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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Die Kyjiwer „Tage der Essayistik“ und der Jurij-Schevelov-Preis für den besten ukrainischen Essayband 2024

Von der Lwiwer Bohème der 70er Jahre ins ostukrainische Bachmut 2023

Von Christian Weise

„Der Osten der Ukraine war schon immer anders als der westliche Teil, der wesentlich österreichisch-ungarisch und davor polnisch-litauisch geprägt war, russisch orientiert“, so ungefähr lautete die kurze Einschätzung einer älteren Dame letzte Woche von der Rückbank, mit der zusammen ich im PKW saß. Juri Shevelov, in Charkiw geboren, aus einer deutschen Familie stammend (ursprünglicher Nachname: Schneider), die in Moskau diente, ist derjenige ukrainische Essayist, zu dessen Andenken 2013 gestiftete Preis für ukrainische Essayistik gewidmet ist.

Yuri Shevelov, Foto: Internet Encyclopedia of Ukraine

Von Shevelov ausgehend, der nach 1952 schließlich in den USA lebte, ließe sich leicht ein weitschweifender Blick auf die ukrainische Literaturszene Charkiws in den 20er und 30er Jahren werfen – eine Korrektur der eingangs genannten Einschätzung. Umgekehrt müsste differenzierend dann auch noch etwas über die Russophilen-Bewegung in Galizien gesagt werden, unter anderem…

Jetzt aber zu dem nach ihm benannten Preis: Am 17. Dezember sollte zum 12. Mal in Kyjiw der Shevelov-Preis verliehen werden, der ukrainische Essays auszeichnet. Gestiftet wurde der Preis 2013 gemeinsam von PEN Ukraine, KMBS, dem Verlag „Duch i Litera“ und dem HURI – Harvard Ukrainian Research Institute.

Um das Genre des Essays in der Ukraine zusätzlich weiter zu befördern, organisiert der ukrainische PEN seit inzwischen sechs Jahren im Vorfeld der Preisverleihung „Tage der Essayistik“.

Am Dienstag, den 11. Dezember, konzentrierten sich die Tage der Essayistik – ein viertägiger Veranstaltungszyklus innerhalb der Kyiv-Mohyla Business School (KMBS) im Podil – auf einen vor zehn Jahren verstorbenen Dichter, Essayisten und Bohèmien: „Essay wie Jazz: Im Gedenken an Oleh Lyscheha“ (30.10.1949 – 17.12.2014).

Oleh Lyscheha, Foto aus: Wikipedia

Die Essays mögen hinsichtlich ihrer Kreativität als literarische Gattung vielleicht neben der Poesie stehen, bleiben aber häufiger nicht übersetzt – Ausnahmen wären Mykola Rjabtschuk und Taras Prochasko (frühere Shevelov-Preisträger!) – und bilden mit Romanen und Kurzgeschichten die vier Säulen der schönen Literatur.

Gedichtband Oleh Lyschehas „Winter in Tysmenyzja“ aus der legendären Serie „Ukrainische Poetische Anthologie“ des Verlages A-Ba-Ba-Ha-La-Ma-Ha

Nachdem im Vorspann zunächst der ebenfalls im Dezember 2014 verstorbene zweite Präsident des ukrainischen PEN-Clubs, Jevhen Sverstjuk, auch ein Essayist, durch seinen Nachfolger Myroslav Marynovych gewürdigt worden war, begann die mit rund 50 Zuhörern gut besuchte Veranstaltung mit einem kurzen O-Ton Oleh Lyschehas. In der Aufzeichnung aus dem seinerzeit legendären Lwiwer Buch-Café „Kabinett“ wirkten die lebendige Stimme und Gestik des Meisters der Performance.

Oleh Lyscheha im „Kabinett“ auf dem Bildschirm

Moderiert von Roksolyana Sviato erinnerten anschließend Weggefährten aus der jüngeren Generation an Lyscheha, zuallererst den großen Dichter und Bohemien: Bohdana Matiash, Taras Pastukh und Jurko Prochasko.

Podium: Podium, Bohdana Matiiasch charakterisiert Oleh Lyscheh, Foto: Christian Weise

Lyscheha gehörte zu den Lwiwer Studenten der Fremdsprachen Anfang der 70er Jahre, teilte das Schicksal mancher von ihnen: Ausschluss von der Universität, anschließendes Bohème-Leben.

Taras Pastukh, der sich in einer Monografie mit Lyschehas poetischem Werk beschäftigt und vor fünf Jahren einen Sammelband mit Erinnerungen über ihn herausgegeben hat, widmete sich in seinem Statement Lyschehas Wirken allgemein: Sein bildhaftes Denken durchkreuze Erwartungen, es dekonstruiere und schaffe zugleich Bilder. Pastukh verdeutlichte dies am Begriff Fenster: Fensterqualität habe für Lyscheha ebenso der Himmel und die Erde gewonnen.

Bohdana Matiiash betonte vor allem die Stärke von Olehs Gedichten und dessen vielfältigen Interessen: „In seinen Essays war er äußerst ernsthaft und damit ein völlig anderer Oleh als der, den wir im Les Kurbass-Theater erlebt haben. Wer einen seiner Essays liest, versteht, dass hier ein Mensch ist, der in sich eine Enzyklopädie trägt.“ Jurko Prochasko führte aus, dass Lyschehas Texte vor allem elementar sind. In ihnen zeigt sich Lyscheha zugleich als achtsam wie aufmerksam.

Jurko Prochasko, Foto: Christian Weise

Besonders interessant ist der Zusammenhang zwischen der poetischen und essayistischen Kreativität Lyschehas. Taras Pastukh beschrieb sie als „Gewässer verschiedener Qualität“, Gedichte als reine Bergquellwasser und Essays als Ströme warmen Wassers wie der Dnipro. Die verknappte, verdichtete Wahrnehmung der Gedichte verbindet sich offenbar später zu dem, was im Titel der Veranstaltung genannt wurde: „Essay wie Jazz“.

Lyschehas Texte, vor allem seine Essays, die völlig unterschätzt sind, wurden spät veröffentlicht. Damals in den 1970ern und 80ern war die Welt des Publizierens völlig anders als heute. Die Sammlung von Lyschehas Essays erschien 2015 posthum im Lwiwer Verlag Piramida von Vasyl Gabor: „Altgold“. Anders als Lyschehas Gedichte wurden sie nicht übersetzt.

Cover von Oleh Lyschehas Band „Altgold“

Gedichte ukrainischer Autorinnen und Autoren sind häufig vertont worden. Außer den Arrangements verschiedener Bands wie beispielsweise „Pirih i Batih“, „Mertvij piven“ oder von einzelnen Sängerinnen und Sängern wie Marianna Sadowska oder den Kindern von Lyschehas Freund, Taras und Solomija Chubaj, sind es immer wieder bekannte oder weniger bekannte Bandura-Spieler, die Text und Instrument verbinden. So spielte und sang am Abend der Bandurist Volodymyr Voyt zwei Arrangements zu Lyscheha.

Volodymyr Voyt, Foto: Christian Weise

Nachdem die schreibenden Experten ihre Sondierungen unternommen hatten, ergänzten anschließend drei weitere Stimmen das lebendige Bild Lyschehas: Sein Weggefährte, der Liedermacher, Übersetzer und damalige Co-Bohèmien Victor Morozov trug aus den USA zugeschaltet eine amüsante, kreative musikalische Performance vor.

Victor Morozov, Bohémien, Liedermacher, Harry-Potter-Übersetzer, Foto: Christian Weise

Anschließend erinnerte Lyschehas erste Ehefrau Natalija an Szenen und Eigenheiten des Dichters, dem sich lebendig vorgetragene Erinnerungen seiner Tochter Oksana an den früh verstorbenen Vater anschlossen: „Während das Gespräch mit meiner Mama ernsthaft wie die Essays waren, so war das Zusammensein mit mir Performance“…

Natalija Lyscheha, Foto: Christian Weise

Vorangegangen der eigens dem vor 10 Jahren verstorbenen Lyscheha gewidmeten Veranstaltung waren zwei Tage mit Vorträgen, eine Diskussion zum Thema „Essayistik in Zeiten großer Umbrüche“, einem Gespräch zur Kinoessayistik und einer Buchvorstellung in eigener Sache.

Die Preisverleihung des 12. Shevelov-Preises fand schließlich am 17. Dezember in Kyjiw in der KMBS statt.

Neun Nominierte wurden zunächst auf der Seite des PEN Ukraine aufgelistet.

Zwei der drei Ausgewählten auf der erst am Abend publik gemachten Short List hatte unsereiner bereits zuvor intuitiv erfasst:

Myroslav Lajuk, „Bachmut. Ukraïner“, Kyjiw 2023 und Anton Sanchenko, „Auf der Schwarzmeerwelle: 33 Jahrhunderte des umgepflügten Meeres.“ Bohdan, Ternopil 2023.

Beide Bände waren im Sommer auf dem Kyjiwer Buch-Arsenal vorgestellt worden.

Freund Vasyl Machno hatte mir außerdem zwei Tage zuvor mitgeteilt, dass er mit seiner gerade zum 60. Geburtstag erschienenen großen Essaysammlung „Hühner fliegen nicht“. Verlag des Alten Löwen, Lwiw 2024, eine besondere Auszeichnung „für seine besondere Stimme in der ukrainischen Essayistik der vergangenen zwanzig Jahre und das Schlagen von Brücken kultureller Verständigung“ erhalten werde.

Vasyl Machno, Foto: Christian Weise

Eine weitere besondere Auszeichnung von „Radio Kultura“ erhielt Stanislav Assejew für seinen im Sommer erschienenen Band „Der Elefant aus Neusilber oder der Mann, der dachte“.

Nicht im Blick hatten wir bisher Julija Bujskych, „Westlich des Bugs“. Vyd. 21, Czernowitz 2023. Die Anthropologin blickt sowohl kulturgeschichtlich als auch anthropologisch auf die Geschichten der Menschen in der Grenzregion zwischen Westukraine und Ostpolen. Diese zeichnet eine große Verschiedenheit und Vielfalt aus, die die Autorin in ihren Reportagen zu Wort kommen lässt. In der Kurzvorstellung wirkte auch dieser Band sehr überzeugend und wichtig. Ich werde ihn das nächste Mal meinen Krakauer Freunden mitbringen.

Cover von „Westlich des Bug“ von Julia Bujskych 

Rückwärts schreitend zu den anderen Autoren: Vasyl Machno, im westukrainischen Ternopil großgeworden, zählte bereits 2015 zu den Finalisten des Shevelov-Preises mit einem Teilwerk seiner nun gesammelten Essays. Tamara Hundarova, die augenblicklich in Harvard lehrt, würdigte seine ebenso kulturell umfassenden wie mit konkreten Details von Orten der Kindheit verbundenen Essays, die von großer Meisterschaft zeugen. Viele von Machnos Essays erscheinen übrigens auf der Internetseite Zbruc.eu, einem wichtigen Medium für ukrainische Kultur mit starker Schriftstellerbeteiligung.

„Hühner fliegen nicht“ von Machno, Foto: Vasyl Machno

Anton Sanchenko und sein Matelot-Wettbewerb für Meeresprosa, Foto: Christian Weise

Anton Sanchenko, der übrigens einen etwas ähnlichen versteckten Humor hat wie Machno, stammt aus dem südukrainischen Cherson – aha, hier redet und schreibt man also auch ukrainisch! – fuhr länger zur See und publiziert schon seit mehr als 20 Jahren. Seinem leicht geschriebenen großformatigen Band mit Illustrationen hätte ich der neuen Perspektive wegen den Preis von Herzen gewünscht, vielleicht auch andere: beschwingt würdigte Rostyslav Semkiv Antons Buch und Sanchenko selbst verband in seinem Auftritt spielerisch das Schwarze Meer mit Ternopil, wo dank des dortigen großen Sees ebenfalls Seefahrt möglich ist.

Cover von Anton Sanchenko, „Auf den Wogen des Schwarzen Meeres“

Nicht unerwartet gewann aber Myroslaw Lajuk mit seinen literarischen Reportagen über die Kämpfe bei Bachmut in der Oblast Donezk (August 2022 bis Mai 2023) den diesjährigen Shevelov-Preis. Die Zeiten sind ernst, Schriftsteller überlegen, wie sie in der gegenwärtigen Lage am besten helfen können. Die Bohème pausiert.

Cover von Myroslav Lajuk, Bachmut

Gedrängt und voller Energie trug Lajuk nach der Preisverkündigung sieben Minuten vor. Den Dank an all seine Mitautoren, vor allem auch die ungenannten Kämpfer auf seinen Wegen, hatte er bereits zuvor ausgesprochen. Zeiten für ein entspannteres Miteinander, wie wir es kurz beim gemeinsamen Zusammensein im kleineren Kreis während der FBM erlebten, müssen warten. Der Kampf um die Freiheit geht weiter. Eine deutsche Übersetzung von Lajuks „Bachmut“ scheint von Harald Fleischauer in Angriff genommen zu sein. Essays indes findet man in Lajuks Band weniger, es handelt sich um literarische Interviews, die den Status des Kampfes „fixieren“.

Myroslav Lajuk während der Frankfurter Buchmesse 2024, Foto: Christian Weise

Ein interessanter Band ukrainischer Texte bekannter ukrainischer Autoren von den vergangenen fünf Tage der Essayistik wurde – wie schon erwähnt – am Vorabend der Preisverleihung vorgestellt: Orysja Hrudka (Hg.), Spyjmaty nelvlovyme – putivnyk svitom eseistyky. PEN Ukraine – Kmbs – Duch i Litera, Kyjiw 2024.

Das Buch „Das Flüchtige einfangen“, Foto: Christian Weise

Wie der Buchtitel „Das Flüchtige einfangen“ besagt, gilt: In einer Zeit, in der die Aufmerksamkeitsspannen von uns allen abnehmen, können die wie Jazz leicht wirkenden Improvisationen von Essayisten eines: beitragen zu einer vertieften Wahrnehmung der vielfältigen und flüchtig-changierenden Wirklichkeit.

Der PEN Ukraine lobt ferner den Drahomán-Preis für Übersetzungen aus dem Ukrainischen, den Hryhoryj-Gongadze-Journalistenpreis und den Vasyl-Stus-Preis aus.

Link: Mitschnitte der hier genannten Veranstaltungen sind unter anderem über die Facebook-Seite des PEN Ukraine zu genießen. PEN Ukraine | Kyiv | Facebook: Die Diskussion über Oleh Lyscheha unter dem Link https://fb.watch/wB3pUfHZ6B/, die zur Preisverleihung unter Facebook.

 

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