Retrospektive von André Masson, „La mémoire du monde“ – „Das Gedächtnis der Welt“ in DIE GALERIE
Dass ich eins und vielfach bin – Auch ein Rekurs auf Goethe
Von Petra Kammann
Hundert Jahre nach der Formulierung des Surrealistischen Manifests durch André Breton 1924 feiert die revolutionäre Kunstbewegung des Surrealismus fröhliche Urständ, in Museen wie dem Centre Pompidou in Paris, im Lenbachhaus in München oder auch in der Kunsthalle Vogelmann in Heilbronn. In Frankfurt gibt DIE GALERIE in ihrer nurmehr sechsten Einzelausstellung von André Masson einen tieferen Blick in das Werk dieses „unkonventionellen“ Vertreters des Surrealismus, in dessen Gesamtwerk sich in den verschiedensten Schaffensphasen die unterschiedlichsten Techniken und Themen wiederfinden. In seinen Gemälden, Zeichnungen und Skulpturen hat sich der Erfinder des „déssin automatique“ ebenso durch Goethe, Kleist und die deutsche Geistesgeschichte inspirieren lassen wie durch die deutsche Romantik, den Impressionismus oder auch die asiatische Kalligrafie. Zur Vernissage kamen sein 89jähriger Sohn, der Dirigent Diego Masson, sowie seine Enkeltochter Sonia Masson.
Der Dirigent Diego Masson, der Sohn von André Masson, war zur Vernissage der Ausstellung aus Paris angereist, Foto: Petra Kammann
Der Titel der André Masson-Ausstellung „Les mémoires du monde“, die am 4. Dezember 2024 in DIE GALERIE in Frankfurt eröffnet wurde, geht auf den Künstler selbst zurück. Für ihn war eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit vor dem Hintergrund seiner persönlichen Erfahrungen mit dem, was Krieg bedeutet, ungeheuer wichtig. Zweifellos ein Grund, diesen Aspekt in seinem Œuvre genauer zu beleuchten. André Masson (1896-1987), engagiert und sensibel für die historischen und intellektuellen Umwälzungen seines Jahrhunderts, bildete als Künstler die Brüche und Widersprüche des 20. Jahrhunderts ab, in dem er selbst leidvoll zwei große Kriege erfahren hat: den Ersten Weltkrieg, in dem er schwer verletzt wurde, den Zweiten, den er mit Frau und zwei Kindern im amerikanischen Exil verbracht hat.
Blick in die Frankfurter Ausstellung in DIE GALERIE, Foto: Petra Kammann
Die Surrealisten der Zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts hatten den Zufall, die Spontaneität und den Traum sowie jegliche Methode, die geeignet war, die Zweckgebundenheit des modernen Denkens zu durchkreuzen, in ihren Fokus gestellt. Sie sollten dazu beitragen, das Leben und die Gesellschaft grundlegend zu verändern. Dieser Wunsch entstand nach den leidvollen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, in dem mehrere Gründungsmitglieder der Surrealisten an der Front waren und daher Zweifel am Sinn des Krieges hegten wegen seiner Sinnlosigkeit und Brutalität. Sie bezweifelten auch die Logik der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Allen voran André Breton (1896-1966). Er berief sich dabei auf den Marxismus sowie auf Sigmund Freuds Theorie der Traumdeutung .
Techniken wie die „écriture automatique“ – das quasi automatische Notieren von Gefühlen, die aus dem Unterbewussten kamen –, dienten den Surrealisten, um ihre Methode zu entwickeln. Es entstanden die „cadavres exquis“ – ein Spiel mit mehreren Personen, die einen unbekannten Satz auf ein gefaltetes Papier notierten, das von den Teilnehmern weitergeschrieben wurde, ohne zu wissen, was die anderen zuvor produziert haben. Für die Bildenden Künstler war es vor allem die „Frottage“ – Durchschreibungen unterschiedlichster Gegenstände mit Bleistift. Auch André Masson nutzte diese Technik. „Der Künstler muss das Universum immer neu gestalten oder, wenn Sie so wollen, sein eigenes schaffen“, lautete sein Credo. Und das hat er in ganz vielfältiger Weise in den unterschiedlichsten Techniken unter Beweis gestellt.
Die Frankfurter Ausstellung zeichnet den Werdegang des Künstlers Masson mit rund 60 Werken – Gemälden, Arbeiten auf Papier, Graphiken und Skulpturen aus den 1920er bis 1970er Jahren inklusive seines Selbstporträts aus dem Jahre 1945, das die Hölle zeigt, durch die er gegangen ist– nach und damit das Porträt eines Künstlers, der immer auf der Suche nach einem unaufhörlichen Experiment war, das vom „Diktat des Unbewussten“ und dem Wunsch nach Unendlichkeit geleitet wird, eines Künstlers, der stets ebenso neu und offen für die Welt war, wie bereit zu Kooperationen aller Art. Dabei war er unter den Surrealisten wohl der am wenigstens doktrinäre. Bewegt sprach Galerist Peter Femfert darüber in seiner Begrüßungsrede, wie sehr er sich in seiner langjährigen Galerietätigkeit dem Werk und sogar auch der Familie des Künstlers verbunden fühle.
Gelungene Kooperation: v.l.: Diego Masson und Tochter Sonia, Kuratorin Elke Mohr, Laudator Roger Diederen, Direktor der Hypo-Kulturstiftung München, Galerist Peter Femfert, Foto: Petra Kammann
Massons Sohn Diego Masson, der fabelhafte Dirigent, der u.a. auch Komposition in Paris studierte und mit Pierre Boulez, Mauricio Kagel oder Stockhausen zusammenarbeitete, in Frankfurt aber auch mit dem Ensemble Modern und der 1981 das Eröffnungskonzert bei der Wiedereröffnung der Alten Oper dirigierte, war eigens mit seiner jüngsten Tochter Sonia aus Paris angereist. Zweifellos auch ein Anlass für den französischen Generalkonsul S.E. Nicolas Bergeret, gerade in Frankfurt neu im Amt, zur Vernissage zu kommen. Für DIE GALERIE ist es inzwischen die sechste Ausstellung zu André Masson. Dank der erfahrenen Kuratorin Elke Mohr wurde es zudem eine wunderbare Retrospektive von Massons Lebenswerk mit museumsreifen Exponaten.
Diego Masson und Tochter Sonia vor den „kalligrafischen“ Werken Massons, Foto: Petra Kammann
In der klug zusammengestellten Schau begegnen wir somit den verschiedensten Schaffensphasen André Massons, die im fruchtbaren Austausch mit den zukunftsweisenden Künstlern, Dichtern und Denkern seiner Zeit entstanden: angefangen vom Frühwerk, den vom Kubismus geprägten Eindrücken südfranzösischer Landschaften, von seiner Erfindung des „Dessin automatique„, der „automatischen Zeichnung“ und der „Sandbilder“ bis hin zu den „Forêts“, die Wälder, die er nach seinen traumatischen Erfahrungen im Ersten Weltkrieg malte, dann Wege aus seiner spanischen Periode und seinem amerikanischen Exil. Der freie Geist, der „Rebell des Surrealismus“, war in der Vichy-Zeit als Mussolini- Hitler- und Franco- Oppositioneller bekannt und konnte dank des Engagements von Varian Fry (1907-1967), dem inzwischen legendären amerikanischen Exilantenretter, von Marseille aus über Martinique in die USA gelangen. Und das samt Frau und zwei Söhnen, darunter der in Frankfurt anwesende inzwischen 89jährige Diego. Bestimmt war André Masson von den existentiellen Fragen des Lebens und den traumatischen Erfahrungen des ihm nun absurd erscheinenden nochmaligen Weltkriegs.
André Masson, Oradour, 1944 (derzeit in DIE GALERIE)
Neben einer Reihe von Gemälden und Zeichnungen, die Themen wie Krieg, Gewalt und Tod künstlerisch verschlüsselt visualisieren, und die derzeitig in der Frankfurter Galerie ausgestellt sind, erinnert ein herausragendes Exponat Oradour gleichsam als Mahnmal an das verheerende Massaker der SS 1944 in dem kleinen Dorf Oradour-sur-Glane im französischen Zentralmassiv, wo 643 Männer, Frauen und Kinder bestialisch ermordet wurden. Das Leben des wehrlosen Dorfes wurde quasi an einem Tag ausgelöscht.
Aus dieser Nachricht entstand so im fernen Amerika im Exil ein sehr ausdrucksstarkes Bild: Ein wuchtiger, völlig in sich versunkener, seitlich liegender Kopf, umgeben von grau-blauen Pinsellagen, stellt den Schmerz eines Mannes dar, dessen Gesichtszüge kaum mehr identifizierbar sind und dessen Identität ebenso erloschen scheint wie seine Möglichkeit, der Erschöpfung noch Widerstand entgegenzusetzen. Die angedeuteten roten Spuren von Blut und vom Feuer lassen die grausame zurückliegende Zerstörung nur erahnen. Ein Gemälde, das in Deutschland noch nie gezeigt wurde. Dabei heute, 80 Jahre später, erfährt die Auseinandersetzung mit dem Thema eine aktuelle Brisanz.
Bestimmend in dieser Phase sind auch die tragischen Gestalten aus der griechischen Mythologie, während die Fäden seiner frühen Beschäftigung mit der chinesischen Kalligrafie, die Masson in seiner amerikanischen Periode des Exils wieder aufnimmt, abstrakt, gestisch und informel werden und er dort der klassischen Mythologie eine Art „Mythologie der Natur“ gegenüberstellt.
Sonia Masson im Gespräch mit dem französischen Generalkonsul Nicolas Bergeret, Foto: Petra Kammann
Im Spätwerk schließlich findet Masson dann zu seiner ursprünglich figürlich narrativen Bildsprache zurück. Masson, ein Maler, der stets mit neuen Techniken experimentierte und ein hervorragender Zeichner war, war aber auch Bildhauer, Bühnenbildner für Theater und Oper, Kunstkritiker, unersättlicher Leser mit enzyklopädischem Wissen, Liebhaber der Mythologie sowie der westlichen und fernöstlichen Philosophie, Dichter und ein bemerkenswerter Schriftsteller, wovon seine jüngste, bei der Vernissage anwesende Enkeltochter Sonia Masson bewegt berichtete. Mit ihrer klaren Stimme bringt sie an verschiedenen Orten seine Texte zu Gehör. Sie kümmert sich nach dem Tode von Diegos Frau Guite Masson um die Comité André Masson.
Die Auswahl der Exponate in der Frankfurter Schau geht bis hin zu von altchinesischer Malerei inspirierten Bildern, die Masson in den 1960er Jahren in Aix-en-Provence schuf. Die Retrospektive zeigt die verschiedensten Facetten von André Massons Arbeit. Zweifellos ist sie Ausdruck seiner prägenden Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, dessen Risse nicht so leicht einfach wieder gekittet werden konnten. Dennoch verströmen sie eine große Kraft, Energie und einen festen Lebenswillen. Und sie enthalten musikalisch-schwingende Elemente. Manche der Chiffren scheinen förmlich zu tanzen.
Sohn und Enkeltochter André Massons Diego Masson und Sonia Masson, Foto: Petra Kammann
Sohn und Enkeltochter empfinden die Ausstellung trotz aller Vielfältigkeit als kohärent. Ob die Malerei die Musik des Sohnes beeinflusst habe und wo es die verbindenden Elemente geben könne? Sonia Masson ist davon überzeugt. Vielleicht im „Mouvement et rhythme“, sagt sie. „Bewegung und Rhythmus“ kann man daher als gestalterisch verbindende Elemente zwischen Musik und Malerei verstehen. Man denke nur an „Die Zwitschermaschine“ von Paul Klee… Vater Diego Masson ergänzt auf meine Nachfrage leicht amüsiert. Sein Vater habe während des Arbeitens immer gesungen, manchmal auch mit seinem „falschen Deutsch“. Aber er habe Goethe, Kleist, Nietzsche, die Romantiker und die Musik geliebt und immer wieder Schubert, Schumann gehört, auch Wagner, später sogar in Bayreuth, wo auch sein Sohn dirigieren sollte. Aber das ist eine andere Geschichte, und ist nicht das Leben voller Widersprüche?
ANDRÉ MASSON
La mémoire du monde | Das Gedächtnis der Welt
Bis 20. Februar 2025
DIE GALERIE
Grüneburgweg 123
60323 Frankfurt am Main
André Masson (1896-1987)
Der französische Künstler André Masson wurde am 4. Januar 1896 in Balagny-sur-Thérain (Oise) geboren wurde. Er verbrachte seine Kindheit in Brüssel und wurde dannzunächst professioneller Stickerei-Designer in Belgien.
1912 zog er nach Paris. Während des Ersten Weltkriegs wurde er auf dem Chemin des Dames schwer verwundet. Er wird sein ganzes Leben lang eine tiefe Abneigung gegen den Krieg beibehalten. Nach dem Krieg teilte er ein Atelier mit Miró, komponiert seine ersten kubistischen Bilder, besucht viele Künstler und freundete sich mit Roland Tual und Max Jacob an.
1923 lernt er die ersten Surrealisten kennen und schließt sich mit Antonin Artaud, Miro, Georges Limbour und Michel Leiris der surrealistischen Revolution an. 1924 lernte er Georges Bataille kennen, mit dem ihn sein ganzes Leben lang eine tiefe Freundschaft verbinden wird.
1928 illustrierte er den schwefelhaltigen Text Histoire de l’œil von Georges Bataille unter dem Pseudonym Lord Auch. Im selben Jahr illustriert er Justine de Sade.
1929 trennt er sich von André Breton.
1931 illustriert er mit Kaltnadel den Text von Georges Bataille: Zirbeldrüsenauge Dossier. Der Sonnenanus.
Von 1934 bis 1936 lebte er in Spanien, dann nahm er von 1937 bis 1939 am Abenteuer der Zeitschrift Acéphale teil, trat aber nicht dem Geheimbund von Bataille bei. Sein Stil scheint vom Expressionismus beeinflusst zu sein. Er fertigt Zeichnungen in Form von „Serien“ an: Schicksal der Tiere; Massaker; imaginäre Porträts.
1940 gelangt er dank Varian Fry in die Vereinigten Staaten an, um dem Krieg zu entgehen, und trifft dort auf André Breton.
1945 kehrt er nach Frankreich zurück, wo er zahlreiche Theaterkulissen illustriert.
1954 erhält er den Nationalen Kunstpreis.
1955-1964 ist er Teilnehmer der Kasseler documenta 1 (1955), der documenta II (1959) sowie der documenta III (1964).
1965 malt er die Decke des Odéon-Theaters in Paris.
Am 28. Oktober 1987 stirbt André Masson in Paris.
Diego Masson, der Dirigent
Diego Masson, geb. 1935, studierte am Conservatoire de Paris, war Schlagzeuger bei Domaine Musicale und gründete 1966 das Ensemble Musique Vivante. Nach seinem Erfolg als Musikdirektor der Oper Marseille in den 1970er Jahren beginnt Diego Massons eine internationale Karriere als Dirigent.
Er dirigiert das BBC Symphony Orchestra, BBC Philharmonic Orchestra, BBC Scottish Symphony Orchestra, Hallé Orchestra, Scottish Chamber Orchestra, Philharmonia Orchestra, London Sinfonietta, Sinfonieorchester Berlin, Stuttgarter Kammerorchester, Orchestre de Radio France, Orchestre de la Suisse Romande, Stavanger Symphonieorchester, Avanti, Budapest Festival Orchestra, Bergen Philharmonie, Netherlands Radio Philharmonic, Helsinki Philharmonic Orchestra, Residentie Orkest.
Er tritt mit dem Ensemble Modern bei der Musik-Biennale Berlin auf, dirigiert Greek von Mark Anthony Turnage in der Queen Elizabeth Hall in London. Er unternimmt Konzerttourneen durch Großbritannien mit der London Sinfonietta sowie mit der Birmingham Contemporary Music Group, mit der er auch beim Aldeburgh Festival auftritt.
Mit dem Nash Ensemble konzertiert er u. a. beim Poulenc Jubiläumskonzert in der Londoner Wigmore Hall, bei Aufführungen von Luciano Berios Folksongs im Barbican Center und der Symphony Hall in Birmingham, bei Wien Modern, beim WDR Köln und bei den BBC Promenade Concerts.