Feier des Lebens – „im Angesicht des Todes“ im Jüdischen Museum Frankfurt (2)
Dem Tod ein Gesicht geben und ihm Leben einhauchen
von Christian Weise
Dialogisch ist die neue Wandelausstellung des jüdischen Museums angelegt. Drei Jahre lang erkundete Kuratorin Sara Soussan die Frankfurter jüdischen Friedhöfe. „Willst Du eine Stadt verstehen, besuche ihre Friedhöfe“, hatte mir vor Jahren ein Freund im ukrainischen Uschhorod geraten. „Frankfurt ist ein Ort mit einer reichen jüdischen Geschichte“, so betonte vor dem Rundgang Frankfurts Bürgermeisterin Nargess Eskandari-Grünberg. Wie die erste kulturgeschichtliche Ausstellung des Jüdischen Museums Frankfurt entstand, die zum 1. November 2024 eröffnet wurde.
Der Tod als Begleiter in den Aquarellen von Else Meidner, Foto: Christian Weise
Im Verlauf der Konzipierung der Ausstellung befragte die Gattin des Frankfurter Rabbiners Soussan vor allem Kinder und Jugendliche, die einen wichtigen Anteil an den künftigen Besuchern der Ausstellung ausmachen sollen, zum Thema. Dazu Eden, 8 Jahre alt: „Ich sehe ein Skelett und einen Weltglobus. Ich denke, dass das Skelett sehr lange überlegt. Ich denke, das Skelett sitzt draußen und recherchiert, welchen Menschen es als Nächstes holen soll. Das Skelett sitzt im Himmel und fasst sich mit der Hand ans Kinn und überlegt. Es guckt so, als ob es was im Schilde führt.“ Unterhalb der Bildlegenden finden sich nun als Ergebnis des Audience Development Projects kluge Kommentare mit Vermutungen und Fragen, welche die Besucher zum eigenen Nachdenken einladen.
Die Kuratorin Sara Soussan in einer komplexen Rauminstallation, Foto: Christian Weise
Was ist zu sehen, was zu erleben? Durch fünf Räume mäandert der Besucher – hin zum Licht. Der rote Faden im Labyrinth der Ausstellung ist nämlich nicht das Loch abgrundtiefer Depression, sondern das Licht oder das Leben. „Sehen Sie da hinten, am Ende des Ganges, ist in der Lichterkette von Eliyahu Fatal hebräisch zu lesen „heheh“, „kann es sein“. Das gleiche hebräische Verb wie am Anfang der Heiligen Schrift: „Und es werde Licht“ …
Die Räume und Gänge sind lehmfarben gestaltet, denn: „Aus Erde bist Du genommen…“ (Gen 3,19). Das Offenbacher Künstlertrio YRD.works hat zum zweiten Mal das Museum konzeptionell unterstützt … Die Gänge versetzen die Besucher zurück in eine andere Welt, vielleicht in die der Stadt Ur oder mehr noch die des ägyptischen Exils?!
Geheimnisvoll schimmern die Lettern durch den Perlenvorhang, Foto: Christian Weise
Eingefangen werden die Besucher in der ersten Station von Zeugnissen, also Büchern, genauer: Bänden der Pessach-Haggada mit Abbildungen des Todesengels darin. Anders als der Schöpfer, dessen Name aus Gründen der Heiligkeit und des Respekts gegenüber dem Lebensprinzip in der jüdischen Tradition nicht zu nennen und der nicht bildhaft darzustellen ist (deswegen die „Unreinheit“ des Blutes, deswegen die sog. Tabus um Lebensanfang und Lebensende, deswegen die sprachlichen „Lösungen“ in apophatischer oder paradoxer Sprache), stehen wir Menschen vor den namhaft zu machenden und abbildbaren Todesengeln. Im besten Falle ist solch ein Engel ganz Aug.
Engel mit den vielen Augen aus der Pessach-Haggada von Simmel Sofer (1719), Foto: Christian Weise
Der Prototyp des Todesengels ist bekannt aus Ex 12,23. Aus der Geschichte entwickelte sich die Pessach-Haggada, zu deren Lektüre sich ein Frage-Antwort-Spiel etabliert hat: „Was unterscheidet…“
An den Engeln ist abzulesen, was auch Menschsein ausmacht, nämlich einen Namen zu tragen, beim Namen gerufen und erinnert zu werden. So sind wir alle eingetragen in das „Buch des Lebens“ und können und müssen erinnert werden. In Fällen katastrophalen Ausmaßes, zu den der Holocaust zählt, und wo die Namen oft nicht überliefert sind – auch wenn es jeweils umfangreiche Namensbücher von Umgekommenen gibt – werden stattdessen die Orte des Grauens memoriert:
„Und gelobt. Auschwitz. Sei. Maidanek. Der Ewige. Treblinka. Und gelobt. Buchenwald. Sei. Mauthausen. Der Ewige. Belzec. Und gelobt. Sobibor. Sei. Chelmo. Der Ewige. Ponary. Und gelobt. Theresienstadt. Sei. Warschau. Der Ewige. Wilna. Und gelobt. Skazysko. Sei. Bergen-Belsen. Der Ewige. Janow. Und gelobt. Dora. Sei. Neuengamme. Der Ewige. Pustkow. Und gelobt…“ (André Schwarz-Bart, Der letzte der Gerechten. Fischer-TB 2200, Frankfurt 1979, 376).
Vielleicht auch in Erinnerung an die fünf Phasen des Trauerns ziehen die Besucher der Ausstellung durch insgesamt fünf Räume: 1. Das Angesicht des Todes. 2. Sterben. 3. Beerdigung. 4. Trauer. 5. Olam Haba – die kommende Welt (Jenseitsvorstellungen).
Besonders eindrucksvoll finde ich in Station 3 die nur grob zusammengeschneiderten weißen Totenkleider, sie spiegeln in der Ausstellung jedenfalls das weiße Licht. Neu waren für mich, dass den Verstorbenen Tonscherben auf Augen und Mund gelegt werden, der verstorbene Leib als „ein gebrochenes Gefäß“. Als Beigabe ein Säckchen Erde aus Israel.
Traditionelles jüdisches Begräbniskleid aus weißem Leinen, Foto: Christian Weise
Tonscherben, Foto: Christian Weise
Zentral und richtungsweisend ist bei der Beerdigung das Gebet – dazu später noch einmal. Das „Kaddisch“, der in Aramäisch (als besonders heiliger Sprache) gehaltene Lobpreis des Schöpfers, das den frommen Alltag jüdischer Menschen begleitet, wird auch im Angesicht des Todes und am Grab gebetet. Angesichts des Todes, also paradox der Verweis auf den Schöpfer und das Leben.
Das Kaddisch, das Totengebet, Foto: Christian Weise
„Erhoben und geheiligt werde sein großer Name auf der Welt, die nach seinem Willen von Ihm erschaffen wurde, sein Reich erstehe…“
Daneben gibt es weitere Gebete, so das Gedenkgebet „Jiskor“ für Angehörige und das „El Male Rachamim“, ein Gebet zu Bestattungen und zum Gedenken an Opfer von Kreuzzügen, Pogromen, Krieg, Holocaust.
Im christlichen Kontext stünde an der Stelle des Kaddisch-Gebets vielleicht der letzte Segen oder die letzte Ölung – eine andere Tradition. In der Familie der lutherischen Professoren Seebaß, so erzählten diese, sang man am Sterbebett der Mutter alte (nicht gruppendynamisch-neue) Kirchenlieder.
Die Ausstellung gilt als kulturgeschichtliche Ausstellung, tatsächlich findet aber im Verlauf des Besuchs aber eine „Metabasis eis allo genos“ statt, ein Verlassen enzyklopädischer oder mentalitätsgeschichtlicher Aufzählungen wie bei Philippe Ariès und anderen: es werden zusätzlich zu der Installation, die bereits die Gestaltung der Räume an sich darstellt, aktuelle Kunstwerke von elf zeitgenössischen Künstlern dialogisch einbezogen: ein großer Reichtum verschiedener Kunstformen!
Auch die Ausstellungsmacher arbeiten also wie der Schöpfer selbst mit dem vorhandenen „Lehm“, nutzen auf den ersten Stationen vorhandene ausdrucksstarke Gemälde des Museumsfundus – die Gemälde Felix Nussbaums und Else Meidners – und präsentieren dann zeitgenössische jüdische Kunst. Eine Kunst der Resilienz?!
Eindrucksvoll ist das Spiel Asaf Gam Hacohens, der nach Camera-Obscura-Installationen von Masken seiner selbst und seines Vaters in einer Projektion die Totenmaske seines Großvaters an der Wand lebendig werden lässt, Leben und Tod durchdringen einander. Das Lebendigwerden von Masken oder Plastiken, das künstlerisch schon öfter inszeniert wurde, weist zurück auf antikes Denken, wo der Begriff Person und Maske zusammenhängen.
Asam Gam Hacohens Totenmaske, Foto: Christian Weise
Anders als das Festhalten der Person in Form einer Totenmaske ist die Form des Trauerns bei der die trauernde Person sich das Kleid – und Männer vielleicht das Hemd? – einreißen.
Das eingerissene Kleid der Trauernden, Foto: Christian Weise
Verschleiert nur ist die Geschichte des leidenden und zu betrauernden Rabbi in einer interessanten Stickerei auf Seidenorganza von Jaqueline Nichols zu sehen: „Rebbe’s Maid“ (die Magd des Rabbi, 2012). Dieser weise erkenntnistheoretische Gedanke nur schleierhaften Erkennens des Abschiedes, des Schöpfers überhaupt und damit auch seines Geschöpfes findet sich in beiden Teilen der Heiligen Schrift (bspw. Ex 33,11, Num 12,8 und 1 Kor 13,10, Apk 22,4).
„Rebbe’s maid“ – Bestickter Seidenorganza, Foto: Christian Weise
Eine weitere Form der Trauerarbeit ist gegen Ende des Ausstellungsverlaufs die multimediale Installation der aus dem ägyptischen Alexandria emigrierte Ilana Salama Otar: Historical Metamorphosis: From TODT to Grand Arénas. Sie zieht gewissermaßen die Geister auf Flaschen, in einer Glaskapsel etwa eine Kreuzstichstickerei ihrer Großmutter. In einer komplexen Rauminstallation verbindet sie auf Basis ihrer Familiengeschichte Aspekte zu Leben, Tod und Jenseits. Eine intensive Arbeit am Tod und am Leben.
Das Thema ist also – auch – die Beschäftigung der Enkel mit dem Leben und Tod der Großeltern – auch anderswo bekannt.
Steht man vor den zeitgenössischen künstlerischen Installationen zum Thema Tod, so ist man begleitet von hellem Licht, das von oben, von der Seite oder in Form der bereits erwähnten Lichterkette zurückblickend strahlt. Das helle Licht aus dem Deckenschacht wie auch großflächig von der Wand erinnert an Lichttherapie-Lampen, die manche Menschen als Aufheller gegen Verstimmungen sich aufstellen. Der Tod ist die größte Verstimmung! Als Konzentration, als Ursprung des großen Lichtes, vielleicht als Spiegel eines Urlichtes gilt das Jahrzeitlicht (Ner Neshama), einmal als Skulptur „Ahran“ von Tobi Kahn (1997) und ebenso als einfache Kerzen oder elektrische Jahrzeitlichter.
Verschiedene Jahrzeitlichter, auch elektrisch betrieben, Foto: Christian Weise
Wie bereits in früheren Ausstellungen lädt das Museum wieder zum Mitmachen ein. Nachdem zuvor bereits zum Lesen in dem Buch des Czernowitzer jiddisch schreibenden Itzik Manger, Das Buch vom Paradies eingeladen wurde, wo das ostjüdisch-chassidisch beschriebene Leben im Paradies noch ein Gran schlimmer erscheint als auf Erden, landet der Besucher vor Gedenksteinen, wie sie auf jüdische Gräber gelegt werden, die beschrieben und bemalt werden dürfen.
Möglichkeit, Gedenksteine, die auf das Grab gelegt werden, hier individuell zu gestalten, Foto: Chrsistian Weise
Im Rücken zum Schreibenden befindet sich ein Gedenkraum, gehalten in einem kräftigen blau, blau wie der Himmel, blau wie der Ozean, aus dem alles geschaffen sein mag, womit die Schöpfung begann.
Im Zusammenhang mit der Ausstellung ist eine Reihe von Interview-Filmen entstanden, es gibt einen Podcast (ab 2025), eine kuratierte Playlist auf Spotify. Ein Mediaguide und ein Ausstellungskatalog helfen dabei, in jüdische Vorstellungen und Praktiken rund um Sterben, Tod und Trauer tief einzutauchen. Insgesamt umwebt die hier nur fragmentarisch beleuchtete Ausstellung eine Vielzahl von medialen Zugängen, die in Vorbereitung oder Nachbereitung des Besuchs das Thema weiter erschließen und in das Antlitz des Todes blicken lassen. Um wirklich alles zu erfassen, wünschte man sich die vielen Augen des eingangs erwähnten Todesengels.
Katalog: Erik Riedel, Sara Soussan, Mirjam Wenzel, Im Angesicht des Todes. Hentrich&Hentrich, Leipzig 2024. 199 S. ISBN 978-3-95565-672-0. 28 €. (Der Katalog ist – ähnlich wie die Mediaguides auch auf Englisch erhältlich).
Was leicht ist:
Schmunzeln lassen die Nachrufe, die Bertha Pappenheim Ende der 1920er Jahre auf sich selbst verfasst hat, abgedruckt in den Blättern des Jüdischen Frauenbundes 1936.
Zeitungsartikel mit Nachrufen Bertha Pappenheims, Foto: Christian Weise
Was schwer ist und doch leicht:
Erinnert hat mich die Erwähnung des Kaddischs und der anderen Gebete im Angesicht des Todes sogleich wieder an Manès Sperber.
Gegen Ende seines Romans bittet der totkranke Bynie, Sohn eines Rabbiners, selbst nicht an ein Jenseits und die Unsterblichkeit der Seele glaubend, wohl aber an das ewige Leben und die Wiederauferstehung, und der im Angesicht des Todes zu einer Art Wunderrabbi oder Lamed-waw-Zaddik wird, seinen Freund, mit ihm ein Gebet zu sprechen, dessen er sich nicht mehr erinnern konnte: das Bekenntnis des Sterbenden. Als jener traurig antwortete: „Aber Bynie, du weißt ja, ich kenne kein einziges Gebet. Ich habe das Totengebet notiert, wie du es mir diktiert hast, das meinst du doch nicht“, da erwidert Bynie: „Armer Mensch! Ihr bleibt ganz allein, wie werdet Ihr ohne Gebet leben können?“ Sperber schließt: „Er sank zurück. Tränen des Mitleids näßten noch seine Wangen, als er starb.“
Zuvor aber hatte Sperber den jungen sechzehnjährigen „Rabbi“ nach einer Schlacht im fiktiven Ort Wolyna wichtige Worte über den Tod sprechen lassen:
„Weil der Tod leer ist, kann man ihn mißachten. Und deshalb ist auch das Töten eine Handlung ohne Sinn. Ich habe das so gut gemerkt bei dieser Schlacht im Wald und dann im Stollen. Ihr könnt es Euch selbst beweisen… Versucht es einmal, eine Schlacht zu beschreiben, und ihr werdet merken, daß alle diese Taten zusammen so wenig bedeuten und so gestaltlos sind wie eine Träne im Ozean.“ (Manès Sperber, Wie eine Träne im Ozean. dtv, München 1980, 952 bzw. 947.)
Der Friedhof heißt im Hebräischen „Bet ha-Chajim“, „Haus des Lebens“.
Museumsdirektorin Prof. Dr. Mirjam Wenzel strahlt Zuversicht aus, Foto: Petra Kammann
Leib Rosenthal schrieb 1943 im Ghetto von Wilna seinen Leidensgefährten Mut machend das Lied, mit dem auch Museumsdirektorin Mirjam Wenzel die Ausstellung eröffnete: „Mir leben eybik, mir zenen do“.
→ „Im Angesicht des Todes“ – Eine kulturgeschichtliche Ausstellung im Jüdischen Museum Frankfurt (1)