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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Vom Darmstädter „Kreis der Empfindsamen“ zu „Goethes Ruh“ in Bad Homburg – Goethe und Louise Friederike von Ziegler, genannt „Lila“

Zum 275. Geburtstag von Johann Wolfgang von Goethe (2)

Von Erhard Metz

Wir blicken auf das Jahr 1772. Der junge Johann Wolfgang Goethe hatte mit dem Abschluß seines Jura-Studiums in Leipzig und Straßburg lediglich das Lizenziat der Rechte erworben und arbeitete wenig engagiert als Advokat in Frankfurt. Auf mehr oder weniger sanften Druck des Vaters schrieb er sich im Mai zur erwünschten Verbesserung seiner rechtlichen Kenntnisse als Rechtspraktikant beim Reichskammergericht in Wetzlar ein. Doch der Justizbetrieb – Goethe sprach abwertend von „Juristerei“ – am höchsten deutschen Gericht samt Advokatenrobe und Aktenwesen interessierte ihn wenig, hatte er doch bereits von Leipzig und Straßburg und auch von seiner Heimatstadt aus nicht nur Netzwerke zur Welt der Künste, Literatur und Philosophie geknüpft, sondern selbst bereits eine Anzahl von Gedichten verfaßt und an theatralischen Werken, zum Beispiel am „Götz von Berlichingen“ gearbeitet.

Johann Wolfgang Goethe im grauen Kaputkragen mit Haarband im Profil nach rechts darstellend, Anonyme Kupfervignette nach einer Zeichnung von Georg Friedrich Schmoll von 1774; Quelle wikipedia

Jeweils etwa ein Jahr vor bis nach unserem Jahr der Betrachtung 1772 hatte sich in Darmstadt aus höfischen Bediensteten wie Bürgerlichen ein schwärmerischer Freundschaftszirkel, der „Kreis der Empfindsamen“ gebildet. Es war die Zeit des (Hoch)Rokoko, die Damen trugen Robe Volante, die Herren Culotte und Justaucorps, wie auch die Zeit des „Sturm und Drang“. Zum Kreis gehörten Goethes enge Freunde Johann Gottfried Herder, Dichter, Theologe und Philosoph, und der Herausgeber und Schriftsteller Johann Heinrich Merck, der Goethe in diese Runde einführte. Man gab sich dort Kunstnamen, unternahm gemeinsame Spaziergänge, auch zur Nachtzeit, vor allem zum Herrgottsberg „Elysium“ und einem „Weihefelsen“, lauschte Lesungen aus empfindsamen Briefen und Gedichten. Goethe mit den Beinamen „Wanderer“ und „Pilger“ lernte dort unter anderen die Hofdamen Henriette Alexandrine von Roussillon „Urania“, Louise Friederike von Ziegler „Lila“ sowie die Bürgerliche Maria Caroline Flachsland „Psyche“ kennen, die spätere Ehefrau Herders. Der Historiker Klaus-Dieter Metz schreibt: „Man begeisterte sich an Shakespeare, Rousseau und Klopstock, lebte Literatur nach und stilisierte das Leben, schrieb sich Freundschaftsbriefe, weinte sich herzlich und teilnahmsvoll aus, sang und musizierte, ging in die freie Natur, schlief mit Blumen, hielt sich Tiere, aß mit ihnen zusammen, fuhr Boot und hob sich sogar das eigene Grab aus.“ Die „Große Landgräfin“ Caroline von Hessen-Darmstadt war dem Kreis herzlich zugetan und förderte ihn.

Goethe fühlte sich offensichtlich besonders bei den drei genannten Damen wohl und widmete ihnen jeweils Gedichte.

Elysium

An Uranien

Uns gaben die Götter
Auf Erden Elysium.

Wie du das erste Mal
Liebahndend dem Fremdling
Entgegentratst
Und deine Hand ihm reichtest,
Fühlt‘ er alles voraus,
Was ihm für Seligkeit
Entgegenkeimte.

Uns gaben die Götter
Auf Erden Elysium.

Wie du den liebenden Arm
Um den Freund schlangst,
Wie ihm Lilas Brust
Entgegenbebte,
Wie ihr, euch rings umfassend,
In heil’ger Wonne schwebtet
Und ich, im Anschaun selig,
Ohne sterblichen Neid
Darneben stand.

Uns gaben die Götter
Auf Erden Elysium.

Wie durch heilige Täler wir
Händ in Hände wandelten
Und des Fremdlings Treu
Sich euch versiegelte,
Daß du dem liebenden,
Stille sehnenden
Die Wange reichtest
Zum himmlischen Kuß.

Uns gaben die Götter
Auf Erden Elysium.

Wenn du fern wandelst
Am Hügelgebüsch,
Wandeln Liebesgestalten
Mit dir den Bach hinab;
Wenn mir auf dem Felsen
Die Sonne niedergeht,
Seh ich Freundegestalten
Mir winken durch
Wehende Zweige
Des dämmernden Hains.

Uns gaben die Götter
Auf Erden Elysium.

Seh ich, verschlagen
Unter schauernden Himmels
Öde Gestade,
In der Vergangenheit
Goldener Myrtenhainsdämmerung
Lilan an deiner Hand,
Seh mich Schüchternen
Eure Hände fassen,
Bittend blicken,
Eure Hände küssen –
Eure Augen sich begegnen,
Auf mich blicken seh ich,
Werfe den hoffenden Blick
Auf Lila; sie nähert sich mir,
Himmlische Lippe!
Und ich wanke, nahe mich,
Blicke, seufze, wanke –
Seligkeit! Seligkeit!
Eines Kusses Gefühl!

Mir gaben die Götter
Auf Erden Elysium!

Ach, warum nur Elysium!

Goethe im Kreis der Empfindsamen am Herrgottsberg, Kupfertiefdruck nach Aquarell von Hermann Müller 1904, Original 1944 zerstört, Stadtarchiv Darmstadt

Fels-Weihegesang

(An Psyche)

Veilchen bring ich getragen
Junge Blüten zu dir,
Daß ich dein moosig Haupt
Ringsum bekränze,
Ringsum dich weihe,
Felsen des Tals.

Sei du mir heilig.
Sei den Geliebten
Lieber als andre
Felsen des Tals.

Ich sah von dir
Der Freunde Seligkeit,
Verbunden Edle
Mit ewgem Band.

Ich irrer Wandrer
Fühlt erst auf dir
Besitztums-Freuden
Und Heimats-Glück.

Da, wo wir lieben,
Ist Vaterland;
Wo wir genießen,
Ist Hof und Haus.

Schrieb meinen Namen
An deine Stirn;
Du bist mir eigen,
Mir Ruhe-Sitz.

Und aus dem fernen
Unlieben Land
Mein Geist wird wandern
Und ruhn auf dir.

Sei du mir heilig,
Sei den Geliebten
Lieber als andre
Felsen des Tals.

Ich sehe sie versammelt
Dort unten um den Teich;
Sie tanzen einen Reigen
Im Sommerabendrot.
Und warme Jugendfreude
Webt in dem Abendrot,
Sie drücken sich die Hände
Und glühn einander an.
Und aus den Reihn verlieret
Sich Psyche zwischen Felsen
Und Sträuchen weg, und trauernd
Um den Abwesenden
Lehnt sie sich über den Fels.
Wo meine Brust hier ruht,
An das Moos mit innigem
Liebesgefühl sich
Atmend drängt,
Ruhst du vielleicht dann, Psyche.
Trübe blickt dein Aug
In den Bach hinab,
Und eine Träne quillt
Vorbeigequollnen Freuden nach;
Hebst dann zum Himmel
Dein bittend Aug,
Erblickst über dir
Da meinen Namen.
– Auch der –
Nimm des verlebten Tages Zier,
Die bald welke Rose, von deinem Busen,
Streu die freundlichen Blätter
Übers düstre Moos,
Ein Opfer der Zukunft.

Man muß sich heutzutage Zeit nehmen zum Verständnis dieser überschwänglichen Lyrik.

Besonderes Gefallen fand Goethe an der offenbar bildschönen Louise Friederike von Ziegler „Lila“. Sie kam aus waldeckischen Diensten als 21jährige im Zuge der Heirat Friedrichs V. Ludwig, von 1751 bis 1820 Landgraf von Hessen-Homburg, mit Prinzessin Caroline von Hessen-Darmstadt, Tochter der „Großen Landgräfin“ Caroline, an den Homburger Hof, wo sie Hofdame der jungen Landgräfin wurde. Besagte Ehe war aus rein dynastischen und diplomatischen Gründen geschlossen worden, um der dauerhaften Einverleibung Homburgs in die Landgrafschaft Darmstadt zu entgehen. Das Ehepaar lebte über weite Zeiträume getrennt, am Hof herrschte eine angespannte, gefühlskalte, frostige Atmosphäre. Die empfindsame „Lila“, die sich gern als Schäferin verkleidete und wohl auch mit einem Schäfchen spazieren ging, litt sehr unter diesen Zuständen und suchte Trost und Geborgenheit im Kreis der Empfindsamen und sicher auch bei Goethe.

Hofdame Louise Friederike von Ziegler, genannt Lila, spätere Freifrau von Stockhausen; Dokumentation Hessisches Staatsarchiv Darmstadt, Foto: Prof. Siegfried Blasche

Pilgers Morgenlied

An Lila

Morgennebel, Lila,
Hüllen deinen Turm um.
Soll ich ihn zum
Letztenmal nicht sehn!
Doch mir schweben
Tausend Bilder
Seliger Erinnerung
Heilig warm ums Herz.
Wie er so stand,
Zeuge meiner Wonne,
Als zum erstenmal
Du dem Fremdling
Ängstlich liebevoll
Begegnetest,
Und mit einemmal
Ewge Flammen
In die Seel ihm warfst.
Zische, Nord,
Tausend-schlangen-züngig
Mir ums Haupt!
Beugen sollst dus nicht!
Beugen magst du
Kindscher Zweige Haupt,
Von der Sonne
Muttergegenwart geschieden.

Allgegenwärtge Liebe!
Durchglühst mich,
Beutst dem Wetter die Stirn,
Gefahren die Brust,
Hast mir gegossen
Ins früh welkende Herz
Doppeltes Leben,
Freude, zu leben,
Und Mut.

Goethes Turm, von weitem markante Landmarke und Wahrzeichen Bad Homburgs: der Weiße Turm aus dem 14. Jahrhundert im Hof des Bad Homburger Schlosses, Foto Erhard Metz

Nach einem Besuch Goethes bei dem Landgrafenpaar in Homburg, bei dem es mutmaßlich wieder zu einer Begegnung mit Lila kam, die Goethes Zuneigung erwiderte, schickte er im Mai, zurück in Wetzlar, die drei Gedichte an „Psyche“ Caroline Flachsland mit der Bitte, sie an „Lila“ zu übermitteln. Historiker Klaus-Dieter Metz vermutet, dass es nach dem dramatischen Scheitern des Liebeswerbens Goethes um Charlotte Buff im Herbst 1772 zu einer erneuten, jedoch letzten Begegnung mit „Lila“ kam. Der fast schon egomanische, Bindungen scheuende Goethe hatte in seinem „Pilgers Morgenlied“ bei näherer Betrachtung bereits einen Abschied von „Lila“ und Aufbruch zu Neuem – also auch zu neuen Liebschaften, die tatsächlich nicht lange auf sich warten ließen – formuliert: Nebel umhüllt den Turm, den Goethe „zumletztenmal“ sieht; seine Begegnungen mit „Lila“ verlieren sich in „seliger Erinnerung“; zischender „Nord(wind)“ weht das Alte hinweg; „allgegenwärtige Liebe“ bringt „doppeltes Leben“, „Freude“ und „Mut“. Die beiden sahen sich hernach nicht wieder; die so empfindsame Hofdame heiratete später einen (sic!) preußischen Militär und zog vom schönen hessischen Bergland ins – pardon – eher dröge, flache Pommern.

Was nun hat diese nicht allein amouröse, sondern berührende Begegnung mit „Goethes Ruh“ im Bad Homburger Schloßpark zu tun? Goethe hatte die Stadt wohl insgesamt fünf Mal besucht, zuletzt um die Jahreswende 1779/80 auf der Durchreise von der Schweiz nach Weimar. Zu einer „Goethe-Stadt“ konnte Bad Homburg also nicht werden. Dennoch durfte und konnte man anderen Städten und Örtlichkeiten nicht nachstehen, die sich in einer einstigen – und sei es nur kürzesten – Anwesenheit des Genies sonnten bis hin zu der Tafel an einem Hotel, auf der verkündet wird, Goethe habe hier beinahe übernachtet. Es galt also, einen würdigen wie glaubhaften Erinnerungsort zu schaffen. Was lag näher, als dazu eine Lokalität auszumachen, die ein liebendes Zusammensein von Goethe und „Lila“ imaginieren? Eine Senke am südöstlichen Rand des Parks neben der heutigen Erlöserkirche und nahe der Kultgaststätte „Wasserweibchen“ lud in seiner anmutigen Gestaltung dazu ein. Ein um 1790 gemaltes Aquarell des lauschigen, abseits des höfischen Treibens gelegenen Orts belegt es, die Lokalität mag 20 Jahre zuvor kaum anders ausgesehen haben. Nach einer Zeit der Vernachlässigung wurde die Idylle mit dem Namen „Goethes Ruh“ in den 1990er Jahren vorbildgerecht erneuert.

↑ Goethes Ruh, Aquarell der Prinzessin Caroline von Hessen-Homburg, um 1790,, Landesmuseum Rudolstadt, Foto Schloß Bad Homburg
↓ Goethes Ruh heute, Foto Erhard Metz

Erfreuen wir uns an der kleinen Anlage bei unserem nächsten Spaziergang im herrlich gestalteten Bad Homburger Schloßpark und imaginieren wir uns nicht nur ein einziges „Schäferstündchen“ der Liebenden Goethe und „Lila“ an einem solchen Ort!

Anmerkung: Für „Louise“ gibt es, nicht zuletzt zeitbedingt, vielfach die Schreibweise „Luise“ und für „Caroline“ „Karoline“; wir bedienten uns historischer Quellen.

Literatur:

Klaus-Dieter Metz, GOETHE UND HOMBURG „Von da bin ich nach Homburg und habe wieder das Leben lieb gewonnen“, Stadtarchiv, Vorträge zur Bad Homburger Geschichte 1989/99
Marita A. Panzer, Die Große Landgräfin Caroline von Hessen-Darmstadt, Verlag Friedrich Pustet
Cordula Haux, „Eine empfindsame Liebe“. Der Brautbriefwechsel zwischen Caroline Flachsland und Johann Gottfried Herder
Sabine Welsch, Kreis der Empfindsamen, Stadtlexikon Darmstadt
Lothar Baus, Goethes Musengöttin Urania alias Henriette Alexandrine von Roussillon. Die Liebestragödie des jungen Goethe

→  Schicksalsort Gerbermuehle – Goethe und Marianne von Willemer bei seinem letzten Besuch in Frankfurt

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