Städteboom um 1200. Wie das Mittelalter unsere Städte erfand – Die spannende Geschichte der Entstehung eines Stadtzeitalters
Stadtluft macht Männer und Frauen frei – Inspirierende Modelle
Von Petra Kammann
Finsteres Mittelalter? Mit diesem Vorurteil räumen die beiden, mit der Ausgrabung von Geschichte vertrauten Autoren Gisela Graichen und Matthias Wemhoff gründlich auf. „Die Vorstellung vom dunklen, rückständigen Mittelalter ist als Mythos widerlegt. Es war im Gegenteil eine Epoche des dynamischen Aufbruchs in unsere moderne Welt“, lautet Graichens feste Überzeugung. Die Bestseller-Autorin und preisgekrönte Fernsehautorin Gisela Graichen und Matthias Wemhoff, Berliner Landesarchäologe und Museumsdirektor für Vor- und Frühgeschichte, haben sich die Gründung mittelalterlicher Städte um 1200 als Paradebeispiel für Kühnheit, Kreativität und technische Innovationen vorgenommen, Orte, an denen langfristig soziale und ökonomische Strukturen geschaffen wurden. Gedacht und geplant waren diese Gründerzeitstädte für Generationen. Äußerst anregende Beispiele bieten sie denjenigen, die sich Gedanken über die Zukunft unserer Städte machen.
Columba-Altar von Rogier van der Weyden (Alte Pinakothek, München) mit der mittelalterlichen Stadt, vorn: die hl. drei Könige mit ihren reichen Gaben aus dem Orient
Ein beherzigenswertes Zitat aus dem ursprünglich in mittelniederdeutscher Hanse-Sprache verfassten Herforder Rechtsbuch hat das Autorenduo dem im Propyläenverlag erschienenen Buch „Gründerzeit 1200. Wie das Mittelalter unsere Städte erfand“ dann auch den weiteren Überlegungen vorangestellt: „Oh, meine lieben Bürger: Seid einträchtig, / denn die Eintracht der Bürger / ist die größte Stärke der Städte“. Mit der Grundeinsicht, dass Einigkeit stark macht, und dass in einer Gemeinschaft dafür bestimmte Grundregeln notwendige Voraussetzungen sind, berufen sich die beiden dabei wiederum auf den „Sachsenspiegel“, der das Stadtrecht nachhaltig auch für die kommenden Jahrhunderte festlegen sollte.
Gisela Graichen am Hamburger Mühlenteich, wo um 1200 eine Mühle stand, Foto: Astrid Holste
Anhand ausgewählter Städte, in denen zuletzt aufsehenerregende Ausgrabungen stattfanden, erfahren wir abwechselnd von ihnen eine Menge über die Gründung der Städte, über deren Gemeinsamkeit und Vielfalt. Gisela Graichen schildert Details von Ausgrabungen besonders anschaulich und packend. Wissenschaftlich unterfüttert werden die gewonnenen An- und Einsichten vom ausgebildeten Mittelalterarchäologen Matthias Wemhoff, so etwa über die unterschiedlich strukturierten Städte in Westfalen, Brandenburg und der Oberrheinregion. Hinzu kommen die zahlreichen schwarzweißen und farbigen Abbildungen, welche die Kenntnisse einsichtig illustrieren.
Grundsätzlich gilt, dass überall in Deutschland und Europa zweifellos über die großen Handelsrouten um 1200 und im ganzen 13. Jahrhundert etliche Städte mit Marktplätzen und Stadthäusern entstehen, die sich zudem gegenseitig beeinflussen und Netzwerke bilden. Man stand zwar in Konkurrenz, lernte aber auch voneinander. Handelskontore, Rathäuser, Stadtkirchen schossen nur so aus dem Boden, aber auch Klöster, jüdische Gemeinden, Friedhöfe und Bettelorden und so beindruckend faszinierende Bauwerke wie die gotischen Dome. Wie aber kam es dazu?
Dazu trugen nicht zuletzt technische Innovationen und ausgefeilte Erfindungen bei, wie etwa die der Brille oder der mechanischen Räderuhr, die den Tagesablauf präzise regelte. Nicht nur in der Kirche, angekündigt durch den ritualisierten Glockenschlag, sondern auch auf dem Marktplatz wusste man fortan, was das Stündlein geschlagen hatte. Und dank des neu erfundenen Kompasses konnte man sogar schon Wasserwege und Meere erkunden, während durch die Einführung der Null, welche die Europäer von den arabischen Händlern übernahmen, Waren präzise abgemessen verkauft werden konnten.
Einer der Gründe der neu prosperierenden Städte war sicherlich auch das Klima. Die allgemeine Erwärmung führte dazu, dass die Landwirtschaft, die durch geschickte Bewässerung revolutioniert wurde, blühte und somit mehr Menschen gut ernährt werden konnten mit der unmittelbaren Folge, dass die Bevölkerungszahl in den neu entstandenen Städten immens anstieg. Daraus erwuchs ein neues selbstbewusstes Bürgertum, das sich über die Handelswege austauschte, seinen Reichtum mehrte und sich sogar damit das Recht erkämpfte, gegenüber den Fürsten eine eigene Stadtregierung zu bilden.
Jedenfalls sahen die neuen von Stadtmauern umgebenen Städte völlig anders aus als die von den Römern zur Grenzsicherung angelegten Siedlungen, welche die Grundlagen so mancher Stadt wie Köln oder Frankfurt bilden, die im Mittelalter dann nochmal neuen Aufschwung erhielten. Die Stadtmauern trennten das Außengebiet vom inneren Stadtraum, in dem man Bürgerrechte genoss. Außerdem sollten die Mauern die Stadt vor feindlichen Angriffen und Bränden schützen, zumal Bedarf an Holz für die neu entstehenden Gebäude und deren Fachwerk- und Dachonstruktionen gewaltig war. Natürlich wurden deswegen große Waldgegenden abgeholzt, deren Nachteile in der Folge hier auch nicht verschwiegen wird.
Gisela Graichen, die ihre jahrzehntelange journalistische Arbeit in Büchern und Filmen mit archäologischen Forschungen verbindet, interessiert sich in diesem Zusammenhang immer auch für die Rolle der Frau, die erstaunlicherweise im Mittelalter, neue Rechte bekam, sei es als gut ausgebildete Nonne oder als Magd, die ihren spärlichen Lohn als „Hübschlerin“ an besonderen Festtagen aufbessern konnte. Bürgersfrauen und Huren, Handwerksmeisterinnen oder Handelsfrauen, sie waren nicht kein Eigentum ihrer meist nicht freigewählten Ehe, ihre Position wurde klar und neu definiert. Man kann das heute zwar noch nicht als echte Emanzipation beschreiben, aber als einen ersten Schritte zu neuen rechtlich verbrieften Perspektiven, die ihnen einen Stück Freiheit gab.
Davon waren vor allem die auch souveränen, des Lesens und Schreibens mächtigen Äbtissinnen in Klöstern betroffen. Und so ist beispielsweise auch Hildegard von Bingen (1098-1179) eine der gebildeten Nonnen, die im Zusammenhang mit der sich damals entwickelnden Apothekerkunst und Medizin erwähnt wird. Eine andere Frau, die freilich etwas später in den Genuss neuer Rechte kam, war Christine de Pizan (1364-1429). Sie schrieb „Das Buch von der Stadt der Frauen“ und konnte sogar als erste Frau von ihrer Schriftstellerei leben.
Natürlich beschäftigen sich die Autoren auch mit den hygienischen Voraussetzungen in der Stadt, den stinkenden Latrinen neben den Häusern und den eher lustvollen Badehäusern, mit Beleuchtungstechniken für die Nacht, die Unfälle vermeiden sollten. Die aus den Voraussetzungen erwachsenden Krankheiten wollte man möglichst von den freien Bürgern fernhalten. Neben den zahlreichen anschaulichen Beispielen fragt man sich zum Schluss, warum es uns heutzutage so wenig gelingt, an einem Strang zu zu ziehen, wenn es um die Zukunft unserer Städte geht. Auch wenn uns inzwischen die Handys bisweilen zu Monaden machen, so leben wir eben doch in der Stadt nicht als Eremiten. Vielfalt entsteht durch Austausch.
Gisela Graichen, Matthias Wemhoff
Gründerzeit 1200.
Wie das Mittelalter unsere Städte erfand.
Verlag Propyläen
Berlin 2024
29 EUR