Marvin E. Newman und sein US-Reich der Farb-Fotografie
Außergewöhnlicher Blick auf the american way of life – Ein opulenter Bildband
Von Uwe Kammann
Jeder Liebhaber kennt sie, die großen Namen der amerikanischen Fotogeschichte, seien es Anselm Adams, Alfred Stieglitz, Robert Frank oder Edward Steichen. Sie alle haben ihre eigenen Legenden, ja, ihre Mythen, begründet. Und nicht nur fundamental den künstlerischen Rang eines in den Anfangsjahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts noch immer neuen Mediums begründet und geprägt, sondern – wie Walker Evans – auch tief in die Gesellschaft hineingewirkt. Das Gesamtbild, das sich in unseren Augen aus den Abertausenden von Fotos in immer neuen Facetten zusammensetzt, hat dabei vornehmlich eine Konstante: Es ist eine Komposition aus den Grundfarben schwarz und weiß – mit allen (oft dramatisierenden) Stufen dazwischen.
Und gerade, hochaktuell, finden die USA-Fotos eines deutschen Fotografen große Aufmerksamkeit. Auch sie sind schwarz-weiß, so, als ob keine andere Form das transportieren könnte, was der Titel ausdrückt: „The End is Near, Here“. Das nahende Ende – eines verrottenden Landes, einer mit den jetzigen Präsidentschaftsftswahlen bevorstehende Apokalypse: eine solche Negativvision scheint die abstrahierende Strenge des Farblosen zu verlangen, dem die beglaubigende Kraft des Dokumentarischen zugeschrieben wird.
Doch genau jetzt ist ein Fotograf (wieder-)zuentdecken, der sich nie um das vermeintliche Dogma gekümmert hat, dass Fotos schwarz-weiß sein müssten, um den Rang des Künstlerischen zu erlangen. Obwohl er selbst großartige Bilder in der Skala aller zwischen schwarz und weiß angesiedelten Grautöne gemacht hat – manche davon mit starken Kontrasten in graphischen Kompositionen –, stellte er schlicht fest: „Wir sehen in Farbe, so ist schwarz und weiß ein Hindernis, um die Welt darzustellen“.
Komprimierte Bilder des american way of life
Die Rede ist von Marvin E. Newman, einem Fotografen, dem keine Aufgabe, kein Genre in diesem Metier fremd war, der in seiner Profession alles abdeckte, von der journalistisch geprägten Straßenfotografie über Mode und Werbung bis zum Sport. Die großen Magazine wie Life, Time, Sports Illustrated Sports waren sein berufliche Heimat, die er als vielreisender Reporter blendend bediente. Aber zugleich war er derjenige, der in unnachahmlicher Art das aufspürte und darstellte, was als Urbild des american way of life gesehen werden kann. Eben so, wie sich der Großteil des Publikums das amerikanische Leben vom Ende der 1940er Jahre bis zu den 90ern in Kernbereichen ausmalte und wie es – als ob es seinem eigenen Klischee folgte – die Vorstellungen auch in Europa bestimmte.
Allesbeherrschendes Zentrum dieser Einschätzung war natürlich New York, noch in jedem Schulbuch als der Tag und Nacht dynamische Schmelztiegel der Welt bezeichnet. Wie sich dies in Bildern verdichten lässt, das hat seit Anfang der 50er Jahre kein Fotograf besser geschafft als Newman, der selbst 1927 in New York Geborene. Das Rot, Gelb, Goldene und Gleißende des Straßenbildes, die schrillen Kontraste, die grellen Farbmischungen: Das alles strahlt aus jedem Quadratzentimeter seiner Bilder. Und genau dies wird in der gerade erschienenen Monographie aus dem Taschen-Verlag in geradezu atemberaubender Präsenz zu einem facettenreichen Großbild der Stadt, die gerne Big Apple genannt wird.
Der kleine Kalauer sei gestattet: Das New York, das hier – ja, so muss man es sagen – zelebriert wird, ist auf jeder Seite zum Anbeißen. Aber nicht auf eine oberflächlich genießende Art, sondern in jedem Sinne kernig-authentisch, mit einer eigenen Härte, mit einem unerbittlichen Sinn für das Innere der Bilder, das vom Äußeren bestimmt wird. Zu dem eben unablösbar als Eigenschaft gehört: die Farbe, die Farben.
„Eine neue Form der Schönheit“
Lyle Rexer – renommierter Kunshistoriker, Kurator und Publizist – arbeitet das in seinem einführenden Essay überaus erhellend heraus. Newman verwende die Farbe ganz aktiv, sogar chaotisch und genau so, wie die Realität das Auge herausfordere. In seinen ersten Aufnahmen vom Times Square und vom Broadway behandele er die Lichtreklamen und Werbetafeln als „visuellen Karneval“. Was die Bilder gegenüber den bis dahin üblichen Schwarz-Weiß-Fotos an Stimmung und graphischem Kontrast verlören, gewönnen sie an Dynamik und Theatralität. Mit diesem sichtbar Reißerischen und Blendenden entstehe eine „neue Form der Schönheit“.
Zu erfahren ist bei Rexer auch, dass Newman bei seinem 1949 aufgenommenen Studium am Institute of Design in Chicago durchaus noch mit den grafisch-strukturellen Eigenheiten des klassischen Schwarz-Weiß gearbeitet hat, dass er beeindruckt war vom dort lehrenden Bauhaus-Emigranten László Moholy-Nagy oder auch von André Kertész. Allerdings gab es am Institut auch mit Arthur Siegel einen frühen Pionier, der mit Farbfilm experimentierte – eben zu einer Zeit, als Schwarz-Weiß die absolut vorherrschende Sprache für alle Formen der Fotokunst war.
Dass Newman diese „model language“ (Rexer) beherrschte, und zwar in Vollendung, das zeigt eine Reihe von Aufnahmen in der jetzigen Monographie. Sie reichen von rein graphischen Mustern – so bei sich kreuzenden Zäunen oder sich perspektivisch verengenden Eisenbahnschienen – bis zu nüchternen Straßenszenen. Die wiederum sind eindrücklich, zeigen neben Alltäglichem auch Armut, Bedrohung, Elend.
Der Fotograf ist nicht teilnahmslos, sondern begegnet den Menschen mit Empathie, beweist sensibles Hinschauen in seinen dokumentierenden Aufnahmen. Aber er ist kein zorniger Ankläger, versteht sich nicht als Sozialkritiker hinter dem Objektiv, so wie andere, die gerade aus dieser Haltung heraus bis weit in die 60er Jahre hinein auf das dramatisierend-abstrahierende Schwarz-Weiß setzen.
Neue Techniken fördern einen plakativ-expressiven Farbstil
Doch da hatte Newman schon längst den neuen Weg beschritten, nutzte er die sich bietenden technischen Möglichkeiten wie die der Ektachrome-Filme, die seinem plakativ-expressivem Farbstil entgegenkamen. Aus diesem Grund nutzte er auch anfangs eine Großbildkamera, mit der er seine Qualitätsvorstellungen beim Negativmaterial realisieren konnte. Später allerdings setzte auch er auf die situationsflexiblere Leica, nutzte auch das Mittelformat, wobei er die Rolleicord als „billigere Schwester“ der zweiäugigen Rolleiflex vorzog (von der damals weitverbreiteten deutschen Spitzentechnik ist nur Leica erhalten).
All’ das zeigt: Marvin E. Newman war alles andere als ein formen- und modellkonstanter Dogmatiker, sondern er passte sich den Situationen kreativ an, wie bestens zu sehen in seinen zwischen Schwarz-Weiß und Farbe wechselnden Aufnahmen aus dem New-York der 1950er Jahre, aber auch in den späteren Phasen mit wechselnden Sujets, so auch den großen Sportereignissen wie dem uramerikanischen Basketball. Immer konnte er auf seine Intuition bei der Erfassung der jeweiligen Szenerie vertrauen.
Er habe begonnen, die Welt unter fotografischen Gesichtspunkten zu sehen, in einem rechteckigen Rahmen, so, als ob die Dinge gerade für ein Foto gemacht wären, wird er in einem Begleittext zitiert. Er hält dabei Alltagsmomente in einer Selbstverständlichkeit fest, wie es der große französische Fotograf Robert Doisneau zeitlebens tat, dem der Taschen-Verlag kürzlich ebenfalls eine monumentale Monographie widmete.
Eigene Strategie der visuellen Verdichtung
Sobald aber Farbe ins Spiel kommt, ist sie tatsächlich ein entscheidender Faktor, welcher der Wiedergabe und der Interpretation der äußeren Wirklichkeit einen weiteren Schub gibt und deren Eindringlichkeit mit einer eigenen Strategie der visuellen Verdichtung erhöht. Dies zeigt sich ganz unabhängig von einem so eindeutigen Farb-Ort wie New York. Nevada, Las Vegas, Kalifornien, Chicago, West Coast, The Heartland, Alaska: Jedes Mal teilt sich eine spezielle Dramaturgie des Sehens in Farbe mit. Das gilt auch für das (damals völlig ungewohnte) Vergegenwärtigen einer ganz eigenen, eher warm-alltäglich anmutenden Atmosphäre in einem Bordell. Nichts Voyeuristisches oder Exhibitionistisches ist hier zu sehen, sondern eine anteilnehmende Neugier.
Wer den großformatigen Band in die Hand nimmt, möchte bei jedem Bild anhalten, es kommentieren, die Zeitsituation ebenso enträtseln und beschreiben wie das Stilistische und das Dramaturgische charakterisieren. Und unaufhörlich ließe sich zitieren aus dem einführenden Essay, weil dort die universellen Möglichkeiten der Fotografie ebenso aufgehellt werden wie natürlich auch das besondere, in seinem Wert noch gar nicht gleichrangig aufgenommene Werk Newmans kenntnisreich und genau beschrieben und gewürdigt wird. Ein Wertmutstropfen für alle deutschen Leser: Dieser Text, ebenso wie die dazugehörigen knappen Einleitungen zu den bis in die Mitte der 80er Jahre reichenden jeweiligen Zeit- und Sujet-Abteilungen (Newman selbst starb 2023), sind alle auf englisch. Verzichtet wurde zudem auf individuelle Bildlegenden.
Aber das damit transportierte Universelle der Aufnahme verdichtet womöglich unsere Annäherung an ein Amerika, wie Newman es wahrgenommen und dargestellt hat. Ein Amerika, das natürlich vergangene Zeitschichten offenbart. Und das doch viele tief eingeprägte Zeichen in die neue US-Gegenwart sendet, die sich so stark verändert hat. So dass wir uns die Frage stellen: Wie hätte Newman – der als ‚Klassiker’ im Museum of Modern Art gezeigt wird – wohl dieses heutige Amerika gesehen?
(Alle Rechte an den hier veröffentlichten Bildern liegen beim Taschen-Verlag)
Marvin E. Newman,
Photographs 1949 – 1983
Hardcover, 25 x 36 cm
Ausgabe: Englisch
240 Seiten, 2.66 kg
60 €
taschen.com
https://www.taschen.com/de/books/photography/02204/marvin-e-newman/