Ein Farbenfest für die Sinne – Eröffnungsausstellung „Farbe ist alles!“ im Museum Reinhard Ernst (mre)
Kunstvoller Bau voll hochkarätig abstrakter Nachkriegskunst (Teil 2)
von Hans-Bernd Heier
Die erste Sammlungspräsentation im Museum Reinhard Ernst – kurz: mre – zeigt unter dem Titel „Farbe ist alles!“ besondere Höhepunkte in der Geschichte der Abstraktion nach 1950. Aus der reichhaltigen Sammlung des Sammlers und Mäzens Reinhard Ernst illustrieren 60 Meisterwerke die bahnbrechenden Veränderungen in der Malerei in den USA, Japan und Europa. Für die faszinierende Eröffnungsausstellung in dem vom japanischen Stararchitekten F. Maki entworfenen Museum übernahm Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Schirmherrschaft.
„Farbe ist alles“, vor allem auf den großen weißen Wänden, die den einzelnen Gemälden Raum geben, Foto: Petra Kammann
Für die Premiere sind also 60 Meisterwerke aus der mittlerweile über 1.000 erstklassige Arbeiten umfassenden Privatsammlung des Wiesbadener Sammlers und Stifters Reinhard Ernst ausgewählt. Seine Kollektion, die laut Direktor Oliver Kornhoff ihresgleichen sucht, hat der kunstbegeisterte Ernst in rund 40 Jahren zusammengetragen.
mre-Direktor Oliver Kornhoff bei der Eröffnungsfeier, Foto: Petra Kammann
Dabei hat Ernst sich von Anfang an auf abstrakte Malerei aus Europa, den USA und Japan aus den letzten 75 Jahren konzentriert. Diese steht auch im Zentrum der Eröffnungsschau. „Obwohl die versammelten Künstler:innen zu verschiedenen Zeiten und an ganz unterschiedlichen Orten wirkten, zeigen alle ein radikal neues Verständnis von Malerei. Sie haben die Geschichte der Kunst nachhaltig verändert. Dabei ist Farbe buchstäblich alles“, sagt Kuratorin Lea Schäfer.
Bei aller Verschiedenheit der präsentierten Kunstwerke haben die Arbeiten zwei Merkmale gemeinsam: Sie sind nach 1945 entstanden. „Das bedeutet, dass sie sich mit einer Gegenwart auseinandersetzen, die uns bestens vertraut ist…. Die zweite Gemeinsamkeit besteht darin, dass alle Werke einen radikalen neuen Umgang mit Farbe zeigen. Sie wird nicht mehr nur mit dem Pinsel auf die Leinwand aufgetragen. Vielmehr wird sie expressiv und mit vollem Körpereinsatz geschleudert, gegossen, getropft oder gesprüht. In unserer Auftakt-Ausstellung schärfen wir Ihren Blick für geworfenes Rot, gerakeltes Blau, zersplittertes Silber, gesickertes Orange und verbranntes Schwarz. Besucher entdecken Walweiß, Kaugummipink und Krokodilgrün“, schreiben Kornhoff und Schäfer in dem ansprechenden Begleitbuch.
Farbig markanter Eingang ins Museum, Foto: Petra Kammann
Die Stadt Wiesbaden beauftragte 2017 den Kunsthistoriker Prof. Dr. Christoph Zuschlag, der seit 2018 die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Professur für Kunstgeschichte der Moderne und der Gegenwart (19. bis 21. Jahrhundert) innehat, mit einem Gutachten der Sammlung Ernst. In seinem Gutachten urteilt der Experte „Das Alleinstellungsmerkmal der Sammlung von Reinhard Ernst (im internationalen Maßstab) besteht in der weit über Europa hinausreichenden, auch Japan und die USA einbeziehenden internationalen Ausrichtung, in der Berücksichtigung aller wichtigen Künstlergruppen und in der umfassenden Breite und Qualität, in der die unterschiedlichen Tendenzen und Strömungen informeller und gestisch-abstrakter Kunst nach 1945 dokumentiert sind. Ich kenne keine Sammlung und kein Museum weltweit – weder in öffentlicher noch in privater Hand –, die bzw. das dies zu leisten vermöchte.“
Geschossübergreifende Kunstwerke begleiten den Aufstieg ins Museum, Foto: Petra Kammann
Begleiten wir nun Kunstinteressierte durch die hochgelobte Sammlung: Der Blick von Besuchern, die sich von der knallroten Stahlskulptur „Vertical Highways – Progressions 4“ von Bettina Pousttchi in das erste Obergeschoss leiten lassen, fällt direkt auf Tony Craggs monumentale Skulptur „Pair“. Die aus zwei Bronzestelen bestehende Doppelskulptur musste 2021 wegen ihrer Höhe von jeweils über sechs Metern als erstes Kunstwerk noch in den Rohbau einziehen. Jetzt ist „Pair“ ein unübersehbarer Blickfang in der von Maki eigens dafür geplanten doppelgeschossigen Nische. Besucher dürfen nicht nur zwischen den bronzefarbenen Stelen durchgehen, sondern sie – ausnahmsweise – auch berühren.
Blick ins zweite Obergeschoss, Foto: Petra Kammann
Die Schau „Farbe ist alles!“ vereint unterschiedliche Positionen abstrakter Malerei von heute weniger bekannten Künstlern bis hin zu Superstars. Jedem der sieben Ausstellungsräume ist ein „Denkanstoß‘‘, bzw. Leitmotiv vorangestellt. Bereits der erste Raum „Farbe hoch drei‘‘ überrascht durch seine Deckenhöhe von 14 Metern. Die Helligkeit, die durch das Oberlicht einfällt, lenkt den Blick nach oben in luftige Höhen. Hier werden zweidimensionale Kunstwerke zu einem Raumerlebnis, wie Morris Louis‘ „Gamma Epsilon“, Sam Francis‘ monumentale Leinwände oder Helen Frankenthalers‘ Spanning“.
FF-Autor Uwe Kammann im Gespräch mit mre-Pressechefin Kathrin Grün, Foto: Petra Kammann
„Malerei maßlos‘‘ steht exemplarisch für die Bandbreite radikaler Neuerungen in der Malerei nach 1945. In New York entwickelte sich in den 1950er Jahren der Abstrakte Expressionismus und in Paris die „art informel“, die „formlose Kunst“. Ein expressiver und befreiter Umgang mit Farbe, Form und Material verdrängte die gegenständliche Darstellung. In dem großen Ausstellungsraum sind u. a. Arbeiten von Fred Thieler, Theodoros Stamos, Emilio Vedova, Karl Fred Dahmen, K. O. Götz, Pierre Soulages und Hans Hartung zu sehen, die bis heute zu den wichtigsten Vertretern der Nachkriegskunst in den USA, Deutschland, Frankreich und Italien zählen.
Der mit „From Zero to Action‘‘ betitelte Ausstellungsraum im 2. Obergeschoss schlägt eine Brücke zwischen experimentellen Künstler:innengruppen in Europa und Japan. Auch viele Kunstschaffende empfanden das Ende des Zweiten Weltkriegs als einschneidende Zäsur und stellten alles zurück auf null / ZERO. „Mehrere Avantgarde-Bewegungen riefen zum Neustart auf, um vorherrschende ästhetische Normen zu überwinden. Als Motiv wählten sie die Null, die als elementare Kreisform das Nichts und die Unendlichkeit, Anfang und Ende, symbolisiert“, erläutert Schäfer.
Blick in den Saal im 2. Obergeschoss, Foto: Petra Kammann
In diesem Raum kommen zwei dieser Gruppen zusammen: die japanische Zero-Kai aus Osaka (später Gutai) und ZERO aus Düsseldorf. Obwohl beide Gruppen 10.000 Kilometer trennten, verband sie die Lust am Experiment. Sie entdeckten bislang unübliche Materialien und Techniken für ihre Arbeit, die zuvor in der Kunst keine Verwendung gefunden hatten. Bis heute ist das Experiment eine Hauptquelle der Inspiration für abstraktes künstlerisches Arbeiten. Und bis heute sprengen Künstler:innen den Rahmen des Bekannten und weiten den Blick dafür, was ein Kunstwerk sein kann. Zu sehen sind u. a. Arbeiten der ZERO-Künstler Mack, Piene und Uecker sowie der japanischen Maler Hantai, Shimamoto und Tanaka.
Blick von innen nach außen auf die „Rue“, wie die Wilhelmsstraße auch genannt wird, Foto: Petra Kammann
Gegen den Strich – Der Strich des Pinsels als individueller Ausdruck ist eines der Grundelemente der Abstraktion nach 1945. Die in diesem Raum versammelten Positionen feiern den Pinselstrich als Zeichen des Aufbruchs: Sie wenden sich ab von der akademischen Pinselführung hin zu einer experimentellen und offenenKomposition. Auch unterlaufen sie Erwartungshaltungen, indem sie ganz auf den Pinsel verzichten und zu ungewöhnlichen Malwerkzeugen greifen. Viele europäische und amerikanische Künstler:innen waren begeistert von der Technik und den Ausdrucksmöglichkeiten der ostasiatischen Kalligrafie. Zu ihnen zählen die hier gezeigten Judit Reigl, Georges Mathieu, Hubert Berke und Robert Motherwell.
Zuhause in der Malerei – Der Zweite Weltkrieg zwang Hunderttausende in die Migration. Unter ihnen waren auch zahlreiche Künstler:innen der Avantgarde, die vor Krieg und Verfolgung in die USA flohen und eine neue Heimat in New York fanden. „In der fremden Umgebung bedeutete das eigene künstlerische Arbeiten für viele Zuflucht und Kontinuität. Gleichzeitig empfanden sie ihre Kunst als Eintrittskarte für das gesellschaftliche Leben. Sie tauschten sich über die Malerei aus und näherten sich so auch menschlich einander an“, so Kornhoff.
Unabhängig von Herkunft und Alter einte alle die gemeinsame Suche nach neuen Ausdrucksformen. Ateliers, Bars, Galerien und Kunstschulen, insbesondere das Black Mountain College und Hans Hofmanns School of Fine Arts, wurden zu Orten der Begegnung und des Austauschs. Zu bewundern sind u. a. das Riesenformat von Dzubas und Werke von Albers, Gottlieb, Hofmann sowie drei Gemälde von Frankenthaler
Meditation einer Besucherin –Versuch einer Angleichung an die Farbfeldmalerei, Foto: Petra Kammann
In Ernsts Sammlungsbestand finden sich größere Konvolute einzelner Künstlerinnen und Künstler, die in Zukunft den Kern von Sonderausstellungen bilden werden: Insbesondere die Künstlerin Helen Frankenthaler bringt den Sammler zum Schwärmen: „Sie verwendet ein Orange, das man noch im Dunkeln erkennen würde. Man denkt bei manchen ihrer Farben, dahinter brenne eine Kerze, die das Ganze zum Leuchten bringt“. Mittlerweile hat er mit über 45 Positionen weltweit die größte private Sammlung mit Werken der amerikanischen Farbfeldmalerin zusammengetragen. Sie gilt als Erfinderin der „Soak-Stain-Technik“. Bei dieser Technik sickert verdünnte Farbe in die auf dem Boden liegende, ungrundierte Leinwand ein: Farbe und Stoff werden eins.
Die farbig ausdrucksstarken Gemälde faszinieren das Publikum, Foto: Petra Kammann
The Beat Goes On. Da die Sammlung Reinhard Ernst Positionen von 1945 bis zur Gegenwart umfasst, bilden vor allem die frühen Werke für die gegenwärtige Malerei direkte oder indirekte Ankerpunkte. „In diesem Raum verdeutlichen exemplarisch jeweils zwei Werke aus dem 20. und 21. Jahrhundert, dass unterschiedliche Generationen mit ähnlichen Fragestellungen an die Malerei herantreten. Heutige Künstler:innen nutzen diesen „Blick zurück nach vorn“, um in der Auseinandersetzung mit historischen Bezügen ihre Eigenständigkeit zu entwickeln, in Anlehnung wie in Abgrenzung zu den Vorbildern“, erklärt Schäfer. In den aktuellen Bildern klingen die vorausgehenden nach, so beispielsweise in den ausgestellten Arbeiten von Lee Krasner (1973) und Tal R (2007).
Interessante Durchblicke: Farbe und dreidimensionale Raumerlebnisse allüberall, Foto: Petra Kammann
„Die Suche nach dem weißen Wal“ – Fasziniert von Kapitän Ahabs Jagd nach dem weißen Pottwal, widmete Frank Stella dem Jahrhundertroman „Moby Dick“ von Herman Melville (1851) eine gleichnamige Werkreihe. In den drei großen Wandreliefs aus diesem Werkzyklus sind im letzten Saal verschiedene Bestandteile der Geschichte erkennbar. Sie schichten sich wie Meereswellen übereinander und ragen dreidimensional in den Raum. „Die Suche nach dem weißen Wal ist“, laut Kornhoff „Metapher für den Versuch, den Geheimnissen der Welt auf die Spur zu kommen“. Die Beschäftigung mit der Geschichte warf für den Künstler die Frage auf, „ob die Abstraktion geeigneter [sei], dem Roman einen bildnerischen Ausdruck zu liefern“.
Mit Stellas imposanten Wandreliefs endet ein begeisternder, farbintensiver Rundgang, der bei Besucherinnen und Besuchern den vom Museumsteam erhofften „WOW-Effekt“ auslösen dürfte.
Im Bookshop des mre gibt es das Buch zur Sammlung Reinhard Ernst „Faszination Farbe“ (Hirmer Verlag)
Öffnungszeiten
Das mre ist an den Vormittagen ausschließlich für Schulklassen und Bildungsinstitutionen geöffnet. Für das Publikum ist das Museum außer montags ab 12:00 Uhr geöffnet. Am letzten Dienstag des Monats ist der Eintritt von 15:00 bis 18:00 Uhr kostenfrei.
Weitere Informationen
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