Sanary-sur-mer – Hauptstadt der Exil-Literatur in den 1930er Jahren
Magnet der Sehnsucht und Paradies wider Willen
Petra Kammann auf den Spuren der Exil-Literaten
Frankreichs Süden mit seiner blauen mittelmeerischen Küste und dem strahlenden Licht lockte nicht nur die Maler an, in den 1930er Jahren wurde er zur Zufluchtsstätte für Literaten, die Deutschland verlassen mussten oder wollten. Als nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten mit der „Aktion wider den undeutschen Geist“ die systematische Verfolgung von Schriftstellern einsetzte, Autoren als für „das deutsche Ansehen“ schädigend stigmatisiert und ihre Bücher öffentlich verbrannt wurden, war den Betroffenen klar, dass sie in Deutschland keinen Raum mehr finden würden, weder für sich noch für die Entfaltung ihrer freien Gedanken. Notgedrungen wählten etliche von ihnen den Gang ins Exil – einige von ihnen ins malerische südfranzösische Fischerdorf Sanary-sur-Mer zwischen Bandol und Toulon.
Sanary, heute ein schmucker Seeort. In den 30er Jahren trafen sich hier die Exilanten, Foto: Petra Kammann
Schlendert man heute in Sanary die friedliche Küstenstraße am blauen Meer entlang – heute eine beruhigte Fußgängerzone mit Straßencafés -, so mag man sich kaum vorstellen, wie dort die Situation Anfang der 1930er Jahre für die ihrem Land entflohenen Künstler und Literaten gewesen sein mag. Vieles wirkt heute gepflegt und bestens restauriert, manches aufgehübscht. Vielleicht ist das unnachahmliche Licht aber immer noch dasselbe, das die ersten „Nordlichter“ hierhergezogen hat, der Wohnkomfort war es ganz sicher nicht.
Der tägliche Markt mit frischem Fisch erinnert noch an das einstige Fischerdörfchen, Foto: Petra Kammann
Etliche der Häuser hatten damals weder Zentralheizung, noch fließend Wasser, das alltägliche Leben in den wenig isolierten Wohnstätten war an kalten Wintertagen mit heftigem Mistral nur schwer erträglich. Und im Sommer machte vielen von ihnen die große Hitze und das Ungeziefer zu schaffen. Viel war auch nicht los in dem Dörfchen, verglichen mit europäischen Großstädten wie Paris, Berlin, Wien, München oder Köln, aus denen sie kamen. „Hier war tote Hose“, sagt die so kundige wie erfahrene deutschsprachige Führerin, die Guide confériencière Ina Bérato, lakonisch. Sie lebt seit mehr als 40 Jahren hier und hat selbst noch solche Häuser erlebt. Auf dem Rundgang „Sur le pas des Exilés“ schildert sie anschaulich das alltägliche Leben, die Lieben, die Sorgen und Nöte der hier Gestrandeten, die die schlichte Existenzangst umtrieb, vor allem, wenn sie nicht so wohlhabend waren wie die berühmten Familien von Thomas Mann, Lion Feuchtwanger, Mahler-Werfel oder Bruno Frank.
v. l.: Guide confériencière Ina Bérato und Roselyne Martin, Leiterin des Office du Tourisme von Sanary, Foto: Petra Kammann
Seit 2011 ist am Office du Tourisme inzwischen eine erweiterte Gedenktafel angebracht, die einen Hinweis darauf gibt, wer hier alles kürzer oder auch langfristig gelebt hat, bevor es in die Internierungslager oder nach Übersee ging. Und ein mit Notenständern markierter, 8 km langer Fußweg („Parcours des Exilés“) erinnert an Schriftsteller und Künstler, die vor und während des Zweiten Weltkriegs in Sanary Zuflucht gesucht haben, sei es im Exil vor dem Nationalsozialismus oder als Urlauber in der Stadt. Der Journalist und Schriftsteller Ludwig Marcuse nannte in seinen Lebenserinnerungen das Sanary der 1930-er Jahre die „Hauptstadt der deutschen Literatur“. Ganze 21 Gedenktafeln markieren inzwischen die Nähe der Wohnorte, an denen sich die zumeist deutschen und österreichischen Intellektuellen befanden. Vielleicht gibt es noch mehr, denn die Exil-Forschung wie etwa im Exilarchiv der Deutschen Nationalbibliothek Frankfurt (1933-1946) entdeckt immer wieder neue Zusammenhänge, während die meisten Zeitzeugen gestorben sind. Leider können die oft auch umgebauten Häuser der Exilanten heute nicht besichtigt werden, weil sie in Privatbesitz sind. Und da ist Diskretion angesagt, vor allem in touristenstarken Phasen.
Neue Gedenktafel seit 2011 für die Exilanten in Sanary, Foto: Petra Kammann
Zweifellos sind die bekanntesten und prominentesten Exilanten die Familienmitglieder von Thomas Mann. Wie kam es dazu? Nachdem der wohlhabende Thomas Mann und seine jüdische Frau Katja Pringsheim 1933 ihr gastliches Haus in der Poschingerstraße in München verlassen mussten und sie im Mai 1933 an der zehnten Station der Reise zunächst im benachbarten Bandol ankommen, da steht dem erfolgsverwöhnten Schftitsteller nur ein kleiner Schreibtisch im Grand Hotel zur Verfügung. Er ist gereizt und nervös …“Ich finde in diesem Kulturgebiet alles schäbig, wackelig, unkomfortabel und unter meinem Lebensniveau“, schreibt der selbstbewusste Nobelpreis-Dichter fast hochmütig, der Deutschland, das Land seiner Sprache, die er so meisterhaft beherrschte, ohnehin nicht verlassen wollte.
Etwas bedrückt ihn jedoch ganz besonders. Sein Sohn Golo Mann hatte seinem Fahrer einen verschlossenen Koffer mit seinen Verlagsverträgen, Manuskripten und den geheimen Tagebuchnotizen im „Wachsheft“ übergeben, die ihn und seine Familie, würden die geheimen Aufzeichungen darin gefunden werden, kompromittiert und notfalls das Leben gekostet hätte. Doch der Koffer war schlicht verschwunden. Ob er von den SA-Behörden inspiziert werden würde? Als er dann völlig unversehrt wie durch ein Wunder wieder im Hotelzimmer in Bandol auftauchte, beruhigte er sich, kopfschüttelnd verwundert zunächst einmal, ob der Tatsache, dass die Inspektoren die Lektüre der Texte vielleicht nicht einmal interessierten. Nun aber konnten Thomas und Katja Mann wiederum von Bandol aus einigermaßen befreit René Schickele, den Citoyen français und deutschen Dichter aus dem Elsass, im benachbarten Sanary besuchen. Der lebte hier schon seit 1932 und war im Gegensatz zu ihnen des Französischen mächtig. Schickele war weder Jude noch Exilant, konnte sich lediglich nicht entscheiden, ob er eher wegen seiner binationalen Eltern eher zu Frankreich oder zu Deutschland gehörte.
Heute sind in Sanary Erinnerungstafeln an den Orten angebracht, wo die Exilanten lebten, Foto: Petra Kammann
Thomas Manns so freiheitsliebende und unkonventionelle Kinder Erika und Klaus Mann hatten schon früher als ihre Eltern Gefallen am nonchalanten Leben an der blauen Küste gefunden und bereits 1931 in ihrem „Buch von der Riviera“ die schönsten Orte zwischen Marseille und Genua beschrieben. Da war ihnen schon Sanary aufgefallen und sie quartierten sich ab und an dort im Hotel ein: „Sanary scheint zunächst durchaus das freundliche und intime Hafenstädtchen, wie es deren viele an der Riviera gibt“, schrieben sie. Und dann: „In Wahrheit aber hat es seine eigene Bewandtnis mit Sanary, denn seit einigen Jahren ist es die erklärte große Sommerfrische des Café du Dôme, der sommerliche Treffpunkt der pariserisch-berlinisch-schwabingerischen Malerwelt, der angelsächischen Boheme.“ So war auch einer der Treffpunkte für das urbane und kreative Völkchen, das im Café „Le Nautique“ verkehrte, nach seinem elsässischen Inhaber „bei Schwab oder Schwob“ und nach dessen Tod „bei Witwe Schwob“ benannt. Dieses wie auch das „Café La Marine“, wo eher die Franzosen verkehrten, war Treffpunkt für die Intellektuellen der Bohème, die sich da über die politische Lage und ihre Alltagssorgen austauschen konnten.
Der Marktplatz in Sanary heute mit Palmen und Weihnachtsdekoration, Foto: Petra Kammann
Dort war auch Bertolt Brecht in Begleitung seiner Mitarbeiterin und Lebensgefährtin Margaret Steffin anzutreffen. Brecht zog es jedoch überhaupt nicht zu den Manns. Er wollte lieber seine Werke und Spottlieder über Goebbels und Hitler an einem öffentlichen Ort präsentieren als im exklusiven Lesezirkel bei Thomas Mann verkehren. Im Café lässt sich täglich auch René Schickele blicken und liest verschiedene Tageszeitungen, um das politische Geschehen zu analysieren.
Anschließend wird darüber heiß mit seinen Freunden, dem Bühnenbildner, Maler, Zeichner und Kunsthistoriker deutsch-polnischer Herkunft, Erich Klossowski, Heinrich Mann und dem renommierten Kunsthistoriker Julius Meyer-Graefe, dessentwegen sich hier einige niederließen, diskutiert. Am kleinen Nebentisch sitzt Hilde Stieler und schreibt Artikel für eine deutsche Zeitschrift. Der in Prag geborene und einer nichtreligiösen jüdischen Familie entstammende Maler und Photograph Walter Bondy und Erich Klossowski, der vergessene Vater des Maler Balthus, treffen sich zur Schachpartie im „Café de Lyon“, wo Walter Bondy die junge französische Malerin Camille Bertron aus Nîmes kennenlernt, in die er sich unsterblich verliebt.
Eigentlich war Klossowski noch mit Elisabeth Dorothea Spiro, der Mutter des Malers Balthus, die sich als Künstlerin Baladine nannte, verheiratet. In den zwanziger Jahren schon hatten sich ‚Klo‘, wie ihn seine Freunde nannten, und Baladine, deren Freundschaft zu Rilke legendär wurde, getrennt. 1939 erhielt Klossowski die französische Staatsangehörigkeit und wollte nie wieder Deutsch sprechen, was die Leute im Ort nicht daran hinderte, ihn als deutschen Spion zu verdächtigen.
Und Bondy wiederum eröffnete, um den gemeinsamen Lebensunterhalt mit Camille zu bestreiten, ein Photostudio am Hafen. Vom Porträtmaler wird er zum Porträtfotografen mit einer eigens von ihm entwickelten Beleuchtungstechnik, welche die Emigranten in einem ganz besonderen Licht darstellen. Das erweckt sogar das Interesse des in Bandol ansässigen Louis Lumière. Nach Kriegsausbruch wird ihre wirtschaftliche Lage jedoch immer schwieriger, zusätzlich droht Walter 1939 die Abschiebung in ein Internierungslager. Zwar gibt ihm sein Diabetes den Status eines nicht transportfähigen Ausländers, aber die Krankheit und der Einmarsch der Nazis in Paris nimmt ihm jeglichen Lebenswillen. Am 17. September 1940 stirbt er. Camille setzt sein Werk fort und lebt bis zu Ihrem Tod im Jahr 2009 im benachbarten Toulon.
Thomas Manns Bruder, der politisch engagiertere Schriftsteller Heinrich Mann, war schon vor 1933 häufiger Gast an der Côte d’Azur in Nizza gewesen. Politisch wach und hellsichtig war er bereits eine Woche vor dem Reichstagsbrand aus Berlin geflohen und hatte sich mit seiner von der Familie als ordinär empfundenen Freundin Nelly Kröger, der jegliche Anerkennung der Familie versagt blieb, dort niedergelassen. Ebenso hatte der historisch bewusste Sohn Golo Mann 1933 Deutschland bereits verlassen.
Der Weg gegenüber von Thomas Manns Villa „La tranquille“ führt unmittelbar ans Meer, Foto: Petra Kammann
Katja Mann hatte sich angesichts des Ernstes der Lage zügig auf die Suche nach einem angemessenen Haus für sie und ihren Tommy gemacht. Behilflich war ihr dabei die dort lebende deutsch-britische Journalistin Sybille Bedford, eine Freundin ihrer Kinder Erika und Klaus sowie des britischen Autors Aldous Huxley, der dabei war, in Sanary seine Dystopie „Brave new World“ zu schreiben. Mit Bedford hatte Katja sich angefreundet. Und schon ganz bald hatten sie gemeinsam auf dem Hügel hinter dem Hafen eine geräumige, über dem Meer gelegene Villa unter schützenden Pinien gefunden: „La Tranquille“, von der aus ein schmaler steiler Pfad ans Meer führte. Dort konnten die Manns, wie schon der Name „La Tranquille“ nahelegt, für ein paar Monate Luft schnappen und ein wenig Ruhe finden.
Hier wohnte Thomas Mann, das Haus wurde 1944 von deutschen Truppen abgerissen, nach dem Krieg im ursprünglichen Stil wiederaufgebaut und wird gerade durch einen kubischen Bau erweitert, Foto: Petra Kammann
Hinzukam, dass auch Lion und Martha Feuchtwanger, die im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens standen, ganz in der Nähe, in der Villa Valmer, in einem einfachen Sommerhaus ohne Heizung, aber immerhin mit Garten, bewohnten, in dem das Paar glücklich wie Gott in Frankreich lebte.
Katja Mann ist es zu verdanken, dass sie während der Zeit ihres rund dreimonatigen Aufenthalts Autorenlesungen organisierte, bei denen dann zum Beispiel Lion Feuchtwanger und René Schickele oder Heinrich Mann, der öfters von Nizza aus nach Sanary kam, ihre neuesten Werke vorstellten. Sie führte gewissermaßen eine Art von Salon, würde man vielleicht heute sagen. Für Thomas Mann ein Stück schon gelebter Normalität in einer Welt, die nur noch dem Untergang geweiht zu sein schien.
Für Feuchtwanger gehörten die Jahre im französischen Exils zu den produktivsten seines Lebens. Die Feuchtwangers blieben sogar bis 1940 in Sanary in einem neuen Haus mit Blick auf die Bucht von Portissol, das zum Treffpunkt der Emigranten wurde. Ab Herbst 1939 wird ihr südfranzösisches Paradies jedoch nach und nach zur Hölle. Nun lernen sie „den Teufel in Frankreich“ kennen, wie der Titel seiner autobiografischen Geschichte nach Lions beiden Internierungen 1939 und 1940 im Lager von Les Milles lautet.
Bis zum 22. September des Jahres 1933 blieben Katja und Thomas Mann in Sanary wohnen, bevor sie sich dazu entschlossen, in die Schweiz zu ziehen. Auch wenn Thomas Mann schriftstellerisch in Sanary nur mäßig produktiv war, so schreibt er am 31. Dezember 1933 resümierend in sein Tagebuch: „Mein Heimweh nach dem alten Zustande [München] ist übrigens gering. Ich empfinde fast mehr davon für Sanary, das mir im Rückblick als die ‚glücklichste’ Etappe dieser 10 Monate erscheint, und nach meiner kleinen Stein-Terrasse am Abend, wenn ich darauf im Korbstuhl saß und die Sterne betrachtete“.
Ähnlich idyllisch muss der Blick von Thomas Manns vorübergehender Wohnstätte „Villa La Tranquille“ gewesen sein, Foto: Petra Kammann
Zweifellos hat dazu sicherlich auch der enge Kontakt zu den Emigranten von Sanary, beigetragen. So lebte in seiner Nachbarschaft im Chemin de la Colline nicht zuletzt auch sein früherer Münchener Nachbar, der Schriftsteller Bruno Frank mit seiner Frau Lisl, Tochter der bekannten jüdischen Sängerin Fritz Massary. Als 1938 die Reichsschrifttumskammer seine Werke auf die „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ stellte, übersiedeln Liesl und Bruno Frank zusammen mit Fritzi Massary nach Los Angeles in die USA. Überanstrengt und gesundheitlich angeschlagen, stirbt Bruno Frank jedoch am 20. Juni 1945 in den USA.
Gedenktafel für Thomas Manns Nachbarn in München und in Sanary Bruno & Liesl Frank, Foto: Petra Kammann
Thomas Mann reagiert unmittelbar auf dessen Tod und schreibt am 21. Juni 1945 in sein Tagebuch (hrsg. 1986 von Inge Jens) darüber, was Bruno Frank ebenso wie viele andere Exilanten, gequält haben mag: „… es kam die Entwurzelung und, anfangs als Episode verstanden, nahm sie mehr und mehr Endgültigkeitscharakter an. Das deutsche Elend währte zu lange, fraß zu tief, es zehrte an ihm, wie an uns allen. […] Sie starben an überanstrengten Herzen, einer nach dem anderen, die Genossen der Emigration.“
Und doch. Die finanzielle Lage von Thomas und Katia Mann war im Gegensatz zu anderen Schicksalen wenigstens abgesichert, auch wenn ihr Hab und Gut in Deutschland von den Nazis beschlagnahmt worden war. Sie konnten noch rechtzeitig einen Teil ihres Vermögens in die Schweiz bringen und bekamen regelmäßige Tantiemenzahlungen ihrer ausländischen Verleger auf Londoner Bankkonten. „Wir sind nicht reich, aber wohlhabend“, hatte Thomas seiner Familie zur Beruhigung mitgeteilt.
Sanary löste aber auch eine Familienkrise bei den Manns aus. Thomas‘ eher radikal gestimmter Sohn Klaus, der zudem auch noch homosexuell war, gab mit Unterstützung von André Gide, Aldous Huxley und Heinrich Mann die literarische monatliche Exil-Zeitschrift Die Sammlung (Querido Verlag, Amsterdam) heraus. Für Thomas Mann jedoch waren die Artikel zu polemisch und aus Angst, seine Leserschaft zu verlieren, zog er – wie auch Stefan Zweig – seine ursprüngliche Zusage zur Mitarbeit zurück, was wiederum bei Klaus eine weitere Krise auslöste. Er begründet es 1942 nochmal in Der Wendepunkt , welches Ziel er damit verfolgt hatte: „Mein Ehrgeiz war, die Talente der Emigration beim europäischen Publikum einzuführen, gleichzeitig aber die Emigration mit den geistigen Strömungen in ihren Gastländern vertraut zu machen. Dazu kam, als essentielles Element meines redaktionellen Programms, das Politisch-Polemische. Die Sammlung war schöngeistig, dabei aber militant – eine Publikation von Niveau, aber nicht ohne Tendenz.“
Die Cafés, in denen man sich austauschen konnte, ersetzten in Sanary das Zuhause, Foto: Petra Kammann
Der Philosoph, Journalist, Literatur- und Theaterkritiker Ludwig Marcuse, der in seinen Lebenserinnerungen das Sanary der 1930-er Jahre nicht nur als die „Hauptstadt der deutschen Literatur“ würdigte, er widmete dem Fischerdörfchchen die vielleicht poetischste, aber auch melancholischste Beschreibung: „Der Winter war kurz und leicht- mit Rosen, weißem Thymian, frühen Mimosen und Nelken. Es war gar kein Winter, wenn man aus dem Norden kam. Im Januar wurde es schon wieder Frühling. Wir wanderten ins Land hinein; die Narzissen-Felder betäubten uns so schmeichelnd, dass ich noch in den trübsten Stunden zum Leben verführt wurde. Die Kirschbäume blühten üppiger als im Kleinen Tannenwald bei Homburg.… Am verliebtesten war ich in die adoptierte Heimat, wenn ich zur Zeit des ausgehenden Tages vor dem Café de la Marine saß oder nebenan bei der Witwe Schwob. … Über den Pinienwald des Vorgebirges… glitt das große gelbe Licht und entwarf auf dem stillen Wasser eine seiner unvergesslichen Malereien. … Der winzige Hafen, eingerahmt von einer niedrigen Mole, war gefüllt mit leise schauernden Fischerbarken, die Masten taumelten sanft und schlaftrunken. … In solchen Stunden war’s, dass ich Deutschland selig vergaß.“
Auf Dauer ließ sich jedoch nicht vergessen, was sich zwischenzeitlich in Deutschland abspielte. Und Marcuse weiß auch um die Gespaltenheit der Existenz vieler Emigranten, die sich keinen Hotelaufenthalt wie die Manns leisten konnten. Das Exil und das Publikationsverbot in Deutschland hatte sie in oft unüberwindbare finanzielle, oft auch in psychische Schwierigkeiten gebracht. Mit Wilhelm Herzog hatten sie eine kleine Kolonie gegründet, die sich ungestraft über die Vernichtungswut der Nazis unter dem Schlagwort der bolschewistisch-jüdischen Verschwörung, über die sie sich oft auch im Café austauschten.
Der Turm, in dem die Werfels wohnten, Foto: Petra Kammann
Im „Chemin de la Colline“, in dem ein Stück weiter auf der anderen Straßenseite auch die Familie Mann 1933 gewohnt hatte und Bruno Frank noch wohnte, befindet sich ebenfalls die über dem Meer gelegene Villa „Moulin Gris“, in der Franz Werfel und Alma Mahler-Werfel zwischen 1938 und 1940 wohnten. Mit Hilfe ihrer Freundin Anne Marie Meier-Graefe hatte Alma den alten Mühlturm hoch über der malerischen Bucht des Ortes gefunden.
In dem ehemaligen Wachturm der Mühle hatte die verwöhnte Muse Alma Mahler-Werfel, geschiedene Gropius, Geliebte Kokoschkas, die femme fatale der Wiener Gesellschaft, hoch oben in einem runden Raum der Mühle mit zwölf Fenstern ein Büro für Franz eingerichtet, wo er ruhig arbeiten konnte. Das gewährte ihm einen Rundblick über ganz Sanary und die Küste, während Alma unten in einem kleinen Wohnraum und der daran anschließende Küche im Erdgeschoss ihr Dasein fristete. Sie litt unter der Hitze, den Mücken, und beschwerte sich in ihrem Tagebuch, sie lebe in einem „jüdisch-kommunistischen Klüngel“, zu dem sie nicht gehöre. Das Paar bleibt knapp zwei Jahre in dieser Unterkunft. Wäre da nicht das gemeinsame Musizieren mit Franz gewesen, der sie vergötterte, wäre sie vermutlich nach Wien zurückgekehrt. So aber begleitete sie ihn bis zu seinem Tod ins Exil.
Gedenktafel für Alma-Mahler-Werfel und Franz Werfel, Foto: Petra Kammann
Bei Kriegsausbruch sind die deutschsprachigen Fremden definitiv nicht mehr gern gesehen. Franz Werfel leidet unter dem Misstrauen und der Geringschätzung, mit welcher er behandelt wird. Willkürliche Hausdurchsuchungen prägen fortan den Alltag. Franz wird sogar auf offener Straße von einem Polizisten angehalten und kontrolliert. Nach dem Überfall der Wehrmacht auf Belgien, die Niederlande und Luxemburg ist es für die Werfels nur noch eine Frage der Zeit, bis Hitler in Frankreich einfällt. Am 2. Juni 1940 packen sie ihre Sachen, verlassen das Moulin Gris in Sanary und begeben sich auf ihre riskante Fluchtroute über Marseille, wo sie schließlich auf Heinrich, Nelly und Golo Mann, mit denen sie in einem stundenlangen Marsch zu Fuß die Pyrenäen überqueren, in die USA und Franz Werfel 1943 an Herzversagen starb.
Diplomat und Résistancekämpfer Stéphane Hessel (1917-2013), Autor von „Empört Euch!“ 2011 in Düsseldorf, Foto: Petra Kammann
In der „Tourelle carrée“ in Portissol wenige Schritte weiter, schafft sich der literarische Flaneur aus Berlin und Pariskenner, der Balzac- und Proust-Übersetzer Franz Hessel im oberen Teil eines viereckigen Turms seinen eigenen Arbeitsbereich. Franz und Helen Hessel, die kühne Journalistin und unkonventionelle Malerin Helen Hessel, zunächst Modekorrespondentin der Frankfurter Zeitung in Paris, die außerdem das Vorbild für Henri-Pierre Rochés Roman Jules et Jim wie auch für den gleichnamigen Truffaut-Film mit Jeanne Moreau fungierte, waren die Eltern von Stéphane Hessel, der vielen von seinem erfolgreichen Traktat „Empört Euch!“ oder seiner Autobiographie „Im Tanz mit dem Jahrhundert“ bekannt sein dürfte: Die Hessels waren in Sanary zunächst von Aldous Huxley aufgenommen worden. Franz Hessel lebte hier bis zu seiner Internierung im Lager von Les Milles. Aber das ist eine eigene Geschichte, der wir uns im 2. Teil auf den Spuren der Exilanten in Les Milles zuwenden. Er wurde zwar von seinem Sohn Stéphane, der inzwischen die französische Nationalität erworben hatte, befreit, starb 1941 jedoch kurz darauf aus Schwäche und Heimweh, so kann vermutet werden. Er wurde – wie Augenzeugen berichteten – in Sanary auf dem Alten Friedhof beigesetzt. Spuren gibt es keine.
Insgesamt ist Sanary zum Jahresende 1940/41 für die meisten Exilanten die letzte Station auf dem Weg der Emigration. Hier fanden Alfred und Friedel Kantorowicz Unterkunft und teilten ihr Elend mit dem Kölner Maler Anton Räderscheidt und Ilse Salberg, Erich Klossowki und Hilde Stieler, Franz, Helen und dem zweiten Hessel-Sohn Ulrich Hessel, mit Friedrich Wolf , dem Vater von Markus Wolf und seiner Lebensgefährtin Ruth mit Baby Catherine. Im Winter verheizten sie Feuchtwangers Bücherregale, um es warm zu haben, und sie fällten die Bäume in Räderscheidts Garten… Sie leben in völliger Armut und hätten jeweils ein eigenes Porträt verdient. Und sie werden alles tun, um schnellstens dieses inzwischen so ungastlich gewordenen Land zu verlassen. Ein Teil 2 folgt.
Faltblatt mit dem Parcours
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