überrepräsentiert seien, habe mit dieser Gruppe überhaupt, aber auch mit verschiedenen sozialen Sonderfaktoren zu tun: so einer vielfach materiell prekären Situation, einer oft gewaltgeprägten Sozialisierung und der Übernahme patriachalischer Strukturen. Dass diese jeweiligen Ausprägungen auch nach der einer „Kulturalismus“-Theorie als wesensprägende kulturelle Differenz zu sehen sei, kritisierte die Soziologin als unterschwelligen Rassismus („Kultur wird überbewertet“, „Kulturen sind wandelbar“).

Professor für Journalismus in Hamburg: Thomas Hestermann

Thomas Hestermann, Professor für Journalismus am Campus Hamburg der Hochschule für Macromedia, zeigte mehrfach ein die Thematik von Messerstechereien in greller Form aufgreifendes Titelbild des Spiegel, um publizistische Tendenzen darzulegen, über eine wenig sachgerechte Dramatisierung und eine klischeebehaftete, verzerrende, in der Darstellung einseitige Ausrichtung an Angstsgefühlen („Angst ist häufig ein Konstrukt“) Pluspunkte in der Aufmerksamkeitsökonomie zu gewinnen. Dieser inhärenten journalistischen Versuchung und einem auch damit verbundenen großen Erfolg des Rechtspopulismus sich zu widersetzen und mit individuellen Mitteln entgegenzusteuern, sei auch eine Aufgabe der Seh- und Leserschaft, die durchaus auch eigene Macht besitze. Seine Empfehlung: „Übt Druck aus“. Und generell: „Medien müssen bunter werden.“ Für Moderator Alf Mentzer ein wichtiger Fragepunkt: Wie sich „popularisierende Narrative“ stoppen oder umkehren ließen.

Die Journalistin und Ärztin Gilda Sahebi (deren Buch „Wie wir uns Rassismus beibringen“ viel Beachtung gefunden hat) vertrat die These, Fakten spielten in der Migrationsdebatte keine Rolle, viele Menschen hätten „einen Trichter im Kopf“. Sie plädierte aber eindringilch dafür, eben diese Menschen nicht einfach nach den Kategorien gut oder schlecht zu beurteilen und einzusortieren. Jeder habe viele eigene Vorstellungen, Erfahrungen und Facetten an Möglichkeiten in sich. Diese seien wesentlich gespeist durch die Lebenswirklichkeiten einer Gesellschaft, welche in zunehmenden Maße durch Ungleichheit („ungerechte Verteilung des Vermögens“) belastet sei.

Die Journalistin/Ärztin Gilda Sahebi und der Politologe Thomas Biebricher

Ein auf einem Negativ-Narrativ beruhendes Konkurrenzverhältnis („Die Migranten nehmen uns den Wohlstand“) sieht der Frankfurter Politologe Thomas Biebricher als einen wichtigen Anschubpunkt für vielerorts anzutreffende Beurteilungen der Migrationsfrage. Die Angst vor Kontrollverlusten (hier kam auch das neue Buch des Soziologen Andreas Reckwitz: „Verlust. Ein Grundproblem der Moderne“ ins Spiel) spiele „eine ganz große Rolle“, ebenso wie die Angst vor kultureller Überfremdung und dem Verlust an innerer Sicherheit. Für Biebrich werden diese Vorstellungen „von Medien und Parteien hochgezogen“, was zur Einschätzung der arbeitenden Bevölkerung führe: „Die Ausländer sind schuld“.

Menzers Frage nach Möglichkeiten, sich damit verbundenen „Narrativen zu entziehen“, beantwortete Gilda Sahebi mit der Forderung nach einer „Veränderung der Strukturen“. Allerdings sei es schwierig, an Menschen heranzukommen, die einfach zu manipulieren seien. Für ihre generelle  Feststellung „Wenn die Problemanalyse nicht stimmt, kann man Probleme nicht lösen“ erhielt sie viel Beifall. Ihre Ansicht, es spiele keine Rolle, wer regiere („Alle Parteien arbeiten mit Lügen“) teilte Biebricher – der in seinem Buch „Mitte/Rechts“ eine „internationale Krise des Konservatismus“ konstatiert hat – nicht. Konkret warnte er mit Blick auf die politische Auseinandersetzung vor einem „Überbietungswettbewerb mit der AfD“ und forderte „den Mut, andere Themen in den Vordergrund zu stellen“ („Migration ist zum Teil nur ein Ventil für andere Probleme“). Allerdings, so sagte er an anderer Stelle, sehe er keine realistische Strategie. Sahebi wiederum – die keine wirkliche Linkspartei sieht, wohl aber auch existierenden „linken Populismus“ („links nicht besser als rechts“), bestärkte auf dem Podium wiederholt ihren Hinweis auf das „System“ und forderte, dass im Sinne der Förderung des Zusammenhalts „jeder bei sich anfangen“ solle („Nicht einzelne Politiker sind böse“; und „Ich bin auch kein besserer Mensch als AfD-Wähler“).

Darauf folgte dann – der geänderten Dramaturgie geschuldet – als Schlusspunkt der Auftritt der mit vielen Projekten vernetzten Humboldt-Professorin Manuela Bojadžijev. Mit der Eingangsfeststellung, dass Migration kein Problem sei: „Menschen wandern“, und dies auch „in der Hoffnung, etwas Besseres zu finden“.  Als Kontrast zu dieser Ausgangsposition sei ein „aggressiver und einseitiger Diskurs“ zu konstatieren, ebenso ein „bedrohliches Ausmaß der Entsolidarisierung“. Genau dem stelle sich die „Berliner Erklärung“ entgegen – als Appell zur Realisierung gesellschaftlichen Solidarität, in der Form von „transforming solidarities“.

Wie ist „tranforming solidaries“ zu verstehen: fragender Blick von Alf Mentzer in Richtung Manuela Bojadžijev

Hier setzten dann – wie oben dargestellt – die nach Konkretisierung suchenden Nachfragen des Moderators Alf Mentzer an. Der seinen eigenen Schlussappell allgemeiner hielt. Mit einem nochmaligem Verdikt gegen „spalterische Narrative“, denen ein anderer Auftrag entgegenzuhalten sei: „Gesellschaft neu zu denken und neu zu gestalten“. Damit dies gelingen könne, griff er zurück auf die Eingangsformel von Volker Heins: „Hoffnung als erneuerbare Energie“.

 

Eine Kommentierung als Nachtrag:

„Was sind Möglichkeiten, Chancen und Grenzen der politisch gestalteten Zuwanderung?“ Dies sollte zur generellen Fragestellung der Römerberggepräche gehören. Doch die Trias wurde nicht eingelöst, die Grenzen wurden nicht angesprochen. Der realistische Blick darauf gehörte früh zum viel zitierten Satz des früheren Bundespräsidenten Joachim Gauck: „Unser Herz ist weit, doch unsere Möglichkeiten sind endlich“. Ihn hatte er, bilanzierend, vor zwei Jahren in Frankfurt wiederholt beim „Forum der Demokratie“ der Frankfurter Bürgerstiftung in der Deutschen Bibliothek.

Auch Ex-Bundestagsvizepräsident Richard Schröder, als SPD-Politiker sicherlich nicht neonaziverdächtig, hat gerade wieder einen aus seiner Beurteilung und Einordnung realistischen Blick auf die Begleiterscheinungen der Massenmigration angemahnt. Dabei kritisierte er auch – angesichts der zahlenmäßig dominierenden, familiär unterstützten Gruppen junger Männer – das jetzt faktisch vorherrschende Recht des Stärkeren. Was natürlich zur Frage führt: Was ist in globaler Kooperation zu tun, wenn laut eines UNHCR-Trendreports Mitte letzten Jahres weltweit über 120 Millionen Menschen auf der Flucht waren?

Wie steht es um die Menschen in Armuts-, Elends- und Krisengebieten, wie um jene aus hier kaum wahrgenommenen Kriegs- und Bürgerkriegsregionen wie Uganda und Haiti? Wie kann hier internationale Hilfe aussehen, wo setzt sie an, wie ist hier Mitgefühl in wirksame Tat umzusetzen? Könnte Europa, könnte Deutschland hier ein sicherer Hafen ohne Grenzen sein? Wie steht es auf der anderen Seite um die eigene gesellschaftliche Sicherheit, wenn beispielsweise Territorialkonflikte oder ideologisch imprägnierte Gewalt ins Land getragen werden; oder auch solche individueller Art, die mit soziokulturellen Faktoren verbunden ist? Ist das von Volker Heins beschworene Mitgefühl (das er in den USA „weggetriggert“ sieht) ausreichend, um eine Aufnahmegesellschaft auf große faktische oder potentielle Flüchtlingsströme einzustellen und dies auch faktisch zu organisieren?

Ein versierter Staatsrechtler wie Peter Graf von Kielmansegg wiederum hat wiederholt mit ausführlicher Argumentation darauf hingewiesen, dass zu den Grundbedingungen eines souveränen Staats drei Säulen gehören: die Staatsgrenzen, das Staatsvolk und die Staatsgewalt. All diese Punkte spielten bei den Römerberggesprächen keine Rolle, nirgends wurde substantielle Frage nach der Definition staatlicher Souveränität oder nach Grenzen gestellt: seien es staatsrechtliche, seien es materielle, seien es gesellschafts- und individual-psychologische. Mögliche oder tatsächliche Überforderungen – so, wie sie seit langem und jetzt noch verstärkt gerade auch von den Kommunen vehement beklagt werden, und dies parteiübergreifend, sie kamen ebenfalls nicht zur Sprache.

Dass ein bayrisches 280-Einwohner-Dorf 130 Flüchtlinge aufnehmen soll und sich dagegen wehrt: keiner Rede wert? Dass wohl nicht alle Migranten „wegen der Demokratie“ hierherkommen, wie es die Berliner Humboldt-Professorin behauptete: Ob sie dies ernsthaft glaubt? Ob sie wirklich die aggressiv und lauthals verkündeten Rufe von islamischen Einwanderer-Männern nach einem Kalifat überhört und die vielerorts stark islamistisch geprägten Taten übersehen hat? Ob sie schlichte ökonomische Gründe nicht einmal in Betracht zieht?

Gina Wollinger und Thomas Hestermann

Und stoppt die Kriminalitätsforscherin Gina Wollinger ihre Überlegungen zu kriminalitätsfördernden Faktoren nicht auf halber Strecke, wenn sie (speziell bei jungen Männern) Milieueinflüsse, Bildungsarmut, geringes Einkommen, gewaltprägende Sozialisation, religiöse Imprägnierungen und patriarchalische Grundeinstellungen zwar benennt – aber nicht erwähnt, dass bei einem massiven Einwanderungsdruck gerade solcher Gruppen sich diese Faktoren in überproportionaler Frequenz bemerkbar machen? (In der Kriminologie-Theorie werden diese Zusammenhänge als Anomie bezeichnet: wenn gesellschaftliche Normwerte des Status, der Einkommensverhältnisse, der Anerkennung trotz eigener Anstrengung kaum oder gar nicht zu erreichen sind.)

Wie steht es mit Gina Wollingers Argument, es gebe keine Kultur-Charakteristika – sehr entschieden kritisierte sie „Kulturalismus“, also die Vorstellung von wesentlichen kulturellen Unterschieden, als unterschwelligen Rassismus –, wo sie selbst vorher bestimmte Einzel- und/oder Gruppen-Eigenschaften als einflussreiche Faktoren auf das Verhalten gekennzeichnet hatte?

Sind Medien tatsächlich mit Blick auf Quoten-, Leser- und Nutzerzahlen die Beförderer einer Negativ-Einschätzung von unkontrollierter Einwanderung oder Migration überhaupt, wie es der Medienforscher Thomas Hestermann als Tendenz beschrieb und mit einem reißerischen Spiegel-Titel pars pro toto belegen wollte? Ein Zuruf aus dem Publikum kritisierte sicher zu recht die Anklage gegen „die Medien“ als zu kursorisch. Wer Publikationen wie Spiegel, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Rundschau, taz, Tagesspiegel, aber auch Frankfurter Allgemeine oder Welt liest, wer regelmäßig die Informationssendungen, die Magazine und die Dokumentationen gerade auch der öffentlich-rechtlichen Sender verfolgt, der wird – allerdings ohne wissenschafts-etikettierte Matrix – wahrscheinlich zu einem anderen Bild kommen.

Und natürlich ist zu befragen, warum in vielen Leserforen die so genannten Mainstream-Medien gerade hinsichtlich ihrer Behandlung der Migrationsfragen und -Politik kritisiert werden, weil sie den „weißen Elefanten“ im Raum tagtäglicher Anschauung geflissentlich aus Gründen politischer Korrektheit übersähen und aussparten. Dass die sozialen Medien mit ihrer milliardenfachen Info- und Meinungsfülle (mit allen möglichen Kontrasten und Schattierungen) die Situation von Grund auf verändert haben, muss dabei auf vielfache Weise einbezogen werden – ohne dass sich bisher auch nur annähernd ein klares Bild ergäbe.

Wohlgeordnete Schlage auf dem Weg zum Symposion

Das alles wären Sachverhalte, Komplexe und Einschätzungsräume gewesen, die in einem solchen Forum eine vertiefende – sicher auch kontroverse – Diskussion verdient gehabt hätten. Diese Chance wurde leider vertan. Warum, darüber lässt sich von außen nur spekulieren. Ist es die auch anderswo bekannte Angst, dass bestimmte Argumente als Zustimmung/Beifall für die falsche Seite ausgelegt werden könnten? Ist es die Vorstellung, einem aus eigener Sicht negativen Gesamtbild positive „Narrative“ entgegensetzen zu können und zu müssen? Das entspräche der Wunschvorstellung und dem Musterbild eines klar gestalteten und formulierten „Framing“, also einer Darstellungsform, die eine Bedeutungsrichtung vorgibt und damit andere Bewertungen, Deutungen oder Modelle auszuschließen sucht.

Dies wäre dann nichts anderes als die Bestärkung einer eigenen „Bubble“, wie es heute heißt, also das sich Einschließen in einer Denk- und Bewertungsblase. Dass dies wesentlich auch mit spezifischer  Milieuzugehörigkeit zu tun hat – geprägt durch Kultur, Einkommen, Sozialbezüge und -status, eher nicht behelligt von Verteilungsängsten und -kämpfen oder Unsicherheitsgefühlen im öffentlichen Raum –, das drängte sich im Chagallsaal auf. Zuerst bei den Vorträgen und den nachfolgenden Frage- und Vertiefungsrunden auf dem Podium, aber auch aufgrund der Äußerungen und Einwürfe aus dem (mehrheitlich gesetzterem) Publikum. Als beispielsweise Manuela Bojadžijev ihre Forderung nach grenzenloser Solidarität bekräftigte, bekam sie spontan Unterstützung im Sinne des Teilens: Die Menschen hier genössen eine stets steigende, großzügige Wohnfläche pro Kopf. Warum also nicht, vereinfacht gesagt, „ein Bücherregal woanders platzieren“?

Das war natürlich eine individuell sympathische Einlassung, aber sie konnte natürlich in keiner Weise zur Auslotung eines Fragefeldes beitragen, das Moderator Alf Mentzer anfangs in einer „Grundstruktur von ökonomischer und gesellschaftlicher Ungleichheit“ verortet hatte, bei deren Diskussion es auch um das Spannungsfeld „gefühlte Überforderung contra Realität“ gehe. Er zitierte dabei auch den erkrankten Referenten: „Wer schnelle Lösungen verspricht, der will betrügen“. Im Programmtext war auch hier ein Fragemuster vorgegeben: „Was geschieht mit einer Gesellschaft, deren Problembewusstsein sich auf die Frage der Eindämmung unerwünschter Migration verengt?“

Darin steckte natürlich eine Pauschalierung, ein Ausblenden von gesellschaftlichen Realitäten, die in den jeweiligen Gruppen- und Milieuzusammenhängen vielfältig und vielgestaltig sind. So hätte sich ein Seitenblick auf das gleichzeitig stattfindende Literaturfestival „Textland“ gelohnt, das eine große Zahl von Autorinnen und Autoren mit migrantischen Wurzeln zusammenführte, mit beifälllig aufgenommen Texten in deutscher Sprache – und damit einer positiven Gegenwelt zu der jede Integration abweisenden Einwanderungsversion, wie sie einst das Frankfurter Schauspiel übergroß plakatiert hatte („Deutsch mich nicht voll“).

Auch die Namen vieler Menschen, die an hiesigen Kulturinstitutionen arbeiten, nicht selten an leitender Stelle, belegen: Migrationswirklichkeiten und Migrationsgeschichte(n) sind nicht automatisch mit dem getränkt, was in den Römerberggesprächen an manchen Punkten mit dem Vorwurf einer systemischen Diskriminierung und eines strukturellem Rassismus belegt wurde.

Eines darf nicht übersehen werden: Zusammengehörigkeit zu entwickeln ist an einen langen Prozess gebunden, setzt voraus, den/die Anderen zu kennen, kennenzulernen und zu verstehen, bedeutet einen stetigen Prozess des geteilten Handelns und des Aufeinanderzugehens, schließt aber auch das Abwenden nicht aus. Es geht um Vertrauen, um Glaubwürdigkeit, um Verlässlichkeit. Wie soll sich das einfach entwickeln, wenn in großer Zahl neue – und dabei oft höchst heterogene – Menschen und Gruppen sich sicht- und hörbar anders verhalten, ihre ganz eigenen und womöglich ganz anderen Regeln haben, wenn man sich mangels gemeinsamer Sprache nicht verständigen kann? Was in der Regel auch bedeutet: Vertrautes zu verlieren, in vielerlei Hinsicht.

Insofern ist es viel zu einfach, pauschal von Fremdenfeindlichkeit zu reden, wenn kritisch gefragt wird, wieviel Homogenität eine Gesellschaft braucht, um eine positive Identität zu entwickeln, eine Identität, welche sie letzten Endes auch befähigt, emphatisch und solidarisch zu handeln. Diese Fragen zu untersuchen, hier abzuwägen und Perspektiven aufzuzeigen, das erscheint zielführender als in großem Einverständnis Migration als grundsätzlich positive zu propagieren und dabei die auch damit verbundenen negativen Begleiterscheinungen auszublenden und den falschen „Narrativen“ zuzuschreiben, denen die richtigen gegenüberzustellen seien.

Deutschland übrigens, so die Erfahrungen nach vielen Reisen in zahlreiche Länder, gehört zu den weltoffensten Staaten überhaupt, was in weiten Bereichen der Gesellschaft zu spüren ist. So sah es im Chagallsaal auch eine seit Jahrzehnten hier lebende Italienerin, welche dem Grundton der Veranstaltung entgegenhielt: „Die Deutschen sind nicht fremdenfeindlich.“

Sie hat, wie auch andere Diskussionsteilnehmer, noch die Zeiten erlebt, in denen jene Ausländer ins Land kamen, die als Gastarbeiter bezeichnet wurden – und der Schweizer Autor Max Frisch daran erinnern musste, dass es Menschen seien. Gab es eine solche Intervention auch schon, als Polen in großer Zahl ins Ruhrgebiet einwanderten? Auch diese Zeitreise wäre es wert, untersucht zu werden: um zu sehen und zu sagen, was war und was ist.

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