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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Pina Bauschs „Kontakthof“ mit den Ensemblemitgliedern der Premiere von 1978

Kein Stillstand – Leben. Ein grandioser Abend

„Echoes of ’78“ in Wuppertal

Von Simone Hamm

„Kontakthof“ aus dem Jahre 1978 ist eines von Pina Bauschs wichtigsten Werken, eine der berühmtesten Choreografien ihres Tanztheaters. Richtungsweisend. Rebellisch. Kraftvoll. Den Graben zwischen Bühne und Publikum einreißend.

KontakthofEchoes87,v.l.n.r.:Josephine Ann Endicott, John Giffin, Lutz Förster, Foto: Ursula Kaufmann

Ein Tanzsaal. Tänzer und Tänzerinnen sitzen auf Holzstühlen am Rand. Dann tanzen sie zu Schlagern der Dreißiger Jahre: „Du bist nicht die erste, Du musst schon verzeih’n“. Sie fassen sich zärtlich an, streicheln sich an den Ohren. Die Berührungen werden gieriger, werden handgreiflich, aggressiv. Liebe, Leidenschaft, Schmerz, auch Gewalt.

Wie eine Puppe gleitet eine Tänzerin durch viele Männerarme.

Eine andere Tänzerin geht aufs Publikum zu und erbittet zwanzig Pfennige. Sehr ernst setzt sie sich rittlings auf ein Schaukelpferd und beginnt zu reiten.

Eine ohnmächtige und eine mächtige Frau. Der Ballsaal als Kontakthof und als Kampfarena.

Die Tänzer wenden sich ans Publikum und sprechen es an, erzählen von sich. Das war vollkommen neu, ehrlich, niemals peinlich.

v.l.n.r.:Anne Martin, Josephine Ann Endicott, Elisabeth Clarke, Arthur Rosenfeld, Meryl Tankard, Ed Kortlandt, John Giffin, Lutz Förster, Beatrice Libonati, Foto: Ursula Kaufmann

Pina Bausch hat sich immer gewünscht, dieses Stück Jahrzehnte später noch einmal aufzuführen – mit denselben Tänzern. Viele, die damals beteiligt waren, können nicht mehr tanzen. Einige leben nicht mehr. Meryl Tankard, die einst auch mittanzte und die später eine Ausbildung zur Filmregisseurin gemacht hat, wagte es dennoch. Neun ehemalige Kontakthoftänzer, die jüngste 69, der älteste fast achtzig, machen mit.

„ Echoes of ’78 – Kontakthof“ feierte seine Premiere in Wuppertal – als Produktion von Sadler’s Wells, der Pina Bausch Foundation und dem Tanztheater Wuppertal.

Meryl Tankart sagt, dies sei die anspruchsvollste, ungewöhnlichste, aufregendste  Produktion, die sie je gemacht hat. Sie kürzte das dreistündige Stück stark, auf gute anderthalb Stunden, ein. Sie hat die fehlenden Tänzer der ursprünglich 20-köpfigen Kompanie nicht durch Neue ausgetauscht.

Sie will sie nicht ersetzen, sondern, im Gegenteil, ihre Abwesenheit spüren lassen. Rolf Borzig, Partner von Pina Bausch, Bühnenbildner und Kostümbildner, hat Aufführungen des „Kontakthofs“ in schwarz weiß gefilmt. Diese Aufnahmen projizierte Meryl Tankard überlebensgroß auf die Bühne Die älteren Tänzer tanzten also mit den Projektionen ihres jüngeren Ichs. Das Ergebnis ist atemberaubend.

Eine überaus komplexe Synthese aus Vergangenem und Gegenwärtigen. Ein Zusammenspiel aus Tanzfilm und Livetanz. Tänzer, die mit ihrem früherem Ich interagieren. Das kann enorm witzig sein und unglaublich traurig.

v.l.n.r.:Arthur Rosenfeld, Josephine Ann Endicott, Beatrice Libonati, Lutz Förster, John Giffin, Anne Martin, Meryl Tankard, Foto: Uwe Stratmann

Die Tänzer sitzen dem Publikum einmal vis à vis gegenüber. Sie sagen ihre Namen, sagen woher sie kommen, was sie fühlen, was sie sich wünschen. Kurz und knapp. Eine Tänzerin sagt, sie hätte gern Kinder gehabt. Sie denke jeden Tag an ihre Mutter.

Lutz Förster wäre gern gesünder und weniger stur und im übrigen sei jetzt Pause. Beatrice Libonati erzählt, dass ihr Jan jeden Tag fehle. Jan ist Jan Minarik, 2022 gestorben, wichtiger Tänzer im Ensemble Pina Bauschs.

Nach der Pause werden die Filmaufnahmen nicht mehr auf die Bühne projiziert. Ein Film von „Kontakthof“ wird gezeigt.

Die Abwesenheit eines großen Teiles der Kompanie wird noch schmerzlicher bewusst. Tänzer tanzen allein, wo sie im Film den Arm um ihre Partner legen. Diese Leerstelle können die die Zuschauer nur selbst mit Phantasie füllen.

Nur zweimal, als der Tanz wild wird und die Haare fliegen und als zwei Tänzer sich ausziehen, ist nur der alte Film zu sehen. Keiner soll machen müssen, was er nicht kann oder nicht will. Und doch: Die neun Tänzer tanzen phänomenal. Präzise. Ausdrucksstark. Als wollten sie zeigen, dass Alter nicht Stillstand bedeutet. Dass Verlust nicht das Ende ist.

Glücklich und erschöpft verneigen sie sich. Und selten dürften Zuschauer nach nicht enden wollendem Applaus so beseelt und beflügelt aus einer Tanzaufführung gekommen sein. Wir alle wussten, wir haben eine Sternstunde erlebt.

P.S. Die Namen in den Bildunterschriften beziehen sich auf die Tänzer und Tänzerinnen auf der Bühne (sie sind nicht immer identisch mit den Personen in den Videoprojektionen). 

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