Marseille: Auf den Spuren der Exilanten im Vichy-Regime
Hafenstadt zwischen Faszination, Widerstand, Bangen und Hoffnung
Petra Kammann auf den Spuren der Exil-Literaten (2)
Im Laufe seiner wechselhaften Geschichte, angefangen von der griechischen Siedlung Massalia bis in die Gegenwart, war die südliche Hafenstadt am Mittelmeer immer auch ein Knoten- und Kreuzungspunkt verschiedenster Nationalitäten und Kulturen. Marseille ist in jeglicher Hinsicht atemberaubend, gleichzeitig alt und neu, bisweilen bizarr, verschwenderisch und schön. „Marseille ist das strahlende gewürfelte Wappen, das die Provence dem Mittelmeer entgegenhält. Hinter ihr liegt die alte Landschaft der Troubadoure und der Félibres. Bei Aix beginnt sie – steckt schon mitten drinnen in diesem Irrgarten bemooster Steinfontänen. Wasserzauber zieht sich durch die ganze Provence“, schreibt Walter Benjamin noch 1926 für die „Cahiers du Sud“, einer Literaturzeitschrift von offenem europäischem Geist. Da wusste der vielfach gebildete Kulturkritiker noch nicht, was ihm später zustoßen würde. 1940 flanierte er durch die engen Gassen und über die Boulevards, beobachtete das Treiben in den Hafenkneipen. Marseille war der letzte französische „freie“ Überseehafen, aus dem Schiffe mit Flüchtlingen erst ab 1941 in Richtung Karibik auslaufen konnten, er wurde für ihn und andere Exilanten bestimmend, Sprungbrett ins Exil, zur letzten Hoffnung auf Flucht und Überleben oder auch nicht…..
Marseille, die alte griechisch-phönizische Hafenstadt heute, Foto: Petra Kammann
Nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten im Jahre 1933 hatten bereits einige Tausend Menschen das Deutsche Reich verlassen. Manche gingen zunächst nach Prag und London, die größte Zahl an Exilantinnen und Exilanten aus dem Deutschen Reich zog es aber aus kulturellen wie aus politischen Gründen nach Frankreich. Das Nachbarland, das den Geist der Freiheit versprühte, war für Oppositionelle attraktiv und dazu leicht erreichbar. So lebten zahlreiche Künstlerinnen und Künstler, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Autorinnen und Autoren zunächst vor allem in der quirligen Metropole Paris, oder wie auch schon berichtet, im Süden Frankreichs, wo das Fischerdorf Sanary-sur-Mer an der Côte d’Azur zu einem wichtigen Fluchtort für sie wurde. Dort konnten sie Netze knüpfen. Was die Freigeister verband, war die Sprache, vor allem aber die gemeinsame Opposition zum Nationalsozialismus, selbst, wenn sie zuvor sogar unpolitisch gewesen waren.
Doch nach dem Einmarsch der Deutschen in Paris und der Kapitulation Frankreichs war Schluss damit. Ab 1940 versuchten sie, über das nun von Maréchal Philippe Pétain regierte Vichy-Frankreich verstärkt in die Freiheit zu entkommen, von Marseille aus oder zunächst über den Landweg nach Spanien und Portugal, um dann von Lissabon aus mit Schiffen nach Übersee zu gelangen. Immerhin waren die Flüchtlinge bereits als „Étrangers indésirables“, also als unerwünschte Ausländer gejagt oder schon in den Internierungslagern festgenommen worden. Ohne passende Papiere waren sie verloren.
Alain Paire, Galerist, Bouquiniste und Journalist, ein Kenner der Szene, hat sich mit den Künstlern und Literaten in Marseille beschäftigt, Foto: Petra Kammann
Auf der Spurensuche nach Orten oder Personen trafen wir – eine kleine Gruppe von Journalisten – auf den Kunstkritiker und kenntnisreichen Geschichtenerzähler Alain Paire, der fast zwanzig Jahre lang eine Kunstgalerie mit Buchhandlung im benachbarten Aix-en-Provence führte. Seit 2013 lebt und arbeitet der „Flaneur“, für den der deutsch-jüdische Berliner Schriftsteller Franz Hessel ein Vorbild ist, nun in Marseille. Der Autor Paire hat bereits 2004 eine große Geschichte der von Jean Ballard (1893-1973) herausgegebenen bemerkenswerten Zeitschrift Cahiers du Sud (1914-1966) geschrieben, die deshalb von Bedeutung ist, weil die literarische Monatszeitschrift in diesen Jahren der deutschen Exilliteratur in Frankreich ein Forum bot und zum Knotenpunkt produktiver Verflechtungen aus dem Zusammentreffen deutscher und französischer Intellektueller wurde. So wartet etwa die deutsche Schriftstellerin Anna Seghers hier auf ihre Ausreise nach Mexiko und erzählt inspiriert davon in ihrem Roman „Transit“.
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Interessante Bücher von Alain Paire zum Thema, Foto: Petra Kammann
Mit Alain Paire schlendern wir durch das Marseille zwischen Canebière und Vieux Port von 1940/41 vorbei an dem legendären „Café au brûleur du loup“, heute „OM Café“, damals Treffpunkt der Surrealisten, weiter zum Haus auf dem Cours Jean Gallard Nummer 10. Da erinnert inzwischen ein Schild neben der Tür an die Existenz dieser fabelhaften Zeitschrift, die sich in schwierigen Zeiten um Vermittlung und Vernetzung bemühte. Im vierten Stock des Hauses war die Redaktion der „Cahiers du Sud“ beheimatet. Der Treppenaufgang im Innern muss damals abenteuerlich gewesen sein. Dramatisch war wohl auch der letzte Besuch des in seiner angeknacksten Gesundheit geschwächten Walter Benjamin dort, der herzkrank und ermattet sich abmühte, die vier Treppen durch das dustere und stinkende Treppenhaus mit allerlei Ungeziefer hinaufzusteigen. Aber oben saß die begehrte Redaktion, die auch Artikel von geschätzten Kollegen und Kolleginnen wie der politischen Theoretikerin Hannah Arendt sowie Siegfried Kracauer oder die des österreichischen Schriftstellers Soma Morgenstern veröffentlichten und die sich hier ein Stelldichein gaben.
Unweit vom Alten Hafen: die Opéra de Marseille, eine „Seelenverwandte“ des Théâtre des Champs-Élysées in Paris, Foto: Petra Kammann
Sowohl an den betroffenen Personen wie auch an den Einrichtungen und Gebäuden zeigt sich, dass Marseille mehr ist als nur Hafenstadt. So wurde schon früh der kühne Versuch unternommen, dem Kulturmonopol von Paris etwas Eigenes in Form einer literarischen Revue entgegenzusetzen, in der auch Benjamin in den Jahren der französischen Vichy-Regierung seine Beiträge noch veröffentlichen konnte. Von Benjamins letzten Tagen in der französischen Hafenstadt, in der er seine alten Bekannten traf, sind zudem zahlreiche Anekdoten überliefert. Jedoch… „Die völlige Ungewissheit über das, was der nächste Tag, was die nächste Stunde bringt, beherrscht seit vielen Wochen meine Existenz“, schreibt er, bevor er sich auf den Fluchtweg macht. Ein Einreisevisum für die USA hat er zwar, nicht aber eine Ausreisegenehmigung aus Frankreich. Auf seinem Fluchtweg über die Pyrenäen, den Lisa und Hans Fittko vor ihm getestet hatten, nahm er sich desillusioniert und entkräftet am 26. September 1940 in dem spanischen Grenzort Portbou das Leben, wohl, um seiner bevorstehenden Auslieferung an Deutschland zu entgehen. In Portbou erinnert heute ein Denkmal an ihn.
Paire vor dem Eingang des Hauses, in dem in der 4. Etage die Redaktion der „Cahiers du Sud“ arbeitete, Foto: Petra Kammann
Da der Kulturkritiker Paire wiederum 2019 für die Tageszeitung La Marseillaise etliche Künstler- und Literatenporträts verfasste (darunter solche von Walter Benjamin, Hannah Arendt, Simone Weil, Albert Camus, Franz Hessel, René Char, Viktor Brauner André Masson, Germaine Krull, Wols), sind diese kürzlich als Sammelband erschienen – bislang leider nur auf Französisch. Wegen seiner Kenntnisse auch der Bildenden Kunst ist ein Gang durch das Musée Cantini mit ihm ein Muss, selbst, wenn derzeit ein paar der Hauptwerke der Surrealisten wegen der großen Ausstellungen in Belgien und Deutschland gerade „auf Reisen“ sind. Von einigen der Protagonisten wurden Filme mit ihm gedreht, die er uns stattdessen vorführte, wie den Atmosphärischen zum 50. Geburtstag von Max Ernst in der legendären Villa air bel im Außengebiet von Marseille, das in dieser Form nicht mehr existiert.
Das Musée Cantini, ein Hôtel Particulier aus dem späten 17. Jahrhundert, wie man solche Privatresidenzen hier nennt, entwickelte sich erst nach mehreren Übernahmen durch verschiedene Familien nach dem Kauf durch den Bildhauer Jules Cantini 1936 zum Museum, als es der Stadt Marseille geschenkt wurde. Dort bekamen vor allem die Werke der unangepassten Surrealisten zwischen 1940 und 1941 wie die von Max Ernst ihre neue Heimat, ebenso wie solche von Künstlern, Schriftstellern und Antifaschisten, die vor dem Nazi-Regime geflohen waren, solche, die sich in der Villa air bel um André Breton versammelt hatten, das der Fluchthelfer Varian Fry mithilfe der finanziellen Unterstützung der reichen Amerikanerin Mary Jayne Gold für die experimentierenden und lebenslustigen Künstler gemietet hatte. Deren Werke machen gegenwärtig einen Großteil der Sammlung aus.
Blick in das Entree des Musée Cantini, Foto: Petra Kammann
Heute bewahrt das Musée Cantini eine bedeutende Sammlung von Kunst der „Moderne“ aus der Zeit von 1900 bis 1980, vor allem des Surrealismus und der Kunst der Zeit zwischen den beiden Kriegen, u.a. Werke von bekannten Künstlern wie André Derain, Fernand Léger, Pablo Picasso, Henri Matisse, Le Courbusier, Max Ernst,Joan Mirò, Jean Arp, Balthus, Alberto Giacometti, Jean Dubuffet, Antoni Tàpies, Francis Bacon und einigen anderen, aber auch besondere Fotografien der „Neuen Sachlichkeit“ wie denen von Germaine Krull, die den Pont Transbordeur, die neue Schwebebrücke am Alten Hafen in Marseille, formidabel fotografierte, bevor ihn die Deutschen zerstörten.
Wandmalereien an der Montée des Accoules im 2. Arrondissement von Marseille, Foto: Petra Kammann
Zwischen Canebière und Vieux Port quirlt das Leben. Da schlendern wir zum ältesten Viertel Marseilles „Le Panier“, das einem Palimpsest gleicht. Würde man sich durch die verschiedenen Gesteinsschichten graben, kämen vermutlich Reste der ersten antiken Siedlungen zum Vorschein. Denn in einer der ältesten Städte Frankreichs ließen sich schon vor zweieinhalbtausend Jahren erst die Griechen in einer der traumhaften Buchten der felsig schroffen Calanques nieder. Darauf folgten die Phönizier, Römer, Mauren, die ebenfalls ihre Spuren hinterließen. Von der heutigen Rue de la République aus sind die südlichen und nördlichen Stadtviertel seit der Mitte des 19. Jahrhunderts miteinander verbunden und führen durch die Passage de Lorette ins „Panier“.
Die Passage Lorette, Foto: Petra Kammann
A apropos Passagen: Hier sind sie anderer Natur als in Paris, über die Benjamin in seinem „Passagenwerk“ geschrieben und darin seine aufklärerische Geschichtsphilosophie vertreten hat. Schon Bücher von Louis Aragon und André Breton behandelten die Pariser Passagen, die Benjamin nicht nur tief beeindruckten, sondern auch stark seinen theoretischen Ansatz prägten. Die historische und soziologische Untersuchung des 19. Jahrhunderts sollte dabei helfen, die Gegenwart und ihre Krisen besser zu verstehen. Für dieses Vorhaben verband Benjamin Anleihen aus Marxismus und Psychoanalyse mit der Traumtheorie des Surrealismus sowie Forschungsarbeiten aus der Kunst- und Kulturgeschichte. „Der Kapitalismus war eine Naturerscheinung, mit der ein neuer Traumschlaf über Europa kam und in ihm eine Reaktivierung der mythischen Kräfte.“ Sammlung und Manuskript zum Thema hatte Benjamin 1940, als er vor der deutschen Wehrmacht floh, seinem Freund, dem französischen Schriftsteller Georges Bataille, anvertraut, der damals als Bibliothekar in der Bibliothèque nationale de France in Paris arbeitete und sie dort auch versteckte.
Passages des Folies Bergères, Foto: Petra Kammann
Durch die Passage de Lorette findet man also Zugang zum „Panier“. Das Innere der Passage gleicht jedoch eher einem Versteck, auch wenn hier inzwischen kleine alternative Designlädchen Platz gefunden haben. Die Passage des Folies Bergères, welche die Passage de Lorette kreuzt, war 1866 vom Second Empire zunächst aus hygienischen, dann aber auch aus ästhetischen Gesichtspunkten nach Pariser Vorbild à la Haussmann mit dem anschließenden Boulevard erbaut worden. In Marseille blieb diese neue Stadtstruktur jedoch zunächst ohne Erfolg.
Die reicheren Marseiller Bürger wollten lieber im Süden der Stadt in schönen Villen mit Meerblick wohnen statt in den – wenn auch „neuzeitlich“ mit fließendem Wasser, Elektrizität und Heizung ausgestatteten – Appartments der Stadthäuser nach Pariser Vorbild. So wohnten dort zunächst die Armen, die Häuser wurden nicht gepflegt, so dass das Viertel runterkam und verarmte. Erst seitdem Marseille von Paris aus in vier Stunden mit dem Schnellzug TGV erreichbar ist und die Stadt als Kulturhauptstadt 2013 umstrukturiert wurde, hat sich das Blatt gewendet. Entsprechend sind dort die Mietpreise wieder gestiegen. Die Armen mussten wieder weichen.
Wie frisch doch junge Sprayer die Geschichte und Stadtlandschaft wahrnehmen, Foto: Petra Kammann
Unter der Vichy-Regierung war auf Geheiß der Wehrmacht das dahinterliegende alte Hafenquartier gesprengt und wieder neu aufgebaut worden. Und in der Nachkriegszeit war lange Zeit das älteste populäre Viertel „Panier“ geprägt von solchen Bildern: herumstreunende Hunde, überquellende Mülltonnen, Geruch nach Meer und Urin, Schreie von Möwen und das Gekreisch von spielenden Kindern, die eine auch ethnisch bunt gemischte Gesellschaft repräsentierten. Ob man sich dort als Frau tagsüber überhaupt ohne männliche Begleitung bewegen konnte?
Auch eine Spur von Maghreb-Ambiente finden wir in diesem Viertel, Foto: Petra Kammann
Oft galt das Viertel als Schmuddelkind und Problemviertel der Stadt und wurde mit der Altstadt von Neapel verglichen. Mit den verschiedenen Einwanderungswellen entwickelte sich das „Panier“ aber als so etwas wie ein Stadtteil der Einwanderer, wo sich zunächst die jüngeren Zuwanderer aus Korsika, Algerien oder Italien niederließen und auch die entsprechende Außendarstellung in den kleinen Bars markierten.
Im ältesten Viertel von Marseille, im Panier, Foto: Petra Kammann
Heute strahlen die buntbemalten Hauswände und Straßencafés etwas Fröhliches, Kritisches und ironisch Belebendes, etwas animierend Anziehendes aus. Aus dem heruntergekommenen Hafenviertel wurde ein Vorzeigestadtteil mit hübschen alten Gassen, kleinen Boutiquen, Kunsthandwerkern und Cafés, in dem sich Kreative tummeln, die ihre Spuren auf den Hauswänden hinterließen. In diesem ältesten und ursprünglichsten und vielleicht auch authentischsten populären Teil Marseilles werden zwangsläufig auch die Risse und Brüche, bedingt durch durch Prekariat und Drogenkriminalität, sichtbar, die sich durch das Bild der Stadt mit rund 870 000 Menschen von überallher, darunter Unterprivilegierte und Vertriebene, ziehen.
Im „Panier“ liegt auch die alte Charité, für deren Wiederaufbau sich Corbusier einsetzte, Foto: Petra Kammann
Dann plötzlich steht man wiederum vor dem von den Deutschen zerstörten und behutsam restaurierten einstigen alten Armenhospiz, der Vieille Charité, die durch Le Corbusiers Engagement wiederaufgebaut wurde und heutzutage als Museum und Forum für vielfältige kulturelle Veranstaltungen dient.
Blick durch das wiederaufgebaute Hafenviertel auf die Schutzkirche Notre-Dame-de-la-Garde, Foto: Petra Kammann
Varian Fry, der „amerikanische Engel“ für die Exilanten zwischen 1940 und 1941
In Frankreich spielt sich 1940 ein hochdramatisches Jahr der deutschen Literaturgeschichte ab. Anna Seghers flieht mit ihren Kindern zu Fuß aus Paris. Lion Feuchtwanger sitzt gefangen in einem französischen Internierungslager, während die SS-Einheiten näherrücken. Heinrich Mann verfolgt auf einem englischen Sender die Nachrichten vom Bombenalarm in Nizza. Sie alle geraten schließlich nach Marseille, um von dort aus einen Weg in die Freiheit zu suchen. Hier übergibt Walter Benjamin seinen letzten Essay an Hannah Arendt, bevor er zur Flucht über die Pyrenäen aufbricht. Und hier kreuzen sich die Wege zahlreicher deutscher und österreichischer Schriftsteller, Intellektueller, Künstler. Hier auch riskieren der Amerikaner Varian Fry und seine Mitstreiter mutig Leib und Leben, um die Verfolgten außer Landes zu schmuggeln. In dieser düsteren Zeit herrschen größte Verzweiflung, gezeichnet von trotziger Hoffnung und Mitmenschlichkeit, locker verbunden durch einen mutigen amerikanischen Fluchthelfer, leben sie unmittelbar nebeneinander.
Zwei Jahre, nachdem die Deutschen Hitler zum Reichskanzler gewählt haben, geht der einstige Harvard-Student und Journalist Varian Fry zunächst nach Berlin, um für amerikanische Magazine zu berichten, wie sich Deutschland unter dem Einfluss der NSDAP verändert hat. Dort sieht er, wie Menschen gejagt werden, die man für jüdisch oder osteuropäisch hält, während die Polizei daneben steht: „Ich sah, wie ein Mann brutal getreten und bespuckt wurde, eine Frau, die blutete.“ Seine schrecklichen Beobachtungen motivieren ihn, selbst gegen den Nationalsozialismus aktiv zu werden.
Varian Fry, der korrekt elegant gekleidete Fluchthelfer, auf der Canebière 1940, Foto “courtesy of James and Sylvia Fry, rights reserved.”
Ihm wird bewusst, dass die Lage in Europa für die Verfolgten des Nazi-Regimes zunehmend gefährlicher wird, nicht nur in Osteuropa, sondern auch in Frankreich, wo inzwischen das Vichy-Regime in Südfrankreich, das bis dahin zur „Zone libre“ gehört hatte, ein Abkommen mit Deutschland eingegangen ist und die französischen Behörden Menschen, welche die Nazis verfolgen und die sich bislang in Frankreich vor den Nazis verstecken konnten, festnehmen. Diese Menschen können plötzlich nicht mehr weg, weil die Grenzen kontrolliert werden und sie Ausreisegenehmigungen nachweisen müssen.
In New York wurde das Emergency Rescue Committee (ERC) gegründet, um den bedrohten Intellektuellen und Künstlern zu helfen, in die USA zu flüchten. Besonders besorgt war die junge humanitäre Organisation darüber, dass die französische Vichy-Regierung mit den Nazis eine „Surrender on Demand” („Auslieferung auf Verlangen“)-Klausel vereinbart hatte. Dieses Gesetz verpflichtete nämlich das Vichy-Regime, alle in französischen Gebieten lebenden Deutschen auf Anfrage an die Nazis auszuliefern. Daraufhin nutzt die damalige First Lady Eleonore Roosevelt ihren Einfluss, um Notfall-Visa für verfolgte Intellektuelle auszustellen.
Heute erinnert lediglich ein von der Association Fry-France gestiftetes Schild an dem Haus in der Rue Grignan an Frys Wirken
Das Committee wiederum brauchte jemanden, der alles vor Ort in Marseille regelt. Ganz oben auf der Liste der zu Rettenden standen dabei die deutschen Schriftsteller Thomas Mann und seine Familienmitglieder oder Franz Werfel. Sie sollten aus Frankreich herausgebracht werden, obwohl sie kein Einreisevisum für Spanien hatten. Freiwillig meldete sich zu dieser Aktion der idealistische 32-jährige Journalist Varian Fry und flog mit 3.000 US-Dollar und einer Liste von 200 bedrohten Künstlern und Intellektuellen in der Tasche am 4. August 1940 nach Marseille.
Geplant hatte der in diplomatischen Dingen unerfahrene Fry für die Aktion drei Wochen. Daraus wurden schließlich dreizehn Monate, denn kurz nach dem Beginn seiner Mission, erkannte er, dass sehr viel mehr Menschen bedroht waren, als ursprünglich vermutet…
Varian Fry 1941: Die Ausreisepapiere für die Flüchtenden zusammenzubekommen, macht Kopfzerbrechen, Foto: “courtesy of James and Sylvia Fry, rights reserved.”
Zuerst arbeitet der smarte und immer korrekt gekleidete Ostküstenamerikaner Fry von seinem Hotelzimmer im „Hotel Splendide“ aus in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs Saint-Charles und der Canebière. Heute existiert das Hotel jedoch nicht mehr. Im Hotel hatte er sich zunächst in seinem Zimmer eine Art Büro in der Rue Grginan eingerichtet und versuchte von dort aus, die Ausreise von gefährdeten und bedrohten Schriftstellern und Künstlern zu organisieren. Dann mietet er zeitweise ein Büro auf dem Boulevard Garibaldi. Er bewegt sich wieselschnell in der Stadt und handelt effektiv im Sinne der Sache. Er glich einem „Rennpferd, das an einen Karren mit Steinen gefesselt ist“, kommentiert Alain Paire.
Die Fluchtwege gingen vor allem über das Meer. Doch gab es meistens nicht genügend Schiffspassagen, in anderen Fällen fehlten die erforderlichen Ausreisepapiere, dann blieben nur noch die versteckten, äußerst beschwerlichen Fußpfade auf dem alten Schmugglerweg über die Pyrenäen nach Spanien und von dort aus über Lissabon in die USA. Durch den Andrang der Bedürftigen erfuhr Fry schon bald die Begrenztheit seiner offiziellen Möglichkeiten, die im Gegensatz zur Dramatik, Dringlichkeit und dem immensen Bedarf an Hilfe standen. Täglich stehen hunderte vor dem amerikanischen Konsulat, um ein Ausreisevisum zu ergattern. Folglich verbreitert er seine Mission, um weitere Menschen auf der Flucht vor den Nationalsozialisten in Sicherheit zu bringen.
Heute ist in Marseille dem amerikanischen Citoyen und Helden der Résistance Varian Fry ein Platz benannt
Also stellte Fry ein Team von Menschen aus verschiedenen Ländern zusammen, die ihr Leben riskierten, um den Geflüchteten vor dem wachsenden Einfluss der Nazis in Frankreich zu helfen. Dabei war Fry immer wieder im Visier der Marseiller Polizei. Entsprechend war sein Team, das er aufgebaut hatte, den ständigen Anfeindungen und gelegentlichen Verhaftungen durch die Vichy-Behörde ausgeliefert. Dennoch setzten sich Fry und seine Kollegen und Kolleginnen unermüdlich dafür ein, dass die Geflüchteten das Land verlassen konnten. Dabei missachteten sie bisweilen das Gesetz, damit einige von ihnen ohne Papiere über die spanische Grenze gelangen konnten.
Da hatte der 1915 in Berlin geborene jüdisch-deutsche Humanist und antifaschistische Aktivist Albert Hirschman in Marseille Varian Fry kennengelernt, der sich bald seinem Team anschloss und unermüdlich als Frys rechte Hand, arbeitete, um die Evakuierung von Verfolgten zu unterstützen. So warb er die österreichische Sozialistin Lisa Fittko und ihren Ehemann Hans an, die dabei halfen, Geflüchtete nach Spanien über die Pyrenäen zu bringen.
Er und seine tatkräftigen und selbstlosen Fluchthelfer, vielfach auch einfache „Citoyens“, besorgten illegal jene Dokumente, mit denen Leben gerettet werden konnten: gefälschte Ausweispapiere, Passierscheine, Geleitbriefe („sauf-conduits“), Bürgschaften („affidavits“) und Visa. Oft war nämlich ein Dokument schon abgelaufen, das nötig für den anschließenden Passierschein war.
Mit Helfern ließ Fry Fluchtwege über die Pyrenäen erkunden und im Transit Flüchtlingsgruppen durch Spanien nach Portugal schleusen. Lisa Fittko beschreibt in ihrem berührenden Buch „Mein Weg über die Pyrenäen“, wie sie und ihr Mann ein halbes Jahr lang unter Einsatz ihres Lebens Geflüchtete nach Spanien schmuggelten.
Um sich der ständigen Beobachtung der Vichy-Polzei zu entziehen, fand das ERC mit Hilfe der reichen und schönen Amerikanerin Mary Jayne Gold die leerstehende Villa Air bel außerhalb von Marseille, wo sich Mitarbeiter wie der österreichische Künstler Bill Spira und wo sich die amerikanische Malerin und Bildhauerin Miriam Davenport befanden. Die Villa wurde zum Treffpunkt von Surrealisten wie Andre Breton und Max Ernst. Die Geschichte seiner in Deutschland zurückgelassenen Ex-Ehefrau Luise Straus-Ernst, der Kölner Kunsthistorikerin und Künstlerin, die zwar noch nach Frankreich kam, ist eine andere Geschichte. Sie wurde am Ende über Drancy nach Auschwitz deportiert, weil sie sich nicht legitimieren konnte.
Jutta-Brigitte Millas am US-amerikanischen Konsulat vor der Gedenktafel für Varian Fry und den engagierten tschechischen Juristen Vladimír Vochoc, Foto: Petra Kammann
Einige Beamte des US-Außenministeriums betrachteten Frys Bemühungen anders als der amerikanische Vize-Konsul Hiram Bingham, mit dem Fry kooperierte, als kontraproduktiv für die Beziehungen zwischen den USA und Frankreich, denn sie gefährde die Beziehung zu Frankreich und die „Neutralität“ der Vereinigten Staaten. Dies veranlasste den damaligen amerikanischen Generalkonsul Fullerton in Marseille, auf Frys Rückkehr in die USA zu drängen, denn den USA gefiel die Arbeit der Organisation nicht.
Frys Autobiografie
„Surrender on demand“
erschien auf Deutsch
in der Schwarzen Reihe
des S. Fischer Verlags
Papierfälschungen hatten die Fluchthelfer zwangsläufig offiziell angreifbar gemacht. Und Frys Erkundungsmission, die zunächst auf 3 Wochen angelegt war, hatten sich auf 13 Monate ausgedehnt, an deren Ende er Frankreich nicht etwa freiwillig verlassen musste. Nach etwas mehr als einem Jahr nach Gründung des Centre Americain de Secours (CAS) wird Fry von den französischen Behörden verhaftet und des Landes verwiesen. Er kehrt in die USA zurück und schreibt in verschiedenen Medien über seine Erfahrungen, die zunächst jedoch nicht auf Interesse stoßen.
Um seiner karitativen Arbeit in Marseille einen offiziellen Rahmen zu geben hatte Fry das Centre Americain de Secours (CAS), das nach Frys Abschiebung von seinem Stellvertreter Daniel Benédite geleitet wurde, gegründet. Dabei haben er und das ERC aus New York City zwischen 1940 und 1941 etwa 2000 Menschen geholfen, vor den Nazis zu flüchten, darunter Künstler und Schriftsteller, aber auch unzählige andere Menschen, die sonst nach Deutschland deportiert worden wären.
Zu seinem Hilfsteam gehörten außerdem zwei Amerikanerinnen: die reiche Erbin Mary Jayne Gold und die mittellose Bildhauerin Miriam Davenport. Sie hatten die Menschen mit Bargeld und Arbeit versorgt. Geholfen hat ihnen allen und vor allem Davenport mit einem kleinen Gehalt finanziell auch Peggy Guggenheim .
Fry stirbt 1964 desillusioniert in Connecticut. 30 Jahre nach seinem Tod verleiht 1994 die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem Varian Fry als erstem Amerikaner den Titel „Gerechter unter den Völkern“. Zweifellos ist auch die Erinnerung auf Gedenktafeln vor dem amerikanischen Generalkonsulat eine für ihn oder vielleicht für seine Kinder – wenn auch später – eine kleine „Wiedergutmachung“ für das, was Fry geleistet hat.
„Frys Idealismus war grenzenlos“, sagt Jutta-Brigitte Millas, eine Amerikanerin deutschen Ursprungs in Frankreich, die in den 90er Jahren als Special Agent in Charge der US-Air Force Office of Special Investigations an der US Botschaft in Paris arbeitete. Heute engagiert sie sich auch bei jungen Menschen für die Erinnerungsarbeit der Association Varian FRY-France, die von dem ehemaligen Geschichtslehrer Jean-Michel Guiraud am Marseiller Lycée Saint-Exupéry in der nördlichen Banlieue mit den damit verbundenen Problemen geleitet wird. An diesem Gymnasium ist inzwischen ein Konferenzsaal unter dem Namen Varian Frys eingerichtet worden, wo Symposien zu dieser historischen Phase stattfinden. Hinzu gestoßen ist auch Philip Breeden, der frühere amerikanische Konsul, der heute als Dozent in Aix arbeitet.
In ihrer Autobiografie „Crossroads Marseille 1940“ (leider nicht auf Deutsch) erzählt Mary Jayne Gold von ihrer Zeit in Marseille. Sie hatte über eine halbe Million Dollar für Frys Organisation gespendet. Das Buch erzählt dazu auch noch die abenteuerliche Liebesgeschichte einer Amour Fou mit einem zehn Jahre jüngeren Deserteur der Fremdenlegion, der sie bestahl und doch über alle Maßen liebte.
Über Varian Fry schreibt später seine Biografin Sheila Isenberg in „A hero of our own“: „Er war gerade heraus und undiplomatisch, aber auch oft sorgenvoll und launisch.“ Seine Antriebsfeder sei vor allem seine leidenschaftliche antifaschistische Überzeugung sowie seine Liebe zu Kunst und Kultur gewesen. Die Marseiller Geschichte hat ihn auf jeden Fall geprägt.
Lange nach dem Krieg, im Jahr 1964, begann Fry mit der Arbeit an einer großen Spendenaktion zugunsten des International Rescue Committee. Dabei handelte es sich um die heutige Organisation, die 1942 aus dem Zusammenschluss des Emergency Rescue Committee und der International Relief Association (IRA) entstanden ist. Die Idee war es, einen Sammelband mit Grafiken von berühmten Künstlern wie Alexander Calder, Marc Chagall (den Frys Team aus Frankreich evakuiert hatte und der seine Gabe nicht signierte) und anderen zu verkaufen. Erst 1971, vier Jahre nach Frys Tod, konnte eine begrenzte Anzahl von 250 Exemplaren der sogenannten „Fluchtmappe” (Flight Portfolio) verkauft werden, um die humanitäre Arbeit des International Rescue Committee zu unterstützen.
Erste öffentliche Veranstaltung der Association Fry-France
11. Januar 2025 zum Thema „Le refuge de l’exile (1939-1940)“
Dazu gibt es eine Konferenz und ein Round-table-Gespräch mit Eric Jennings: „Les Bateaux de l’Espoir“
sowie eine Filmführung von Jerome Prieur, „1941, Dernier Bateau pour l’Exil“ mit anschließender Diskussion.
Gedenkstätte für die Deportationen im Vichy-Régime in Marseille im Bunker der Deutschen im Fort Saint-Jean, Foto: Petra Kammann
In Marseille gibt es mehrere Gedenkstätten zur Erinnerung an die Gräuel unter dem Vichy-Regime und der deutschen Besatzung. Diesem Zweck dient insbesondere das Mémorial de la Déportation, de l’Internement et de la Résistance im Betonbunker der Deutschen unterhalb der mittelalterlichen Festung Fort Saint-Jean. Doch diese unselige Geschichte der Deportationen ist nochmal eine andere Geschichte…