„Frankfurter Premieren“ mit Burkhard Spinnen
Zu Gast in der Villa Metzler
Von Christian Weise
Das Ukraine-Thema steht im Mittelpunkt von Burkhard Spinnens neuem Roman „Vorkriegsleben“.
Burkard Spinnen liest, Foto: Christian Weise
„Um uns herum sind fast alles ukrainische Fernfahrer“, erklärt mir Danylo. Wir sind auf der Autobahn hinter Wroclaw. Die Gegenfahrbahn gen Westen ist voll wie im städtischen Berufsverkehr. Viele kleine Fahrzeuge, oftmals mit schweren Dachlasten, einmal einer aus Charkiw, gelegentlich auch teure Luxuslimousinen, etwa aus Kyjiw. Alle vollbesetzt, alle mit ukrainischen Kennzeichen. Richtung Osten auf unserer Spur viele LKWs mit polnischen Kennzeichen, oft nur grau, ohne irgendwelche Aufschriften. Einander ähnelnde Kennzeichen. Und ukrainische Fernfahrer. Wir beide, ein Ukrainer und ein Deutscher, fahren in die Nacht hinein und bringen Kisten mit Medikamenten, Schutzwesten und eine Drohne zu den tapferen Ukrainerinnen in Warschau. Es ist der 8. März 2022.
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Die ukrainischen Fernfahrer und die tapferen Ukrainerinnen vom März 2022 im Hinterkopf, fragte ich mich heute, im Dezember 2024, worum es nun in Burkhard Spinnens neuestem Roman geht, dessen Protagonist Spediteur ist und der im März 2022 eine Ukrainerin bei sich aufnimmt.
In ihrer regelmäßigen Reihe „Frankfurter Premieren“ stellte Dr. Sonja Vandenrath dieses Mal in der Villa Metzler dem Autor eine Reihe von Fragen zu seinem siebten Roman, aus dem er auch zwei längere Passagen las. Worum geht es darin?
Richard Morjan, 59jähriger Spediteur, steht an einem Wendepunkt. Während er seinen Betrieb nach Frankfurt verkaufen will, wobei „Frankfurt als Chiffre steht für etwas, das nicht gelingen will“, stürzen viele Fragen auf ihn ein. Seine Mutter verliert im Altersheim zunehmend ihr Gedächtnis. Die Corona-Epidemie klingt langsam ab. Um die Ukraine wächst das Bedrohungsszenario russischer Truppen, das alsbald am 24. Februar zum großen Kriegsangriff Russlands führt.
Ein seltsamer Kontakt über WhatsApp, der sich Time Tunnel nennt, beginnt, Morjan gegen stattliche Geldbeträge Fragmente aus seinem Vorleben anzubieten, digitalisierte Aufnahmen aus der Kindheit, Jugend und seinem Studium der Kunst in Hamburg. Morjan gewinnt im Unterschied zur Mutter sein Gedächtnis wieder. Auch das irritiert ihn, neben allem anderen, was nun in sein Leben einbricht. Der Gipfel ist seine Art Selbstanklage: „sechzig Jahre unverdientes Leben in Frieden, frühzeitige, nicht erzwungene Aufkündigung einer kritischen Haltung, unbotmäßige Aneignung eines mittelständischen Unternehmens und permanentes Profitieren von der globalisierten Ökonomie“.
Ende 2022 beschrieb Spinnen in einem Interview, dass er angesichts des Krieges gegen die Ukraine die Arbeit an seinem fast fertigen Roman, der sich um die Corona-Epidemie drehte, aussetzte. In der Folge spitzte sich das Fragen des Autors zu. „Seit dem 24.2.22 sind die als sicher geglaubten Gewissheiten, die bereits mit 9/11 in Wanken gerieten, endgültig umgefallen“, so der Autor in der Villa Metzler. Beide Einbrüche, die Corona-Epidemie und der Krieg, haben für Spinnen und den Boomer, den er beschreibt, die bisherige Vorstellung, in einer ewigen Nachkriegszeit zu leben, aus den Angeln gehoben, nichts ist mehr wie bisher.
Für den Protagonisten Morjan sehen die verschiedenen Stationen seines Lebens, die eingespielten Bilder aus Kindheit und Jugend, seine abgebrochene Künstlerexistenz, sein Einheiraten in die Spediteursfamilie, die Ehe, aus der seine Ehefrau mit Tochter vor 16 Jahren plötzlich spurlos verschwand, aus wie Installationen. Zu seinen Installationen in Hamburg – „Jeder Satz muss sitzen“ und „Der Knopf im Ohr“ – lehnte er jegliche Kommentierung ab. Natürlich kommentiert Spinnen seinen Protagonisten nicht, jedenfalls nicht im Roman. Beginnen womöglich gar selbst die jüngsten Großereignisse unserer Welt, die Corona-Epidemie, der russische Krieg gegen die Ukraine nicht mehr und mehr zu wirken wie Installationen, frage ich mich.
Die Kehrtwende, die über eine seiner Mitarbeiterinnen, die zufällig aus der Ukraine stammt, auf Morjan hereinbricht, wird vielleicht seine größte Installation: er fährt nach Przemysl, um die dort steckengebliebene jüngere Halbschwester von Anastasia samt ihren beiden Zwillingstöchtern abzuholen. Statt des von Spinnen gewählten deutschen Busses wäre der übliche „Ikarus“ passender gewesen! Morjan erlebt die endlosen Wartezeiten beim Ein- und Ausreisen in die Ukraine – darüber wäre damals noch viel mehr zu erzählen gewesen! – und holt sich eine halbe Familie in seinen leeren Bungalow: Alisa, Ivanka und Danila. Im Kontrast dazu lebte er bislang nur mit einer weißen Königspudelin namens Soffy, die „Inkarnation einer Leerstelle ist“. Ab nun folgt eine „Familiensimulation“ .
Dr. Sonja Vandenrath im Gespräch mit Burkhard Spinnen, Foto: Christian Weise
Im Gespräch betont Spinnen seine Affinität für mittelständische Existenzen. Seine Sorge: „Die Beschäftigung mit Literatur nicht zur Kenntnis, auf welchen Schultern das steht. Kunst ist ein Luxus!“
Auffällig sind beim Lesen von „Vorkriegsleben“ Versatzstücke heutiger Technik und Sprache: Morjan fährt in einem SUV, kommuniziert über Whatsapp, beherrscht Emojis. Morjan spricht die „Sprache der ewigen Jugend“ . Jüngst sah ich Ähnliches zufällig auch im Roman einer ukrainischen Autorin, Anna Gruver.
Die verschiedenen verschränkten Stränge und Schichten zu strukturieren, hat Spinnen die äußere Form von Tagebuchdaten gewählt, ein-zwei Tage pro Woche im Zeitraum vom 14. Februar bis zum 1. Mai 2022. Innerhalb dieser wechselt der Autor zwischen der herausfordernden Gegenwart und Rückblenden. Die Zeit der Rückblende, die vorwärts gelebt zunächst wie eine ewige Nachkriegszeit aussah, erhält nun die Bezeichnung „Vorkriegsleben“. Dieses Vorkriegsleben wird zum Buchtitel.
Das Vorkriegsleben Morjans trifft auf das Kriegsleben Alisas und ihrer beiden Töchter. Von dem Vorleben Alisas wird nur erwähnt, dass die ukrainischen Ehen, ihre eigene eingeschlossen, nicht immer glücklich sind und die Flucht vor dem Krieg neue Perspektiven für die Frauen eröffnet. Die Rückblende auf das Vorleben Morjans erfolgt durch die „Maßnahme“ des Autors, so Spinnen, dass ein unbekannter Absender ihm Bilder aus seiner Vergangenheit anbietet, darunter auch die seiner verschiedenen Liebesverhältnisse.
Nein, es sind keine „wilden Erdbeeren“, ist kein träumerisches Aufblenden. Was für sein Verhältnis zu Alisa gilt: „größtmögliche Ferne bei größtmöglicher Nähe“, spiegelt sich auch in seinen früheren Beziehungen. Insgesamt sind die Bilder, in die Morjan eintauchen darf, „nichts Besonderes“. „Ständig traf er in seinem Umzugsgeschäft auf Menschen, deren Leben sich gerade veränderte, manchmal radikal.“ Das prägt wohl.
Überhaupt fällt auf, dass die handelnden Personen des Romans allen Emojis zum Trotz ziemlich emotionslos und distanziert sind. Nur einmal packt Morjan eine plötzliche Wut, über die digitale Welt (S. 249). Ukrainer im richtigen Leben sind emotionaler!
Am Ende von Spinnens Roman steht wieder eine Fahrt in die Ukraine, weit in den Osten, wo der Krieg herrscht.
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Bei der Lektüre des Romans kommen mir natürlich aktuelle Gedanken. Vor 2014 saß ich mehrere Stunden im Zug zwischen Krakau und Przemysl neben zwei kräftigen großen Männern. Zwei Paten, „Kume“, aus Odessa, so entnahm ich ihren Erzählungen. Kleine Töchter hatten sie, über deren mögliche Entwicklung sie nachdachten. Kurz vor der Grenze gab ich mein vorgegebenes Dösen auf, sprach sie auf Ukrainisch an. „Ah, dann bist Du ja einer von uns!“ Sogleich war ich eingeladen, noch rasch etwas von ihrem Cognac, ihren Brotschnitten und der triefenden Fleischwurst zu kosten. Die beiden waren ukrainische Fernfahrer, hatten ihre LKWs irgendwo in Holland oder Spanien abgegeben und fuhren nun nach Hause. Gemeinsam überquerten wir nach der Zugfahrt zu Fuß die Grenze, das letzte Marschrout-Taxi auf der ukrainischen Seite nach Lwiw war bereits fort. Wir schnappten uns um 21 Uhr 30 ein Taxi und fuhren durch die dunkle Nacht nach Lwiw. Unsere Wege trennten sich am Bahnhof. Die beiden Fernfahrer bestiegen, noch ungetrübt von allem, was bald kommen sollte, ihren Zug, ihren Nachtzug nach Odessa.
Burkhard Spinnen
Vorkriegsleben
Roman
Schöffling & Co,
Frankfurt 2024. 320 S.
ISBN 978 3 89561 514 6
Weiterführendes:
Interview Johannes Loys mit Burkhard Spinnen:
„Alle Energie der Zukunft widmen“,
in: Westfälische Nachrichten 2.12.2022
Jen Stout, Night train to Odessa. Covering the Human Cost of Russia’s war. Birlinn, Edinburgh 2024. 236 S.