Ausstellung „Siegfried Unseld, der Verleger – Ein Porträt in Briefen“ im Holzhausenschlösschen zu seinem Hundertsten
Der charismatisch vorwärtsstürmende Verleger Siegfried Unseld (1924-2002)
Von Petra Kammann
Für Siegfried Unseld waren Briefe nicht nur eine Arbeits-, sondern auch eine Lebensform, in der er seine Gedanken ordnete und Freundschaften festschrieb. Gemeinsam mit Jan Bürger, Leiter des Siegfried Unseld Archivs am Deutschen Literaturarchiv Marbach, Jonathan Landgrebe, Verleger der Suhrkamp Verlag AG, Clemens Greve, Geschäftsführer der Frankfurter Bürgerstiftung, sowie Kulturdezernentin Ina Hartwig wurde die Ausstellung „Siegfried Unseld, der Verleger – Ein Porträt in Briefen“ am 26. September, kurz vor dem 100. Geburtstag, im Holzhausenschlösschen eröffnet. Dafür wurden 60 seiner weit über 50.000 Briefe ausgewählt, in der sich nicht nur Unselds Karriere spiegelt, seine Ideen, sein kaufmännisches Geschick und seine verlegerischen Ziele, sondern auch die Literatur- und Kulturgeschichte der Bundesrepublik bis zu seinem Tod 2002…
Der Verleger Siegfried Unseld 1983 im Verlag in der Lindenstraße. Im Hintergrund die Säulen des Verlags: Hermann Hesse, Peter Suhrkamp, Bertolt Brecht, Samuel Beckett, Foto: Petra Kammann
Warum findet die Ausstellung denn eigentlich im Holzhausenschlösschen statt? Unselds zweistöckiges Wohnhaus in der Klettenbergstraße 53 mit seinen rund 430 Quadratmetern und dem kleinem Garten wurde gerade an einen Immobilienhändler verkauft. Dort verband der Verleger Wohnen und Arbeiten und wurde von dort aus zu einem der bekanntesten Verleger der deutschen Nachkriegsgeschichte mit Autoren und Autorinnen, Verlegern und Förderern wie Peter Suhrkamp, Hermann Hesse, Bertolt Brecht, Martin Walser, Ingeborg Bachmann, Samuel Beckett, Hans Magnus Enzensberger, Max Frisch, Henry Kissinger. Man müsste die Liste natürlich endlos erweitern. In seinen Briefen spiegelt sich nicht nur Unselds Denken. In ihnen scheint vor allem auch eindrucksvoll und vielfältig die intellektuelle Geschichte der Bundesrepublik von ihren Anfängen an bis zur Jahrtausendwende und darüberhinaus auf.
Autorenwand im Suhrkamp-Haus in der Lindenstraße 29-35 in Frankfurt, Foto: Petra Kammann
Immer wieder waren Autoren und Autorinnen auch in der Klettenbergstraße zu Gast – gewissermaßen unter dem direkten Zugriff des Verlegers. Im Keller hütete er sorgfältig aufgereiht das Archiv des Verlags. Im Parterre fand bis zum letzten Jahr der legendäre Kritikerempfang mittwochs während der Frankfurter Buchmesse statt. Doch lag das Haus seit 2010 in einem gewissen Dornröschenschlaf.
Das funktional schlichte 60er-Jahre-Verlagsgebäude in der Lindenstraße 29–35 im Frankfurter Westend wiederum, einst „erste Adresse im deutschen Geistesleben, Anlaufstelle für Dichter und Denker, Schaltzentrale eines visionären Verlegers und Arbeitsplatz legendärer Lektoren“ (so FAZ-Literaturkritikerin und heutige Piper-Verlegerin Felicitas von Lovenberg), hatte Suhrkamp bereits vor 15 Jahren nach seinem Berlin-Umzug verkauft, ebenso wie das Archiv, welches das Deutsche Literaturarchiv Marbach erwarb. Nach Verkauf und Umbau erinnert in der Lindenstraße nichts mehr an das einstige Suhrkamphaus. Bedeutet das nun das Ende des Frankfurter Verlagskapitels?
Clemens Greve, Leiter der Frankfurter Bürgerstiftung, fühlt sich dem geistigen Erbe Unselds verpflichtet, Foto: Petra Kammann
Nein. Clemens Greve sei Dank. Er war die treibende Kraft, dass die prägenden Gedanken, die den Verleger Siegfried Unseld umtrieben, nun in seinem persönlichen Lebensradius zwischen Nordend und Holzhausenviertel bei der Frankfurter Bürgerstiftung lagern und für jedermann und jedefrau einsehbar und präsent sind. Denn durch eine glückliche Fügung erfuhr der Hausherr des Holzhausenschlösschens, dass Unselds Haus in der Klettenbergstraße zum Verkauf anstand. Greve, selbst aus der Verlagsszene kommend – er hatte im Verlag S. Fischer die Autorin Hilde Domine betreut -, hatte zudem einige Jahre mit Siegfried Unseld im Vorstand der Frankfurter Bürgerstiftung zusammengearbeitet und bereits zum 80. Geburtstag des Verlegers dort eine Ausstellung organisiert, so dass Vieles für ihn vertraut war.
v.l.: Andreas Schubert, Clemens Greve, Jan Bürger vor dem Faksimile des berühmten Unseld-Porträts von Andy Warhol, Foto: Petra Kammann
So sah er in Absprache mit allen Verantwortlichen vom Verlag, dem Literaturarchiv und der Schauspielerin und Autorin Ulla Berkéwicz, die 1990 den Verleger geheiratet hatte und von 2002 bis 2015 selbst als Suhrkamp-Verlegerin agierte und heute Vorsitzende des Aufsichtsrats ist, die Chance der Rettung des Innenlebens der Klettenbergstraße. Kurzerhand verschob Greve seine wohlverdiente Sommerfrische. Denn da half kein Zaudern. Das Haus musste schnellstens geräumt werden, bevor wichtige Dinge im Schutt landeten. Er krempelte die Ärmel hoch und packte Kiste um Kiste mit seinem neuen Assistenten Andreas Schubert, um die Schätze zu bergen und die Ausstellung zu Siegfried Unselds Hundersten nicht zu gefährden und durch Anschauungsmaterial, durch Bücher aus der persönlichen Arbeitsbibliothek Siegfried Unselds sowie durch einige Autorenbüsten aus dessen Privatbesitz, den Schreibtisch, die Eames Chairs und bedeutende Filmdokumente zu ergänzen.
Greve überreichte dem achtjährigen Enkel Siegfried Unselds bei der Ausstellungseröffnung einen Faksimile-Druck von Arnim-Märchen, den Unseld ihm geschenkt hatte, Foto: Petra Kammann
Auch die Eröffnungsredner der Ausstellung in der Frankfurter Bürgerstiftung sind inhaltlich mit der Ausstellung verbunden: allen voran der Leiter des Unseld-Archivs in Marbach Jan Bürger, selbst Literaturwissenschaftler und Schriftsteller, der die parallele Ausstellung in Marbach betreute und eine konzise Auswahl aus den 50 000 hinterlassenen Briefen auswählen musste. Aus den „Mitteilungen des Verlegers“ an seine Autoren und Ermöglicher entstand so in der Bibliothek Suhrkamp – gewissermaßen im klassischen Fleckhaus-Design – eine Art neuer Unseld-Biographie aus 100 Briefen, denn dieser direkte Austausch mit den Autoren hatte für den Verleger absolute Priorität: „Der Verlag, jedenfalls der Verlag, den ich mir denke, mein Verlag, ist eben keine Firma, keine Agentur für Literaturvermittlung, da bin ich, Sie haben ganz recht, Romantiker genug“, hatte Siegfried Unseld an den Schweizer Schriftsteller Max Frisch geschrieben. Im Holzhausenschlösschen, das über weniger Platz verfügt, wurden es dann 60 vom Marbacher Archiv zur Verfügung gestellte Briefe.
Jan Bürger, der Leiter des Unseld-Archivs in Marbach, verweist auf die wichtige Ausgangsbeziehung von Peter Suhrkamp und Siegfried Unseld, Foto: Petra Kammann
Schon als Student hatte Siegfried Unseld Briefe für sich als wichtige Arbeits- und Lebensform entdeckt, die auch seine Freundschaften begleiteten und festigten, und die seine Gedanken ordneten. Und Bürger verwies darauf, dass Unseld so wichtige Persönlichkeiten wie Hermann Hesse oder Peter Suhrkamp in der Nachkriegszeit zunächst schriftlich kennen lernten, bevor sie einander begegneten – so auf seiner Hochzeitsreise zu Hesse – und Unseld sich aus der schwäbischen Kleinstadttidylle befreite. Nach und nach erschloss er sich die westlich-transatlantische Welt, nicht zuletzt durch seine Teilnahme an der Harvard Summer School, wo er auch Henry Kissinger kennenlernte. Auch später dann, als das Reisen und Telefonieren selbstverständlich wurde, legte er gesteigerten Wert auf seine Korrespondenz, wobei aus Effizienz die Schreibmaschine die frühere Handschrift ablöste. Die Diktiergeräte auf seinem Arbeitstisch, die nun im Holzhausenschlösschen stehen, legen davon Zeugnis ab und lassen etwas von Unselds Leidenschaft für das Wort erahnen, das geschriebene wie das gesprochene.
Siegfried Unselds heimischer Arbeitsschreibtisch inklusive der Diktiergeräte, auf denen er etliche Briefe diktierte, Foto: Petra Kammann
Gezeigt werden in der Ausstellung vor allem aber aufsehenerregende Korrespondenzen mit Kolleginnen und Kollegen, Freunden und Bekannten wie Ingeborg Bachmann, Djuna Barnes, Samuel Beckett, Ignatz Bubis, Hans Magnus Enzensberger, Max Frisch, Hermann Hesse, Henry Kissinger, Nelly Sachs, Helmut und Loki Schmidt und Peter Suhrkamp, der ihm nicht nur den Verlag, sondern kurz vor seinem Tod auch eine verantwortungsvolle Aufgabe hinterließ: „Versuchen Sie nie, den Verlag so zu machen, wie ich ihn gemacht habe, das können Sie gar nicht. Versuchen Sie, den Verlag so zu machen, wie Sie es für richtig halten“, hatte er ihm auf den künftigen Weg mitgegeben.
Die drei Eröffnungsredner: Suhrkamp-Verleger Jonathan Landgrebe, Unseld-Archiv-Leiter Jan Bürger und Bachmann-Kennerin und Kulturdezernentin Ina Hartwig, Foto: Petra Kammann
Kulturdezernentin und Bachmann-Kennerin Ina Hartwig verlas ihren Essay „Auf keinen Fall ein Violett!“ aus der Zeitschrift für Ideengeschichte mit dem Schwerpunkt „Unternnehmen Unseld“, in dem sie das hartnäckige und charmante Werben Unselds um die Dichterin Ingeborg Bachmann und deren gescheiterte Beziehung zu Max Frisch ebenso beschrieb wie auch die fruchtbare Zusammenarbeit mit dem Designer und Typografen Willy Fleckhaus, der der progressiven Umschlaggestaltung mit den 48 Farben des Regenbogens und der Bibliothek Suhrkamp mit dem „Luxus einer Linie“ versah, womit er der Bibliothek ein völlig neues Gesicht gab und damit ein Jahrhundertwerk schuf.
Jonathan Landgrebe, der als heutiger Suhrkamp-Verleger gewissermaßen am Scheitelpunkt der Nach-Unseld-Ära steht, schilderte Unseld als einen „aus Ideen vorwärtsstürmenden Verleger“, der kompromisslos dem Ruf der Autoren und Autorinnen folgte und nichts dem Zufall überließ, er unterstrich aber ebenso Unselds Menschlichkeit und Offenheit, die auch ihm selbst ein Fenster eröffnet habe. Es sei dem durchaus traditionsbewussten Unseld nicht nur um das gegangen, „was war“, sondern auch um das, „was kommt“, stellte er lakonisch fest. Dabei erinnerte er an den Tod Peter Suhrkamps 1959, als Unseld unmittelbar reagierte und an Hesse schrieb, um schon an der Zukunft des Verlags weiterzuarbeiten.
Die daraus folgende Geschichte ist hinreichend dokumentiert. Unter Unselds Leitung wurde der Suhrkamp Verlag nicht nur ökonomisch erfolgreich, sondern vor allem auch eine intellektuelle Größe: das vielleicht wichtigste literarische Zentrum der Bonner Republik. Und er hatte „das Glück an seiner Seite“, wie Landgrebe sagte, dank seiner „Menschlichkeit“, die eben in den Briefen zum Ausdruck komme. Und „ich glaube, was wir wirklich brauchen, sind neue Leitbilder“ zitiert er Unselds hellseherische Wahrnehmung aus dem Jahr 1994. In der gegenwärtigen allumfassenden Krise erscheint uns vieles, was uns lieb und teuer war, keinen Halt mehr zu geben. „Freund, Feind, Utopien, alles überholt“, kommentiert Landgrebe knapp die verfahrene Lage, alles „verhakt“. Und es gehe auch heute wieder um eine „Mobilmachung für die Zukunft“.
Der heutige Suhrkamp-Verleger Dr. Jonathan Landgrebe, Foto: Petra Kammann
Er dankte neben den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen vor allem Greve für sein Engagement und kündigte an, dass der traditionelle Kritiker-Empfang nun eine neue Heimat im Holzhausenschlösschen gefunden habe und schloss mit Goethe:„Wir sind da, um das Vergängliche unvergänglich zu machen.“
Möge Landgrebe ebenso dauerhaft „verliebt ins Gelingen“ sein wie sein Vorgänger Unseld, dessen Karriere ähnlich früh begann wie seine eigene, und der sich dabei nicht „verhakte“, sondern beherzt die Schwierigkeiten schlicht aus dem Weg räumte, und die Zeichen der Zeit so kreativ aufgriff! Vielleicht brauchen wir eine neue Suhrkamp-Kultur mehr denn je, die unsere kulturelle ,Gemeinde‘ zusammenhält.
Ort der Ausstellung und „neue Heimat“ für den Kritikerempfang zur Buchmesse: das Holzhausenschlösschen, Foto:Petra Kammann
Die Ausstellung läuft vom 26. September bis Freitag, 22. November, und ist eine Zusammenarbeit des Deutschen Literaturarchivs Marbach, der Frankfurter Bürgerstiftung und des Suhrkamp Verlags.
Sie ist am 28.9. (100. Geburtstag von Siegfried Unseld) von 10:00 bis 18:00 Uhr geöffnet.
https://www.frankfurter-buergerstiftung.de
In der Reihe Salon kontrovers: Briefe – schreiben und lesen geht es an drei Terminen um Briefwechsel, die Siegfried Unseld mit bedeutenden Autoren und Autorinnen geführt hat. Den Auftakt macht eine Matinee am Sonntag, den 29.9. (11:00 Uhr), in der seine Korrespondenz mit Thomas Bernhard im Fokus steht. Stephan Wolf-Schönburg übernimmt die Rolle Unselds, während Wolfram Koch den Part von Thomas Bernhard liest. Konzipiert und eingerichtet wurde die Lesung von Ruthard Stäblein.
Sonntag, 29.9. (ohne Anmeldung), im Anschluss an die Lesung „Salon kontrovers“
Zum 100. Geburtstag von Siegfried Unseld:
Ein Panorama des intellektuellen Lebens der Bundesrepublik Deutschland
Hundert Briefe
Mitteilungen eines Verlegers 1947-2002
Herausgegeben von
Ulrike Anders und Jan Bürger
Die „Zeitschrift für Ideengeschichte“ widmet ihre Herbsausgabe dem „Unternehmen Unseld“, C.H. Beck, 145 Seiten, 20 Euro.
Die Chroniken im Internet sind unter www.siegfried-unseld-chronik.de freigeschaltet. Unter Einhaltung der 30-jährigen Schutzfrist zunächst bis 1993.
Siegfried Unseld Archiv (SUA) in Marbach
Das Siegfried Unseld Archiv (SUA) umfasst die Archive des Suhrkamp Verlags (gegründet 1950), des Insel Verlags (gegründet 1901, 1963 von Siegfried Unseld übernommen), des Jüdischen Verlags sowie des Deutschen Klassiker Verlags. Hinzu kommen die persönlichen Nachlässe der Verleger Peter Suhrkamp und Siegfried Unseld. Das SUA gehört zu den umfangreichsten und bedeutendsten Beständen zur Literatur des 20. Jahrhunderts. Es enthält vor allem Briefe und Manuskripte maßgeblicher Schriftsteller und Gelehrter, darunter Theodor W. Adorno, Ingeborg Bachmann, Samuel Beckett, Thomas Bernhard, Hans Blumenberg, Bertolt Brecht, Ernst Bloch, Paul Celan, Norbert Elias, Hans Magnus Enzensberger, Max Frisch, Hermann Hesse, Hans Henny Jahnn, Marie Luise Kaschnitz, Octavio Paz, Rainer Maria Rilke, Nelly Sachs und Stefan Zweig.