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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„Herzfaden“ im Hessischen Staatstheater Wiesbaden

Eine Bearbeitung des gleichnamigen Romans von Thomas Hettche

Von Walter H. Krämer

Der Roman „Herzfaden“ von Thomas Hettche erzählt die Entstehungsgeschichte der Augsburger Puppenkiste anhand der Gründungsfamilie Oehmichen – eine Geschichte also über Kunst und Politik. Am 21. Januar 1953 erscheint die Augsburger Puppenkiste mit „Peter und der Wolf“ erstmals im Fernsehen. Es folgen „Jim Knopf“, „Kater Mikesch“, „Urmel“ und viele andere mehr. Seit dieser Zeit sind die Figuren in den Köpfen etlicher Bundesbürger*innen – ob groß oder klein – präsent und verhalfen der Augsburger Puppenkiste, weit über die Grenzen der Stadt Augsburg hinaus, bekannt zu werden.

Lasse Boje Haye Weber (als Hanns), Tabea Buser (als Hatü) – Foto: Thomas Aurin

1940 kommt der deutsche Schauspieler Walter Oehmichen (gespielt von Christian Klischat) aus dem Krieg nach Hause zu seiner Frau Rose und den beiden Töchtern Hatü und Ulla. Im Gepäck hat er zwei Marionetten und den Wunsch, ein eigenes Marionettentheater aufzubauen. Bestärkt darin hat ihn eine Erfahrung, die er mitten im Krieg machte und die Thomas Hettche in seinem Roman „Herzfaden“ so beschreibt: „Als wir im Sommer in Calais lagen, waren wir in einer Schule einquartiert. Das Klassenzimmer, in dem wir biwakierten, war voller kleiner Tische, Bänke und Stühle und in einer Ecke stand ein Puppentheater. Wir hatten viel Zeit und nichts zu tun. Also baute ich eines Tages, weil die Puppen zu dem Theater nicht zu finden waren, aus Pappe selber welche und improvisierte vor den Kameraden. Die Wirkung war verblüffend.“

Dass sich seine Kameraden von den improvisierten Puppen beeindrucken und berühren ließen, war für ihn der Beweis, dass Puppen als lebendige Wesen wahrgenommen werden und die Zuschauer*innen sich von ihnen berühren lasen.

Zwar braucht es Fäden in Menschenhänden, um den Puppen Leben einzuhauchen, aber der Herzfaden ist der wichtigste Faden einer Marionette. Nicht sie wird von ihm geführt, sondern mit ihm führt sie uns. Der Herzfaden einer Marionette macht uns glauben, sie sei lebendig, denn er ist am Herzen der Zuschauer festgemacht, erklärt der Vater seiner Tochter Hatü und dieser Gedanke ist auch in der Inszenierung von Moritz Sostmann in Wiesbaden zu hören.

Dass er sich das nur ausgedacht habe, gibt der Vater gerne zu, es beschreibt allerdings sehr gut die Wirkung, die Marionetten auf uns Zuschauer*innen haben. Wir sind es, die diesen Geschöpfen aus Holz, Draht und Stoff ihre Bedeutung geben: „Wir Spieler*innen wackeln mit einem Stück Holz. Alles andere geschieht im Kopf der Zuschauer.“

Der rote Theatervorhang ist noch geschlossen. Links am Bühnenrand eine Kiste. Man ahnt schon, es wird die Kiste mit der Aufschrift Augsburger Puppenkiste und Oehmichens Marionettentheater. Eine Hand mit Glöckchen schaut aus der Vorhangspalte hervor und läutet das Spiel ein. Dann geht der Vorhang auf und wir treffen auf Familie Oehmichen. Unter ihnen die Figur Kasper mit riesigem Kopf. Wutentbrannt tritt er an die Rampe und beschwert sich, dass er im ersten Stück nicht mitspielen darf und wettert gegen die Auswahl – „Der gestiefelte Kater“ soll es werden.

Mit diesem Stück eröffnete Familie Oehmichen am 26. Februar 1948 unter dem Namen Augsburger Puppenkiste ihr Marionettentheater. Zunächst schnitzte Walter Oehmichen die Marionetten, übergab diese Aufgabe aber bald an seine Tochter Hannelore, von allen nur Hatü genannt. Unter ihrer Leitung entstehen die berühmten „Stars an Fäden“.

Einer ihrer ersten Figuren war ein Kasper – einer allerdings, der sie ängstigte und den sie später nicht mehr dabei haben wollte aufgrund seiner von ihr geschnitzten Physiognomie. Als junges Mädchen während der Kinderlandverschickung hatte sie ihm, unbewusst, die antisemitischen Stereotype der Nazis ins Gesicht geschnitzt und musste später erkennen, dass selbst dann, wenn man die Ideologie seiner Zeit ablehnt, man davon „vergiftet“ werden kann.

In der Wiesbadener Inszenierung von Moritz Sostmann und Sophie Steinbeck (Textfassung), ist die alt gewordene Hatü als Puppe die zentrale Figur des Abends. Aus ihrer Sicht und ihren Erinnerungen gestaltet sich der Abend. Sie blickt auf ihr Leben zurück. Gebaut als Vierfüßer-Puppe wird Hatü von zwei Personen geführt. Das machen Franziska Rattay und Eva Vinks auf hervorragende Art und Weise. Ihre Animation der Puppe überzeugt und man merkt ihnen an, dass sie ihre Puppe gut kennen, ein Gefühl für diese Puppe entwickelt haben, um mit ihr laufen, sprechen und schauen zu können.

Auf dem Bild (links) Ensemble, (vorn) Puppenspielerinnen Eva Vinke und Franziska Rattay mit der Puppe Hatü – Foto: Thomas Aurin

Überhaupt ist diese Aufführung auch eine Lektion in Sachen Puppentheater. Man lernt einiges über das Spiel mit Marionetten. So beispielsweise über deren Führung. Dies wird überzeugend erklärt von Sibylle Weiser – sie spielt in der Aufführung Rose Oehmichen – am Beispiel der winzig kleinen Gretel-Puppe. Fasziniert hört und sieht man sie langsam über die Bühne trippeln und einen Fuß nach dem anderen auf den Boden setzen und je nach Handhabe der Fäden läuft sie, dreht sich im Kreis, hebt die Arme zum Gruß oder verbeugt sich. Einer der berührendsten Momente des Theaterabends.

Die Aufführung springt in den Zeiten hin und her und zeigt auch die Befindlichkeiten in den Kriegs- und Nachkriegsjahren und das Bedürfnis, nach vorne zu schauen. Dabei ist es offensichtlich kein Anliegen, diese Jahre politisch korrekt und wissenschaftlich genau dazustellen, sondern wir sehen – so geschrieben im Programmheft zur Aufführung – „die Handlung des Stückes durch die Brille von Hatü. So sehen wir den Eintritt ihres Vaters Walter Oehmichen in die NSDAP nicht als politisches Moment, sondern als persönliche Erinnerung. Wir sehen ihn als Figur, die nicht Soldat oder Mitläufer war, sondern Opfer der Umstände. Dem gegenüber gilt es kritisch zu bleiben – sowohl beim Betrachten des Stückes als auch am Küchentisch.“

Hanns Marschall – gespielt von Lasse Boje Haye Weber – und Hatü Oehmichen – gespielt von Tabea Buser – werden ein Paar und leiten später das Marionettentheater. Eine Begegnung mit Fahrrädern, die zum wahrhaftig doppeldeutigen Sprung in die Kiste führt, überzeugt. Sie schubsen sich gegenseitig mit ihren Fahrrädern an. Das Schubsen wird stärker. Man spürt die Anziehungskraft, das erotische Knistern, das die beiden antreibt und immer heftiger wird, bis sie ihre Räder hinwerfen und ab in die Kiste springen. Liebe und Sex auf der Bühne darf sein.

Tabea Buser (als Hatü),  Lasse Boje Haye Weber als Kaspar – – Foto: Thomas Aurin

Und sie wollen Neues schaffen, nicht nur die alten von Walter Oehmichen geschriebenen und gespielten Geschichten. Aufbruch in die neue Zeit ist angesagt und das gelingt erstmals mit der Adaption des kleinen Prinzen – einer märchenhaften Geschichte von Antoine de Saint-Exupéry.


Lasse Boje Haye Weber, Tabea Buser, Timur Frey, Laura Talenti (mit der Puppe Der Kleine Prinz) – Foto: Thomas Aurin

Im hinteren Teil der Bühne stehen riesige Gerüste (Bühne: Christian Beck), an denen sich Urmel, Lukas der Lokomotivführer und Prinzessin Li Si im Riesenformat tummeln. Bei Bedarf dürfen sie auch einmal klappern und außer sich geraten. Eindrucksvoll!

Timur Frey und Lisa Edith Freiberger mit den Marionetten Urmel und Lukas der Lokomotivführer, unten: Laura Talenti mit der Puppe Kalle Wirsch – Foto: Thomas Aurin

Wie überhaupt die ganze Inszenierung ein Loblied auf Marionetten und das Marionettentheater „singt“ und dessen Vielfalt und Wirksamkeit zeigt. Die Puppen als die ehrlicheren Schauspieler*innen.

Swing – danach wird ausgelassen getanzt, bei dem Lied „Sag mir wo die Blumen sind“ – gesungen von Marlene Dietrich – singt und grölt die Jugend (Tabea Buser als Hatü, Laura Talenti als Ulla Oehmichen, Timur Yann Frey als Michel und Lisa Edith Freiberger als Vroni) lauthals mit und bei „Sweet dreams (Are Made Of This)“ von Eurythmics lässt sich an eine bessere Zukunft – frei von „Altlasten“ – denken.

Alle Episoden des Stücks werden durch die Brille der alten, bereits verstorbenen Hatü erzählt, die ihre eigene Geschichte wie ein Familienalbum durchblättert und dabei immer wieder nach einer Zigarette fragt. Denn Rauchen war damals noch in und angesagt. Ohne „Fluppe“ im Mundwinkel ging eben nichts.

Das spiel- und tanzfreudige Ensemble – Kostüme von Lise Kruse – kann das Publikum begeistern, so dass einzelne Albernheiten zwar nicht nötig, aber mit Blick auf die Reaktionen des Publikums verständlich und entschuldbar scheinen.

Eine insgesamt stimmige Aufführung, die Lust auf die Lektüre des Romans weckt und motiviert, sich vielleicht wieder einmal das ein oder andere Stück der Augsburger Puppenkiste anzuschauen.

 

Herzfaden – Text- und Spielfassung von Moritz Sostmann und Sophie Steinbeck nach dem Roman von Thomas Hettche.
Regie: Moritz Sostmann,
Bühne: Christian Beck,
Kostüme: Lise Kruse,
Licht: Steffen Hilbricht,
Choreografie: Uwe Fischer,
Dramaturgie: Sophie Steinbeck.
Mit: Eva Vinke und Franziska Rattay (Puppenspiel), Christian Klischat, Sybille Weiser, Tabea Buser, Laura Talenti, Lisa Edith Freiberger, Lasse Boje Haye Weber, Timur Frey.
Uraufführung am 6. Dezember 2024
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten, keine Pause
www.staatstheater-wiesbaden.de

Termine:

12.01. + 2.02. um 16 Uhr – 22. + 29.01. + 7.02. um 19:30 Uhr / 16.02.2025 jeweils um 18 Uhr

Die Aufführungen findenm Staatstheater Wiesbaden im Kleinen Haus statt.

https://www.staatstheater-wiesbaden.de/spielplan/a-z/herzfaden/

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