Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2024 für Anne Applebaum
Friedenspreisträgerin Anne Applebaum plädiert gegen einen Pazifismus als Wunschdenken
Von Uwe Kammann
Eindringliche Mahnungen in der Paulskirche – Die Historikerin und Publizistin ruft zum Kampf gegen Autokratien auf.
Friedenspreisträgerin Anne Applebaum erhielt die Urkunde von Börsenvereinsvorsteherin Karin Schmidt-Friderichs, Foto: Tobias Bohm
Hatte es das schon einmal gegeben, nämlich die Erwähnung einer wichtigen biographischen Station, welche zugleich die Preisgabe eines persönlichen Irrtums war? Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, bekannte in ihrem Grußwort bei der diesjährigen Verleihung des Friedenspreises in der Paulskirche, dass sie 1982 zu den vielen Hunderttausend gehörte, welche gegen die Stationierung von Raketen in Deutschland protestierten.
„Friedenssicherung durch gegenseitige Bedrohung mit Massenvernichtungswaffen – so wollte ich nicht leben “, sagte sie im Wissen darum, dass Anne Applebaum, die an diesem Sonntag mit dem wichtigsten deutschen Kulturpreis geehrt wurde, in vielen Büchern eine ganz andere Position vertreten hat und auch jetzt wieder in ihrer Dankesrede einnehmen würde. Nämlich, dass Pazifismus nicht unbedingt für Frieden steht oder zu Frieden führt.
Vorsteherin Karin Schmidt-Friderichs verglich ihre eigene politische Entwicklung mit der der Preisträgerin, Foto: Petra Kammann
Wie viele der Gäste dieses jährlichen Hochamtes des auch immer hochpolitischen Diskurses hätten ebenso sagen können: Ja, auch wir gehörten zu jenen, die auf Verständigung, auf die ständige Anstrengung eines gegenseitigen Austausches und eines offenen Dialogs gesetzt haben, auch dann, wenn die Gegensätze in der Welt nicht nur spannungsreich bis zum Äußersten waren und sind; sondern selbst dann, wenn sie als Konflikte der Systeme in äußerster Gewalt, im Krieg enden können.
Dass eine solche Haltung eher zum Verlust von Freiheit, Würde, Menschenrechten führen kann oder auch tatsächlich führt – wie jetzt beim brutalen Krieg Russlands gegen die Ukraine –, das zog sich dann geradezu beschwörend durch diese Feierstunde in der Paulskirche: in der Laudatio auf Anne Applebaum, in der Dankesrede der Preisträgerin selbst. Und dies in einer Klarheit, die keinerlei Zweifel ließ, wie die demokratischen Gesellschaften auf solche Gewalt, wie sie von autokratischen Regimen ausgeht – ob als stete Drohung oder als tatsächlicher Akt eines Vernichtungswillens – reagieren sollten: wehrhaft in jeder Hinsicht.
Begrüßungsrede von Oberbürgermeister Mike Josef, Foto: Petra Kammann
Schon Frankfurts Oberbürgermeister Mike Josef hielt in seiner Begrüßung ein eindringliches Plädoyer:„Es ist unser aller Pflicht, die Demokratie zu verteidigen, weil sie Menschenrechte, Meinungsfreiheit und ein friedliches Zusammenleben ermöglicht.“ In einer Autokratie erfordere es Mut, sich für diese Werte und Ziele einzusetzen. Feige sei es hingegen, sich in einer Demokratie mit Autokraten gemein zu machen. Karin Schmidt-Friderichs formulierte einen ähnlichen Appell angesichts der realen Bedrohungen: „Wir sollten unsere Ideale an der Realität ausrichten“. Der Krieg in der Ukraine zwinge uns zum Handeln – dies habe sie aus der „schmerzhaften Lektüre“ der jüngsten Bücher der Friedenspreisträgerin gelernt. Sie habe „uns die Augen geöffnet“ und geholfen, „die Welt zu sehen, wie sie ist.“
Irina Scherbakowa, Laudatorin und Mitgründerin der „Memorial“-Organisation, Foto: Petra Kammann
Diese klaren und harten, jegliche reine Friedenssehnsucht als naives Wunschdenken entlarvenden Beobachtungen, wissenschaftlichen Analysen und politisch-moralischen Schlussfolgerungen der Friedenspreisträgerin beschrieb dann Irina Scherbakowa in der Laudatio mit ebenso klaren Worten. Und dies aus tiefster eigener Erfahrung. Denn sie hat als Gründungsmitglied von „Memorial“ erleben und erleiden müssen, dass diese russische Menschenrechtsorganisation (2022 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet) von den Moskauer Machthabern zunehmend unterdrückt und schließlich liquidiert wurde.
So eindrücklich wie schneidend einprägsam beschrieb Scherbakowa ein mit Putins Machtergreifung wieder aufgenommenes russisches Gewaltsystem mit stalinistischer Prägung, basierend auf einer „gefährlichen Sowjetnostalgie, auf falschem Patriotismus und echtem Nationalismus“. Applebaum habe all dies und die imperialistische Rückwärts-Gewandtheit früh erkannt, setze dieser Doktrin und dieser Praxis ein „aufklärerisches Pathos“ mit politischer Relevanz entgegen. Sie belege, dass Putins Ideologie kein Moment des Wahnsinns sei, sondern das „monströse Projekt einer perversen Selbstdefinition“. Auf all’ dies – und auf alle Merkmale des „Putinismus“ – habe Applebaum eine „nüchterne, unsentimentale und illusionsfreie Sicht.“
Die amerikanisch-polnische Historikerin und Publizistin Anne Applebaum bei der Pressekonferenz, Foto: Petra Kammann
Dies verband die Laudatorin mit einem Vorwurf nicht zuletzt an westliche Politiker und Intellektuelle (und deren Kurzsichtigkeit, Opportunismus und Relativismus): Wenn Stimmen wie die Applebaums „im Westen mehr Gehör gefunden hätten wäre es möglich gewesen, Putin viel früher zu stoppen.“ Und – bezogen auf die Zeit vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine: „Hätten Deutschland und die übrigen Nato-Staaten die Ukraine im Vorfeld mit Waffen unterstützt, dann hätten sie eine Invasion vielleicht verhindern können.“ Klar fomulierte Scherbakowa an anderer Stelle: „Um zu verhindern, dass Russland sein autokratisches politisches System verbreitet, müssen wir der Ukraine zum Sieg verhelfen, und zwar nicht nur der Ukraine.“
In ihrer Dankesrede zog Applebaum – amerikanisch-polnische Historikerin und Publizistin – auch Linien in die Vergangenheit, um ihr eindrückliches und eindringliches Plädoyer für einen auf demokratische Werte gegründeten Kampf gegen weltweit zunehmende autokratische und diktatorische Haltungen, Systeme und Strukturen zu grundieren. Und dabei auch unmissverständlich zu fordern, entsprechend mit Waffen gerüstet zu sein und zu operieren. So stützte sie ihre Grundthese mit Rückgriffen auf Immanuel Kant, Thomas Mann, Carl von Ossietzky und die Widerstandsgruppe Weiße Rose.
Der Ruf nach Frieden, so Applebaum, sei auch ein guter Moment um zu betonen, dass „die Lektion der deutschen Geschichte nicht sein kann, dass die Deutschen Pazifisten sein müssen“. Das Gegenteil sei richtig, um aus dem ‚Nie wieder’ die richtige Lehre zu ziehen: „Seit fast einem Jahrhundert wissen wir, dass der Ruf nach Pazifismus angesichts einer aggressiven Diktatur nichts anderes ist als Appeasement und Hinnahme dieser Diktatur.“ Sie zitierte auch George Orwell und den früheren Friedenspreisträger Manès Sperber, der sich angesichts der sowjetischen Bedrohung 1983 gegen damalige Abrüstungspläne in Deutschland und Europa gewandt habe: „Wer glaubt und glauben machen will, dass ein waffenloses, neutrales , kapitulierendes Europa für alle Zukunft des Friedens sicher sein kann, der irrt sich und führt andere in die Irre“.
Applebaum hielt eine engagierte und klare Dankesrede, Foto: Petra Kammann
Applebaum verstärkte ihren Appell immer wieder mit Beschwörungen einer aktiven Teilhabe, um den auch über Vernetzungen zunehmenden Bedrohungen durch autokratische Machtsysteme entgegenzuwirken. Sie wandte sich voller Emphase gegen Tendenzen von Fatalismus und Gleichgültigkeit und die Bereitschaft, „das vom russischen Staat verursachte Blutvergießen und Vernichtungswerk hinzunehmen.“ In ihrer Schlusspassage setzte Applebaum aber auch auf einen übergeordneten, allgemeineren Faktor: „Im Kampf gegen die hässliche, aggressive Diktatur auf unserem Kontinent sind unsere stärksten Waffen unsere Grundsätze, unsere Ideale und die Bündnisse, die wir um sie herum aufgebaut haben.“ Dies in der Hoffnung, dass Freiheit und ein wahrer Frieden möglich seien, „auf diesem Kontinent und überall auf der Welt.“
Standing ovations für die polnisch-amerikanische Historikerin und Publizistin Anne Applebaum, Foto: Petra Kammann
Seit 1950 vergibt der Börsenverein des Deutschen Buchhandels zum Abschluss der Frankfurter Buchmesse den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Preisträger*innen waren unter anderem Sebastião Salgado, Albert Schweitzer, Astrid Lindgren, Václav Havel, Jürgen Habermas, Susan Sontag, Navid Kermani, Margaret Atwood, Aleida und Jan Assmann, Serhij Zhadan und im vergangenen Jahr Salman Rushdie. Der Preis ist mit 25.000 Euro dotiert.