„Lulu“ Alban Bergs Oper in Frankfurt
Missbraucht ein Leben lang
Von Renate Feyerbacher
Fotos: Barbara Aumüller / Oper Frankfurt
Der Wiener Komponist Alban Berg (1885-1935) konnte seine Oper, an der er viele Jahre gearbeitet hatte, nicht vollenden, dennoch wurde sie 1937 unvollendet in Zürich uraufgeführt. Der österreichische Komponist Friedrich Cerha (1926-2023) machte sich nach Notizen Alban Bergs daran, den 3. Akt zu vollenden. Diese neue Fassung brachte der französische Komponist und Dirigent Pierre Boulez (1925-2016) in der Regie von Patrice Chéreau 1979 in Paris zur Uraufführung. Diese vervollständigte Fassung hatte nun an der Oper Frankfurt am 3. November ihre Premiere, die gefeiert wurde.
v.l.n.r. Brenda Rae (Lulu), Simon Neal (Dr. Schön) und Theo Lebow (Maler), Foto: Barbara Aumüller
Der Operntext, den Berg selbst verfasste, basierte auf den Tragödien Erdgeist (1895) und Die Büchse der Pandora (1902)) von Frank Wedekind (1864-1918). Die Büchse der Pandora zu öffnen, bedeutet Unheil und Schaden bewirken. Zeus, der Pandora schuf, lässt sie die Büchse aus Rache am Diebstahl des Feuers durch Prometheus öffnen.
Die Bühne präsentiert sich wie eine riesige, bewegliche Büchse (Bühnenbild Katharina Schlipf), die einzelne Szenen immer wieder frei gibt und verschließt. Das Sängerteam steht bereits vor dem Beginn der Oper davor. Ein Metronom schlägt ständig den (Uhr)Takt wie ein Sprengsatz. Aus einem Erdloch wird völlig verschmutzt ein Mädchen gezogen – Anima, die verletzte Seele der bereits in der Jugend vergewaltigten Lulu. Anima, dargestellt von der britischen Tänzerin Evie Poaros, begleitet Lulu ständig und greift sogar manchmal ins Geschehen ein. Im Prolog kündigt der Tierbändiger seinen größten Schatz „die Urgestalt des Weibes“ an. Lulu ist das Tier.
Lulu ist schön und zieht die Männer an. Sie hat einen eigenen Zauber. Schigolch und Chefredakteur Dr. Schön haben Lulu von der Straße geholt, aber auch missbraucht. Schön hat sie bei sich aufgenommen, lässt sie erziehen und nun ist sie Modell beim Maler, der sie porträtiert. Verheiratet wurde sie zwischenzeitlich mit Medizinalrat Dr. Goll. Als dieser früher zurückkehrt und mitbekommt, wie der Maler Lulu massiv bedrängt, erliegt er einem Herzinfarkt. Dann ist sie mit dem Maler verheiratet, der sich das Leben nimmt, nachdem Dr. Schön ihm seine Beziehung zu Lulu offenbart hat.
Nun erreicht Lulu, dass Dr. Schön seine Verlobte verlässt und sie heiratet. Gräfin Geschwitz, die Lulu leidenschaftlich verehrt, kommt zu Besuch. Mit Missbilligung und Eifersucht beobachtet Schön diese Beziehung. Überall vermutet er heimliche Liebhaber. Auch sein Sohn Alwa ist einer. Schön rastet aus, bedrängt Lulu und fordert sie auf, sich das Leben zu nehmen. Im Handgemenge treffen ihn die Schüsse aus seiner Pistole selbst. Lulu handelte in Notwehr, wird aber als Mörderin verhaftet und verurteilt.
Mit Hilfe von Gräfin Geschwitz und Schöns Sohn Alwa gelingt ihr die Flucht aus dem Gefängnis. Sie fliehen zunächst nach Paris, dann nach London, wo Lulu sich und die Freunde durch Prostitution über Wasser hält. Serienmörder Jack the Ripper, der sie an Dr. Schön erinnert, ist ihr letzter Kunde.Von ihm wird sie ermordet.
Lulu und Dr. Schön sind das Zentrum der Geschichte. „Der Einzige, den ich geliebt.“ Ihre Begegnung ist von Anfang an obsessiv. Lulu scheitert an der patriarchalischen Gesellschaftsstruktur, in der sie keinen Raum für sich findet. Sie ist stark und schwach, liebt ihre Freiheit und steht zu sich selbst.
Eine Frau, die Regisseurin Nadja Loschky, die im April Giulio Cesare in Egitto inszenierte, arbeitete bei Lulu mit einem weiblichen Team: Bühnenbild Katharina Schlipf, Kostüm Irina Spreckelmeyer und konzeptionelle Mitarbeit Yvonne Gebauer. Eine Interpretation ist entstanden, die Lulu so sein ließ, wie sie ist. Keine Femme Fatale, sondern eine Femme Fragile, die Schutz sucht und nicht findet. Sie will einfach nur existieren, allerdings ist sie auch penetrant fordernd.
Die Geschichte wird mit großen Bildern verständlich erzählt.
Lulu, fabelhaft Brenda Rae, war Ensemblemitglied und steht nun nach vielen Jahren wieder auf der Frankfurter Opernbühne. In www.feuilletonfrankfurt.de stehen Besprechungen von 2010 (Hoffmanns Erzählungen) bis 2018 (I Puritani) an der Oper Frankfurt. Sie war ein Publikumsliebling.
Brenda Rae und Nadja Loschky nach Oper extra am 20.10.; Foto: Renate Feyerbacher
Die amerikanische Sopranistin, weltweit unterwegs, ist begeistert von der Zusammenarbeit mit Nadja Loschky, zu der sie tiefes Vertrauen fasste.
Brenda Rea, die Lulu vor Jahren an der English National Opera London sang – damals war ihr erstes Kind sechs Monate alt –, nennt die Rolle der Lulu „die ultimative Herausforderung“. Beim Gespräch spricht sie über die schwierige Partie, die stimmlich an die Grenze geht. Sehr differenziert – Leidenschaft wie emotionale Kälte – ihre starke Stimme, die ohne Schwierigkeit Höhe erreicht, nuanciert ihr Spiel. Ein Geschenk.
Brenda Rae nach Oper extra am 20.10.; Foto: Renate Feyerbacher
Auf Augenhöhe mit Lulu singt Dr. Schön: wuchtig, leidenschaftlich, eifersüchtig, bösartig. Gastbariton Simon Neal, darstellerisch toll, begeisterte schon in Le Grand Macabre im November das Publikum. „Den Schmutz unter der Tapete der bürgerlichen Gesellschaft“ (Loschky im Gesprächs-Trailer der Oper) kehrt er eindringlich nach oben. Schmutz hängt an Lulu, die als Doppelgängerin Anima aus dem Erdloch gezogen wird.
Simon Neal nach Oper extra am 20.10.; Foto: Renate Feyerbacher
Tenor AJ Glückert gibt sein Debüt als Sohn Alwa mit starker Ausdruckskraft, Claudia Mahnke als Gräfin Geschwitz mit ihrem ausgewogenen Mezzosopran, der nach oft nur kleinen Einschüben am Ende groß herauskommt, darstellerisch allerdings verhalten, Alfred Reiter als Schigolch kein dämonischer Typ, aber sein Bariton eindringlich. Kihwan Sim macht aus dem Tierbändiger und dem Athleten Paraderollen – toll.
Theo Lebow und Michel Porter in Doppelrollen, Anna Nekhames als Fünzehnjährige und weitere Ensemblemitglieder in kleineren Rollen gefallen – wieder eine unglaublich starke Leistung des Ensembles der Oper Frankfurt.
v.l.n.r.: AJ Glueckert (Alwa), Brenda Rae (Lulu), Claudia Mahnke (Gräfin Geschwitz) und Alfred Reiter (Schigolch)
Die „Zwölftonmusik“ verband Komponist Alban Berg mit der großen Form Oper. „Der Zwang, unter dem Handlung und Personen stehen, wird von Berg ausdrücklich auskomponiert und bewusst gemacht. Wie ein guter Regisseur greift er der Vorlage Wedekinds unter die Arme und legt durch seine Musik alle Details der szenischen Darstellung fest [..] Die Musik umklammert das Handlungsgefüge wie mit eisernem Griff; nichts bleibt dem Zufall überlassen“, das schreibt der deutsche Musikwissenschaftler Dietmar Holland in seinem Beitrag im Programmheft (S. 36) „Extrem, dann jäher Umschlag, Sprechstellen, bei denen das Orchester schweigt. Berg schafft es, Dramatisches, Emotionales mit Leichtigkeit zu verbinden. Seine Musik ist hörbar.“
Dem Frankfurter Oper- und Museumsorchester unter Leitung seines jungen Generalmusikdirektors Thomas Guggeis gelingt wieder ein Abend in musikalischer Höchstform.
Orchester auf der Bühne nach der Vorstellung; Foto: Renate Feyerbacher
Wieder ein experimentierfreudiger Abend in der Oper Frankfurt, den man sich nicht entgehen lassen sollte, allein schon wegen der fantastischen Stimmen und des Orchesters, das sich mit dem Bayerischen Staatsorchester den Preis Orchester des Jahres teilt.
Weitere Aufführungen
am 15.,17., 23.11 – danach: Oper im Dialog, 30. November
Am 26.11. wird Michel Friedman mit Lars Eidinger über das Thema Obsession sprechen.
Am 3.11. gab es die Zeremonie Opernhaus des Jahres.
Intendant Loebe und der Geschäftsführer und Verleger der Opernwelt Torsten Kutschke ; Foto: Renate Feyerbacher