Schicksalsort Gerbermühle – Goethe und Marianne von Willemer bei seinem letzten Besuch in Frankfurt
Zum 275. Geburtstag von Johann Wolfgang von Goethe (1)
Von Erhard Metz
Gerbermühle, auf 1817 datierte Zeichnung von Sulpiz Boisserée; im Hof singt Marianne von Willemer zur Laute, auf dem Balkon stehen Johann Wolfgang Goethe und Sulpiz Boisserée; Quelle: wikimedia
Die Zeichnung hält eine einzigartige, zugleich berührende Szenerie fest: einen Tag während des letzten Aufenthalts Goethes in seiner Geburtsstadt im Sommer 1815, die er anschließend bis zu seinem Tod im Jahr 1832 nicht wieder besuchte.
Goethe hatte die 30jährige Marianne von Willemer, einst Schauspielerin und Sängerin in Frankfurt, zunächst Ziehtochter und vermutlich auf Goethes eigenen Rat hin dann Ehefrau seines Freundes, des Geheimrats und „Königlich Preussischen Hofbanquiers“ Johann Jakob von Willemer, 1814 kennengelernt. Im Herbst hatte er das Paar in der Gerbermühle, Willemers Sommerresidenz, besucht, und erinnerte sich seines dortigen Aufenthalts später als „unendlich schön“. Es entwickelte sich zwischen ihm und Marianne eine heimliche Beziehung und ein inniger Briefwechsel.
Zur gleichen Zeit hatte Goethe bereits die Arbeit an seinem Projekt „West-östlicher Divan“ begonnen. Goethe war, nachdem ihm sein Verleger Johann Friedrich Cotta im Sommer 1814 Verse des persischen Dichters Hafis in deutscher Übersetzung gesandt hatte, von dieser Lyrik sofort fasziniert und begann, erste Gedichte für seinen künftigen Divan-Zyklus zu verfassen. War es seine Begeisterung für das Neue, war es eine Vorahnung, als er im Sommer 1814 vor seiner Abreise nach Frankfurt notierte:
„So sollst du, muntrer Greis,
Dich nicht betrüben,
Sind gleich die Haare weiß
Doch wirst du lieben“
Im Frühjahr 1815 ludt Willemer Goethe erneut in die Gerbermühle ein: „Erholen Sie sich doch bald von den Beschwerden des Winters zu Weimar an den Ufern des Mains. Sie könnten ja die Vor-Kur zu Oberrad einleiten und bei uns auf der Mühle wohnen. Platz ist genug da, und meine Frau und ich würden nie eine größere Freude empfunden haben wie die, Sie als Gastfreund bei uns zu sehen. Wenn Sie der Sonne müd sind, und der Arbeit, singt sie Ihnen von Ihren Liedern vor.“ Der Dichterfürst folgte der Einladung und weilte dort vom 12. August bis zum 17. September zusammen mit den Willemers und mit dem befreundeten Kunstsammler, Kunst- und Architekturhistoriker Sulpiz Boisserée.
Goethe schrieb weiter am „Divan“ und feierte mit einem größeren Kreis von Freunden aufwendig seinen 66. Geburtstag. Man unternahm gemeinsame Spaziergänge in sommerlich-heiterer Atmosphäre in der ländlichen Umgebung am Mainufer. Während Goethe des Abends in der Runde aus seinen Versen vortrug, sang Marianne seine Lieder und auch Opernarien.
Sollten Goethes Verse vom Vorjahr Wirklichkeit werden? Seine und Mariannes gegenseitige Zuneigung wuchs und fand sich – wie konnte es anders sein – im Austausch von amourösen Gedichten wieder. Seine Leidenschaft für die persisch-orientalische Kultur schlug auch Marianne in Bann. Es ging so weit, dass sich Goethe in die Person des Hatem versetzte und Marianne in die der Suleika, Hatems Geliebte in der persischen Dichtung. Die Zeichnung von Boisserée zeigt Marianne mit einem Turban bekleidet, als sie im Hof zur Laute sang.
Goethe dichtete an Marianne:
Nicht Gelegenheit macht Diebe
Sie ist selbst der größte Dieb;
Denn sie stahl den Rest der Liebe,
Die mir noch im Herzen blieb.
Dir hat sie ihn übergeben,
Meines Lebens Vollgewinn,
Daß ich nun verarmt, mein Leben
Nur von dir gewärtig bin.
Doch ich fühle schon Erbarmen
Im Karfunkel deines Blicks
Und erfreu in deinen Armen
Mich erneuerten Geschicks.
Und Marianne antwortete alsbald:
Hochbeglückt in deiner Liebe
Schelt‘ ich nicht Gelegenheit;
Ward sie auch an dir zum Diebe,
Wie mich solch ein Raub erfreut!
Warum läßt du dich berauben?
Gib dich mir aus freier Wahl;
Gar zu gerne möcht ich glauben –
Daß dein Herz ich selber stahl.
Was so willig du gegeben,
Bringt dir herrlichen Gewinn;
Meine Ruh, mein reiches Leben
Geb ich freudig, nimm es hin!
Scherze nicht! Nichts von Verarmen!
Macht uns nicht die Liebe reich?
Halt ich dich in meinen Armen,
Welch ein Glück ist meinem gleich.
Wer von den beiden männlichen Gestalten auf dem Balkon ist Goethe? Derjenige, der mit seinem rechten Arm einen Leuchter mit brennender Kerze, eine lodernde Fackel in vorabendlicher Dämmerung in die Höhe hält?
In dieser besonderen Verbindung mit Goethe und im Aufblühen ihrer leidenschaftlichen Gefühle zu ihm entfaltete Marianne ihre bisher verborgenen Talente zu einer hochsensiblen und hochbegabten Lyrikerin. In der Unmöglichkeit einer realen Verbindung mit dem über 35 Jahre älteren verheirateten Mann und angesichts der jeweiligen gesellschaftlichen Stellung und der daraus resultierenden Verpflichtungen erschuf sie Verse von Liebeslust und Liebesschmerz, von Sehnsucht und Hingabe, zugleich von Verzicht und Entsagung, deren Qualität und vollendete Schönheit Goethe verzückten und ihn selbst zu neuen Formen seiner Dichtkunst emportrugen.
Am 18. September verließ Goethe die Gerbermühle und reiste mit Boisserée nach Heidelberg. Der Abschied war zwar für beide schmerzhaft, vor allem aber für Marianne. Goethe, dem eine gewisse eigenartige Gefühlskälte nachgesagt wird – nahm er doch weder am Begräbnis seiner Eltern noch seiner Frau Christiane Vulpius noch seines Freundes Schiller teil – hinterließ Marianne einen Abschiedsbrief. Er zog bewusst einen Schlussstrich unter diese einzigartige Beziehung, deren Folgen und Konsequenzen er scheute. Wenige Tage darauf reisten die Willemers für drei Tage nach Heidelberg und besuchten ihn. Am 26. September 1815 trafen sich Goethe und Marianne zum letzten Mal. Sie sahen sich danach nie wieder.
Während der Fahrt nach Heidelberg schrieb Marianne, im Schmerz, aber auch wiederum hoffnungsvoll das Gedicht vom Ostwind:
Was bedeutet die Bewegung
Bringt der Ostwind frohe Kunde?
Seiner Schwingen frische Regung
Kühlt des Herzens tiefe Wunde.
Kosend spielt er mit dem Staube,
Jagt ihn auf in leichten Wölkchen,
Treibt zur sichern Rebenlaube
Der Insekten frohes Völkchen.
Lindert sanft der Sonne Glühen,
Kühlt auch mir die heißen Wangen,
Küßt die Reben noch im Fliehen
Die auf Feld und Hügel prangen.
Und mich soll sein leises Flüstern
Von dem Freunde lieblich grüßen,
Eh noch diese Hügel düstern
Sitz ich still zu seinen Füßen.
Und Du magst nun weiter ziehen,
Diene Frohen und Betrübten,
Dort wo hohe Mauern glühen
Finde ich den Vielgeliebten.
Ach, die wahre Herzenskunde,
Liebeshauch, erfrischtes Leben
Wird mir nur aus seinem Munde,
Kann mir nur sein Atem geben.
Auf der Rückreise nach Frankfurt verfaßte sie, nun voll Abschiedsschmerz und im Bewußtsein der Trennung, das Gedicht vom Westwind:
Ach, um deine feuchten Schwingen,
West, wie sehr ich dich beneide;
Denn du kannst ihm Kunde bringen,
Was ich durch die Trennung leide!
Die Bewegung deiner Flügel
Weckt im Busen stilles Sehnen;
Blumen, Augen, Wald und Hügel
Stehn bei deinem Hauch in Tränen.
Doch dein mildes, sanftes Wehen
Kühlt die wunden Augenlider;
Ach, für Leid müsst‘ ich vergehen,
Hofft‘ ich nicht, wir seh’n uns wieder.
Geh‘ denn hin zu meinem Lieben,
Spreche sanft zu seinem Herzen;
Doch vermeid‘ ihn zu betrüben
Und verschweig‘ ihm meine Schmerzen.
Sag ihm nur, doch sag’s bescheiden:
Seine Liebe sei mein Leben;
Freudiges Gefühl von beiden
Wird mir seine Nãhe geben.
Goethe nahm neben anderen auch diese beiden Gedichte von Marianne in seinen West-östlichen Divan auf, ohne auf deren Autorenschaft zu verweisen; beide hüteten diese Tatsache als ihr Geheimnis.
Krankheit und Tod seiner Ehefrau Christiane im Sommer 1816, zunehmende Trunksucht seines lediglich für Archivaufgaben geeigneten Sohnes August und sich ausbreitende Disharmonie in dessen 1817 eingegangener Ehe mit der tüchtigen, dem Leben zugewandten Ottilie von Pogwisch sorgten für Unruhe im Haus Goethe, das zugleich vor der Aufgabe stand, sein Lebenswerk zu ordnen und zu sichern. Marianne und Goethe standen weiter in einem Briefwechsel, und der Dichterfürst sprach später vom Sommer 1815 als seiner „allerschönsten Zeit“.
Marianne verstarb, seit 1838 verwitwet, im Jahr 1860 im Alter von 76 Jahren in Frankfurt.
Literatur:
Noshin Shahrokhi, Die Vervielfältigung der Liebespaare in Goethes West-östlichem Divan
Jasmin Behrouzi-Rühl, Goethe und Marianne Willemer vis-à-vis – „Denn sie stahl den Rest der Liebe, der mir noch im Herzen blieb“