Anthropolis, ein Theatermarathon herausragender Schauspieler und Schauspielerinnen am Deutschen Schauspielhaus Hamburg
Die Götter sind noch da
Von Walter H. Krämer
Gründungsmythen europäischer Zivilisationsgeschichte in Theben auf der Grundlage der klassischen antiken Tragödien von Aischylos, Sophokles und Euripides. Ein Theatermarathon in fünf Teilen „Prolog/Dionysos“, „Laios“, „Ödipus“, “Iokaste“ und „Antigone“, inszeniert von Karin Beier, bearbeitetet von Roland Schimmelpfennig oder wie im Falle von „Laios“ neu verfasst.
Prolog / Dionysos: Lina Beckmann, Ernst Stötzner (im Hintergrund: Mehmet Atesci) , Foto: Monika Rittershaus
Im Rückblick auf die Theatersaison 2023/24 bleibt „Anthropolis“ – eine fünfteilige Serie über Aufstieg und Fall der Stadt Theben in der Inszenierung von Karin Beier am Deutschen Schauspielhaus Hamburg – in bester Erinnerung. Fünf eigenständige und letztlich doch zusammenhängende Theaterabende. Angeboten auch als Theatermarathon verteilt über drei Tage an Wochenenden.
Für Karin Beier ist die Beschäftigung mit griechischen Stoffen eine Herzensangelegenheit. In einem ihrer zahlreichen Interviews im Vorfeld der Serie äußerte sie sich dazu wie folgt: „Das hat ganz viel damit zu tun, dass Euripides, Aischylos und Sophokles aus einer jungen Demokratie kamen, die 70 Jahre lang im antiken Griechenland bestanden hat. Ihre Texte kann man lesen als eine Art Aufklärungsversuch, und sie haben zum ersten Mal den Menschen und die damit verbundenen Krisen in den Mittelpunkt ihrer Stücke gestellt.“
Sucht man nach Gründungsmythen europäischer Zivilisationsgeschichte, wird man in der Stadt Theben fündig. Antigoneund Ödipus gibt es gleich zwei Figuren, die in der Literatur, der Philosophie und der Psychologie bis heute zentrale Rollen spielen. Das gilt auch für Dionysos, Laios und Iokaste. Die Konflikte, die um diese sagenhaften Gestalten kreisen, haben an Aktualität nichts verloren und verweisen auf den Zustand moderner Gesellschaften – weisen direkt hinein in unsere Gegenwart.
Die fünf Teile tragen die Titel „Prolog/Dionysos“, „Laios“, „Ödipus“, “Iokaste“ und „Antigone“. Geschrieben wurden die Texte von dem Dramatiker Roland Schimmelpfennig auf der Grundlage der antiken Tragödien von Aischylos, Sophokles und Euripides. Die Texte wurden teils überschrieben oder, wie im Falle von „Laios“ – für den es keine überlieferten Vorlagen gibt – neu verfasst.
Sieht man die fünf Teile hintereinander, wird man tief in diese Welt der Mythen hineingezogen, begreift den Reichtum antiker Tragödien und ihre Bedeutung auch für die heutige Zeit. Die Antike ist immer noch lebendig – ihre Geschichten erzählen die Geschichte unserer Zivilisation und stellen die Frage, wie und wer wir eigentlich sind und wie wir wurden, was wir sind. Zudem transportieren sie politische Inhalte, die unserer Zeit entsprechen.
Dass dieser Zyklus antiker Dramen so erfolgreich gestartet ist und vom Publikum und der Kritik begeistert aufgenommen wurde, ist auch das Ergebnis der künstlerischen Risikobereitschaft seitens der Regisseurin und Intendantin Karin Beyer. Sie wagte es, die Kräfte ihres Hauses auf diesen Zyklus zu fokussieren; die politische Schärfe des Theaters, dieser antiken Dramen erkennbar zu machen und sich mit einem hervorragenden Ensemble in gesellschaftliche Diskurse einzumischen.
Im Gespräch mit Simon Strauss erläutert die Regisseurin Karin Beier ihre Faszination für antike Dramen: „Vielleicht führen uns die Griechen vor, wie rissig unser modernes Fundament einer von allem Irrationalen befreiten Welt ist“. Und Roland Schimmelpfennig ergänzt: „Bei den griechischen Stoffen bewegen wir uns auf einem Minenfeld ganz unterschiedlicher Werte. Die Götter sind noch da. Der Mensch ist noch Tier, wird aber auch schon König. Ist sich halb selbst, halb schon der Gesellschaft verpflichtet. Das ist alles noch ein sehr irrationales Terrain. Ein unglaublich aufregendes Labyrinth.“
Die Spielfreude und die Fähigkeiten der Schauspieler*innen tragen die fünf Abende auf ganz unterschiedliche Weise. Allen voran Lina Beckmann, die in Teil 1 „Prolog/ Dionysos“ und Teil 2 „Laios“ begeistert – und dafür auch mit 26 von 46 Kritiker*innen zur besten Schauspielerin der Spielzeit 2023/2024 gekürt worden ist. Nachzulesen im Jahrbuch 2024 der Zeitschrift Theater heute.
Roland Schimmelpfennig verweist in seiner Bearbeitung der Vorgeschichte Thebens und des Dionysos auf Verbindungen in die Gegenwart und hinterfragt zugleich die antiken Überlieferungen. Kein Halt nirgends – nur Zweifel und Verunsicherung. Was können wir glauben? Was ist die Wahrheit und welche Bedeutung gewinnt die Kunst und das Theater in diesem Zusammenhang?
Nachdem Pentheus – unter Zuhilfenahme von Wein – durch Dionysos dazu verführt wurde, als Frau das wilde Treiben in den Wäldern zu verfolgen, wird er von der eigenen Mutter grausam getötet. Währenddessen trommelt auf der Bühne eine große Gruppe von Taiki Trommler*innen auf ihren teils riesigen Instrumenten einen immer schnelleren Rhythmus. Ohrenbetäubend und mitreißend. Karin Beier setzt hier auf starke Effekte, um die dramatischen Wendepunkte der Tragödie zu kennzeichnen.
Am Ende des ersten Teils „Prolog/Dionysos“ zeigt Lina Beckmann eine grandios verwirrte Agaue, die langsam erkennt, dass sie ihren eigenen Sohn zerfleischt hat. Immer wieder versucht sie, die einzelnen Teile seiner Leiche neu zusammenzusetzen – ein beeindruckender und zugleich schauerlicher Vorgang.
Roland Schimmelpfennig siedelt seine Geschichte zwischen den Zeiten an und verbindet – wie es im Stück heißt: „das Morgen mit dem Heute und dem Gestern.“
Lina Beckmann in Laios, Foto: Thomas Aurin/ Monika Rittershaus
Im zweiten Teil der Antiken-Serie „Laios“ ist Lina Beckmann allein auf der Bühne und schlüpft gleich in mehrere Rollen und wird am Ende – verdient – mit Standing Ovations gefeiert. Lina Beckmann ist eine moderne Schauspielerin, die viele Facetten ihres Könnens zeigt und zeigen kann.
Sie spielt mit dem Publikum, wechselt von der Komödie zur Tragödie und wieder zurück, sät im Kopf des Publikums Zweifel, welche Geschichte denn nun stimmen mag, und evoziert allein mit Hilfe von Worten, Mimik und Gestik vor dem inneren Auge kraftvolle Bilder und Szenen.
Devid Striesow als Ödipus, Foto: Thomas Aurin
„Ödipus“ nach Sophokles, der dritte Teil von „Anthropolis“– ist in der Fassung von Roland Schimmelpfennig ein Psychothriller der besonderen Art mit einem herausragenden Devid Striesow. Ein Mann, der blindwütig nach der Wahrheit sucht und erst spät begreift, dass er der gesuchte Mörder seines Vaters und der Ehemann seiner eigenen Mutter ist.
Dieser Theaterabend spricht von der Anmaßung, schlauer sein zu wollen als die Götter. Zu Beginn des Abends betritt die Schauspielerin Karin Neuhäuser als Priesterin die Bühne und erzählt vom Orakel von Delphi – auch sie in ihrer Rolle ein sprachlicher und erzählerischer Höhepunkt: schnoddrig, frech und direkt.
Ödipus, einer der anpackt, der Erde schaufelt – selbst im schickem Anzug. Ganz und gar ein vom Erfolg verwöhnter Politiker. Aber die Seuche, die über die Stadt hereingebrochen ist, macht ihm Sorgen. Er sucht nach der Wahrheit – aber befragt nicht das Orakel. Er doch nicht, ein der Vernunft verfallener Herrscher. Teiresias, der blinde Seher, blickt tiefer und weiß, um die Seuche zu beenden, muss ein altes Unrecht gesühnt werden.
Im oberen Rang des Deutschen Schauspielhauses Hamburg steht ein 40-stimmiger Chor – angesichts der Katastrophe der lautstarke Schrei nach den Göttern. Der Chor kommentiert das Streben von Ödipus nach Wahrheit und das „groovt“ gewaltig durch den Theaterraum. König Ödipus, als er die Wahrheit erkennt, wird zum gackernden Diktator, zum Clown und ganz am Ende zum unerlösten und hilflosen Kind mit zerstochenen Augen.
Nicht immer bringt die Suche nach Wahrheit Erlösung. Zurück bleibt Trauer über den Menschen Ödipus und das heisere, bellende Lachen von Karin Neuhäuser, die mit Theaternebel in die Tiefe des Raumes geht.
„Iokaste“ Julia Wieninger, Maximilian Scheidt, Josefine IsraelFoto: (C) Thomas Aurin
Der vierte Teil von „Anthropolis“ ist der Königinmutter „Iokaste“ gewidmet und dieser Teil rückt augenscheinlich ganz nah an heutige Wirklichkeiten. „Es muss Frieden geben können. Und gibt es keinen Frieden, dann muss Frieden verhandelt werden“ ist da zu hören und zu lesen.
Iokaste sitzt mit ihren beiden Söhnen Polyneikes und Eteokles am Verhandlungstisch. Immer und immer wieder kehren die drei dahin zurück. Beide wollen Krieg. Der eine, weil er weiter herrschen will, der andere, weil er sich um seine Herrschaft betrogen fühlt.
Immer wieder fordert Iokaste die Söhne zu Verhandlungen auf, immer wieder mit den gleichen Worten in Wiederholungsschleifen. Die Geschichte dreht sich im Kreis. Keiner der Brüder ist bereit, auf etwas zu verzichten, sie hören nicht auf ihre Mutter: „Diesen Krieg kann niemand gewinnen, denn wer ihn gewinnt, verliert ihn dennoch.“
Wer denkt da nicht an den Krieg Russlands gegen die Ukraine und kommt dabei ins Grübeln. In diesem Teil zeigt sich eine Welt am Abgrund und Karin Beier greift stimmig auf postdramatische Theatermittel zurück. Ein starker Abend mit Julia Wieninger als Iokaste, Maximilian Scheidt als Eteokles und Paul Behren als Polyneikes.
Antigone. ANTHROPOLIS V von Sophokles, Foto: (C) Thomas Aurin
Mit Michael Wittenborn als Erzähler beginnt der fünfteilige Zyklus und mit ihm schließt sich in „Antigone“ der Kreis. Lilith Stangenberg spielt die Antigone als eine energiegeladene junge Frau, die sich fast in den Wahnsinn treibt und gegen die Macht in Person Kreons (Ernst Stötzner) anrennt.
Für sie gelten keine menschlichen Gesetze – sie dient den Göttern. Auch wenn sie dafür mit ihrem Leben bezahlen muss. Dieser Abend setzt auf klassische Theatermittel und wirkt mit seinen Dialogen, Monologen, Figuren und Situationen gegenüber den anderen Teilen auf wohltuende Weise „altmodisch“.
Lilith Stangenberg gibt hier einen anderen Typ Schauspielerin als beispielsweise Lina Beckmann, die in „Laios“ gekonnt mit vielen Theatermitteln und dem Publikum spielt. Lilith Stangenberg geht über die Einfühlung, taucht ganz in ihre Figur ein und bleibt ganz bei sich – das Publikum außen vor. Eine fast „altmodische“ Verkörperung einer Rolle, aber eine, die funktioniert und beim Zuschauen erschüttert. Man leidet förmlich mit.
So ist dieser Zyklus auch eine Lehrstunde in Sachen Theaterformen und Spielweisen: modern, archaisch, postdramatisch, Spiel mit dem Publikum oder hinter der sogenannten vierten Wand – aber immer auf höchstem Niveau.
„Ungeheuer ist viel, aber nichts ist ungeheurer als der Mensch“ – dieser Satz am Ende von „Antigone“ – und damit auch am Ende des fünfteiligen „Marathons“ – hallt durch den Theaterraum und wirkt lange nach. Thematisiert unsere Verantwortung für den Planeten und das Leben auf ihm.
Ein Theatermarathon, der herausragende Schauspieler*innen auf der Bühne agieren lässt. Unter anderen Lina Beckmann, Ernst Stötzner, Michael Wittenborn, Carlo Ljubek, Devid Striesow, Karin Neuhäuser, Julia Wieninger, Christoph Jöde, Josefine Israel, Lilith Stangenberg und Ute Hannig. Eine Regisseurin, die sich nicht scheut, ein lebendiges Pferd auf die Bühne zu bringen und eine tote Kuh – nicht echt! – auf der Bühne zu platzieren –, die einen vielstimmigen Chor erklingen lässt sowie eine Trommler*innengruppe, die lautstark die von Dionysos verführten Frauen zur Raserei treibt. Eine Inszenierung in der Steine geschleppt, Steine zerschlagen und Sand geschippt wird. Wo Wein getrunken und verkostet wird, wo verhandelt, gemordet, und gefleht wird. Mal performativ, mal postdramatisch, mal als Erzählung, mal mit klassischen Theatermitteln. Mit Masken und viel körperlichem Einsatz. Auch Videoaufnahmen fehlen nicht.
Ein reicher Kosmos an Geschichten und Bildern also, der uns, obwohl schon tausend Jahr alt, ins Heute katapultiert.
Karin Beier und allen Beteiligten sei Dank für diese Momente puren Theaterglücks. Nicht unerwähnt bleiben soll daher der Bühnenbildner Johannes Schütz, die Kostümbildnerin Wicke Naujoks, Lichtdesignerin Annette ter Meulen, die Dramaturgin Sybyille Meier und Jörg Gollasch, der verantwortlich zeichnet für die Musik. Alle Elemente wirken in diesen fünf Inszenierungen wunderbar stimmig zusammen, ergänzen sich gegenseitig und tragen so bei zu dem Gelingen der einzelnen Inszenierungen.
Alle Produktionsfotos © Monika Rittershaus
Den Begriff „Anthropolis“ für diese fünfteilige Serie erklärt das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg wie folgt: „Analog zum Begriff des „Anthropozän“, dem Zeitalter des Menschen, wurde die Serie „Anthropolis“ konzipiert, die sich den „Ungeheuern“ innerhalb und außerhalb des zivilisatorischen Bollwerks „Stadt“ stellen will.“
https://schauspielhaus.de/stuecke/anthropolis-marathon
ANTHROPOLIS-Marathon im kommenden Jahr
Eine Serie in fünf Folgen: Prolog/Dionysos – Laios – Ödipus – Iokaste – Antigone
17/1 bis 19/1/2025:
Freitag, 19.30 Uhr »Prolog/Dionysos«
Samstag, 16.00 Uhr »Laios«
Samstag, 20.00 »Ödipus«
Sonntag, 16.00 Uhr »Iokaste«
Sonntag, 20.00 Uhr »Antigone«
7/2 bis 9/2/2025:
Freitag, 19.30 Uhr »Prolog/Dionysos«
Samstag, 16.00 Uhr »Laios«
Samstag, 20.00 »Ödipus«
Sonntag, 16.00 Uhr »Iokaste«
Sonntag, 20.00 Uhr »Antigone«
14/3 bis 16/3/2025:
Freitag, 19.30 Uhr »Prolog/Dionysos«
Samstag, 16.00 Uhr »Laios«
Samstag, 20.00 »Ödipus«
Sonntag, 16.00 Uhr »Iokaste«
Sonntag, 20.00 Uhr »Antigone«
4/4 bis 6/4/2025:
Freitag, 19.30 Uhr »Prolog/Dionysos«
Samstag, 16.00 Uhr »Laios«
Samstag, 20.00 »Ödipus«
Sonntag, 16.00 Uhr »Iokaste«
Sonntag, 20.00 Uhr »Antigone«
7/6 bis 9/6/2025 (Pfingstwochenende):
Samstag, 19.30 Uhr »Prolog/Dionysos«
Sonntag, 16.00 Uhr »Laios«
Sonntag, 20.00 »Ödipus«
Monntag, 16.00 Uhr »Iokaste«
Montag, 20.00 Uhr »Antigone«