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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„Woyzeck“ von Georg Büchner am Staatstheater Wiesbaden

Inszenierung eines Klassikers mit zeitbedingten Akzenten – Ganz im Hier und Heute

von Walter H. Krämer

Der Regisseur Stefan Pucher inszeniert das Dramenfragment „Woyzeck“ von Georg Büchner am Staatstheater Wiesbaden mit Blick auf die Gegenwart. Künstliche Intelligenz, die Me-Too-Bewegung, Femizide. Dabei  setzt er vielfältige theatrale und performative Theatermittel ein: Videos, Live-Kamera, Sound, Gesang (Rap) und den Laufsteg ins Parkett mit direkter Publikumsansprache.

„Woyzeck“ von Georg Büchner, hier als  KI-generierter Georg Büchner Foto: Maximilian Borchardt

Die Geschichte des einfachen Soldaten Woyzeck, der aus Eifersucht seine Geliebte Marie, die ihm untreu geworden ist, ermordet – in der Inszenierung von Stefan Pucher ermorden will. Das Messer, groß auf Leinwand übertragen, von Woyzeck schon gewetzt und gezückt, sticht nicht zu! – ist neben einer Kriminalgeschichte auch die Erkundung seiner existentiellen Situation, seiner Ängste, Träume, seines Alleinseins.

Und es ist eine Geschichte, die die Frage nach den äußeren sozialen Umständen stellt. Der Soldat Woyzeck, gedemütigt von seinen Vorgesetzten und einer, der sich des Verdienstes wegen als wissenschaftliche Versuchsperson missbrauchen lässt und sich tagelang nur von Erbsen ernähren muss.


Tabea Buser, Abdul Aziz Al Khayat (Videoscreen), vorn: Laura Talenti, im Hintergrund: Lennart Preining, Christian Klischat, Foto: Maximilian Borchardt

Bei Stefan Pucher und seinem Team – Nina Peller (Bühne), Annabelle Witt(Kostüme), Christopher Uhe (Musik), Ute Schall und Hannes Francke (Video/Live-Video) und Oliver Porst (Licht) – wird aus der Textvorlage von Georg Büchner eine Mischung aus Videoschau, Rockkonzert, Battle-Rap und dramatischen Szenen. Büchners Text geht aber in dieser multimedialen- Performance nicht unter. Und das ist gut so.

Regisseur Pucher und die Dramaturgin Hannah Stollmayer haben den Woyzeck-Text mit Passagen aus Büchners „Dantons Tod“ und dem „Hessischen Landboten“ ergänzt und daraus eine kluge Spielfassung gestrickt. Hinzu kommen noch originale Rap Lyrics von Abdul Aziz al Khayat (Woyzeck) und Tabea Buser (Marie).

Wer in der Inszenierung den Tod Maries erwartet, sieht sich – zurecht – getäuscht. Marie ist in dieser Inszenierung nicht Opfer, sondern eine Frau, die sich emanzipiert dem den patriarchalen Gedanken ihres Ehemannes Paroli bietet.


Tabea Buser, Abdul Aziz Al Khayat, Foto: Maximilian Borchardt

Großartig der Battle-Rap zwischen den beiden Eheleuten mit von den Darstellern Abdul Aziz al Khayat (Woyzeck) und Tabea Buser (Marie) selbstverfassten Texten. „Fick dich, Franz! Adieu Büchner!“ schreit Marie ihrem Ehemann und dem KI-generierten Dichter auf LED-Großleinwand entgegen, bevor sie am Ende die Bühne verlässt und sich ins abendliche Treiben der Stadt Wiesbaden stürzt und die beiden Männer hilflos zurücklässt.

Damit ist dieser Schluss eine radikale andere Setzung, als die von Büchner nach seiner Flucht in die Schweiz 1836/37 angedachte. Der Theaterabend wird eröffnet mit der Ansprache an das Publikum von einem, auf den Theatervorhang projizierten, KI-generierten Georg Büchner, mit Texten aus seiner Streitschrift „Der Hessische Landbote“, in der er die Privilegien der Reichen beklagt und sich für eine Veränderung der Verhältnisse ausspricht.

Damit ist der Grundton eines Blickes auf Gesellschaft und gesellschaftlicher Veränderung gesetzt. In dieser Inszenierung gelingt es zumindest Marie, aus verkrusteten Verhältnissen auszubrechen und sich zu befreien.

Bei ihrem ersten Auftritt auf die Bühne liefert sie gesanglich den Background für den selbstgefälligen und affektierten Tambourmajor, um danach selbstbewusst auf dem Laufsteg ins Publikum mit einem Text über die Langeweile aus Büchners „Dantons Tod“ zu beeindrucken.

Abdul Aziz Al Khayat (Videoscreen), Adi Hrustemovic, Foto: Maximilian Borchardt

Die Fassung von Stefan Pucher und Dramaturgin Hannah Stollmayer, die der Wiesbadener Inszenierung zugrunde liegt, thematisiert zwar auch das Schicksal des in prekären Verhältnissen lebenden  Paares und die Sehnsucht Maries nach einem besseren Leben an der Seite eines Mannes, weitet aber den Horizont – im wahrsten Sinne auch durch das Bühnenbild einer kalten Berglandschaft im Hintergrund – mit Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse und den beschränkten geistigen Horizont mancher Figuren und deren Funktion.

Hierfür stehen die Szenen mit dem sadistischen Arzt (Adi Hrustemovic), dem tumben Hauptmann (Christian Klischat) und dem eingeblendeten Chor maskierter Wutbürger. Und auch das Gender-Thema wird eingelöst: der Tambourmajor hat eine queere Ausstrahlung und ist somit gegen die Erwartungshaltung inszeniert und die Figur des Andres wird von einer Frau (Klara Wördemann) gespielt.

Ein Höhepunkt der Inszenierung besteht in der filmisch gekonnten Verschränkung eines vorproduzierten Videos maskierter Chorsänger in wutbürgerlicher Attitüde mit Gesprächssituationen zwischen Arzt, Hauptmann und Woyzeck. In seiner Wirkung gleichzeitig beeindruckend und bedrohlich werden hier möglicherweise Parallelen zwischen der Staatskritik Büchners und rechtsradikaler Infragestellung der Bundesrepublik angedeutet.


Lennart Preining, Foto: Maximilian Borchardt

Das letzte Wort in der Inszenierung hat der KI-generierte Büchner, der sich noch nicht recht anfreunden kann mit dem geänderten Schluss und der Freiheit der Marie. Danach großer und verdienter Beifall vermischt mit Bravorufen im Großen Haus des Staatstheaters Wiesbaden für diese Inszenierung eines Klassikers mit zeitbedingten Akzenten.

In der von mir besuchten Vorstellung (18.10.24) war das Haus gut besucht und wenig von einem doch zu erwartenden jugendlichen Publikum zu sehen. Die Älteren mussten es richten.

Nächste Vorstellungen am 30.11.2024 / 16.01. + 12. + 29.03. + 3.04.2025

https://www.staatstheater-wiesbaden.de/spielplan/a-z/woyzeck/

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