Das etwas andere Aix
Barockpaläste, zugemauerte Fenster, süße Versuchungen und Tanz auf der Straße
von Simone Hamm
Aix-en-Provence ist eine junge Stadt, fast ein Drittel der 147.000 Einwohner sind Studenten. Und eine alte Stadt, gegründet von den Römern als erste römische Stadt auf gallischem Boden, zu Beginn des 12. Jahrhunderts, Hauptstadt der Provence. Ihre Blütezeit erlebte die Stadt Ende des 15. Jahrhunderts, wirtschaftlich und kulturell.
Die „Fontaine de la Rotonde“, einer der größten Brunnen, der die Flaniermeile, den Cours Mirabeau, mit den verschiedenen Vierteln von Aix verbindet, Foto: Petra Kammann
Frédéric Paul, der seit vielen Jahren in Aix lebt, führt mich durch die Stadt. Ihm es ganz wichtig, mir das zu zeigen, was ich garantiert übersehen hätte. Er findet, dass die meisten Menschen durch Städte hasten, statt einfach einmal stehen zu bleiben und innezuhalten.
Marktstände am Ende des Cours Mirabeau, Foto: Petra Kammann
Wir beginnen auf der Prachtstraße von Aix-en-Provence, dem Cours Mirabeau. Der Cours Mirabeau, so erzählt Fredéric Paul mir, wurde im 17. Jahrhundert angelegt. Und zwar als „Spazierstrasse“. Die Damen des Bürgertums und des Adels gingen jeden Nachmittag in edlen Roben den Cours auf und ab, um zu schauen und angeschaut zu werden.
Wir schlendern weiter in eine kleine Seitenstraße, suchen den Schatten. Es ist heiß in Aix en-Provence im Juli. Seine Tour durch Aix nennt Frédéric: „Das Sichtbare ist unsichtbar“.
In den Seitensträßchen geht es ruhiger zu, Foto: Simone Hamm
Die Putten, die hoch unter den Giebeln der Häuser hängen, hätte ich wahrscheinlich übersehen, auch das kleine Mosaik des Künstlers Invader, das aussieht wie ein Männchen aus einem Computerspiel. Und warum ist diese Tür zugemauert, dieses Fenster? Das sei schon vor über 500 Jahren geschehen, klärt mich Frédéric auf: Denn damals gab es die Pest. Und wenn jemand sehr krank war, sich nicht mehr selbst ernähren konnte und sterben würde, dann mauerte man lieber die Türen zu und ließ die kranken Menschen im Hause sterben als zu riskieren, dass jemand sie besuchte und sich ansteckte. Trotz dieser grausamen Methode sollen zwei Drittel der Bewohner von Aix-en-Provence gestorben sein.
Frédéric führt mich über kleine Plätze mit steinernen Brunnen, vorbei an Kirchen, an Resten der römischen Stadtmauer und vorbei an einem römischen Wachturm, vorbei an prächtigen barocken Wohnsitzen, bis wir schließlich an einer langen Mauer entlang gehen.
Der barocke Pavillon Vendôme – ein Lustschlösschen, Foto: Petra Kammann
Dahinter verbirgt sich in einem kleinen Park der bedeutendste der zahlreichen barocken Adelspaläste in Aix: der Pavillon Vendôme. Die zweistöckige Hauptfassade ist verziert mit Säulen und Atlanten. Heute ist im Palast ein Museum für zeitgenössische Kunst untergebracht. Das Palais wurde im 17. Jahrhundert vom Herzog Louis de Vendôme errichtet, einem Neffen des Königs Ludwig XIV. Vendôme hatte sich eine sehr schöne junge Frau verliebt, die aus einer wichtigen provenzalischen Familie stammte. Dem Sonnenkönig gefiel es überhaupt nicht, dass sein Neffe eine Provenzalin heiraten wollte. Aber der Herzog ließ sich nicht von seiner Liebe abbringen.
Typisch französischer Garten vor dem Pavillon Vendôme, Foto: Petra Kammann
Er ließ ein Gebäude bauen, damals war das noch weit außerhalb der Stadt. Dort konnte er heimlich seine Liebe, seine Leidenschaft, leben. Die Kutsche fuhr bis ins Gebäude. Wer ein oder ausstieg, blieb neugierigen Blicken verborgen. Es war kein Ort, an dem er lebte. Es war ein Liebesnest. Ein Lustschlösschen also in einem prächtigen Garten. Ein schöner Platz, um sich im Schatten auf einer Bank etwas auszuruhen.
Versteckter Ort im Vendôme-Park, um sich vor der Hitze zu schützen, Foto: Petra Kammann
Schon von Weitem kann ich ihn sehen, den hohen Glockenturm der Kirche, den höchsten Punkt der Stadt. Ockerfarbene Wände, weiße Säulen, ein sehr großes, farbiges Fenster im Altarraum, durch das die Sonne fällt: Saint-Jean-de-Malte. Die strenge Gotik ist ungebrochen – ein Platz um innezuhalten, fern der Touristengruppen.
Die Kirche Saint-Jean-de-Malte in der Altstadt von Aix, Foto: Simone Hamm
Zweimal am Tag werden hier Messen gelesen. Es wird viel gesungen. Ein Ort der Kontemplation im Gegensatz zur großen Kathedrale Saint-Sauveur in Aix. Immer und immer wieder ist sie umgebaut worden, ein Mix an Stilen. Eine Kathedrale, in die pausenlos fotografierende Touristen aus aller Welt strömen.
Mittlerweile ist es später Nachmittag und immer noch ist es heiß. Frauen mit großen Sonnenhüten trinken Wasser, Kinder schlecken Eis, junge Männer sitzen lässig auf Brunnenmauern. Und überall Leute jeden Alters und jeder Nationalität, die Selfies machen. In den stillen Seitengässchen hingegen bin ich fast allein. Jedenfalls fühlt es sich so an.
Ich sehe viele Schilder, die auf Calissons hinweisen. Ich habe keine Ahnung, was das ist, frage mich durch und gelange an eines der ältesten Geschäfte, die Calissons herstellen und verkaufen: „Le Roi René“.
„Le Roi René“ – eines der ältesten Geschäfte, ihn den die legendären Calissons d’Aix hergestellt werden, Foto: Simone Hamm
Seit über 100 Jahren backen sie Calissons. Es ist kalt im Laden, die Klimaanlage ist aufgedreht. Hier darf nichts in der Hitze verderben. Calissons, so erfahre ich von Noé Conoche, der Wirtschaft studiert und nebenher ein Praktikum in der Konfiserie macht, das ist ein feines Konfekt aus Mandeln und kandierten Melonen und Orangenschalen, überzogen mit einer Glasur aus Eiweiß und Puderzucker. Sie sind länglich oval geformt. Eine süße Verführung. Über die Calissons gibt es eine Anekdote:
Ein Calisson wurde zum erstenmal 1454 zur der Hochzeit von König René gereicht. René heiratetet die nur sechzehn Jahre alte Jeanne, die bekannt dafür war, niemals zu lächeln. König René bat seinen Konditor, für seine Hochzeit ein neues Konfekt zu erfinden. Das tat er. Sofort nach der Hochzeit probierte Königin Jeanne die kleine Praline, ein Calisson, – und sie lächelte.
Jeanne fragte nach dem Namen der Süßigkeit und der Konditor antwortete in breitestem Provenzalisch: „Di calin soun“, das bedeutet, „eine liebevolle Umarmung“. Eine kleine Umarmung, die offenbar fröhlich stimmt. Ich probiere eines – und kann Jeanne verstehen. Calissons sind wirklich köstlich.
Öffentliche Probe von „Un trait d’union“ von Angelin Preljocaj, Foto: © DR
Am Abend habe ich etwas ganz Besonderes vor. Ich gehe zum Ballet Preljocaj. Das Ballet Preljocaj hat seinen Sitz im Pavillon Noir, einem eindrücklichen Bau aus grauem Beton und viel Glas, erbaut von Rudy Ricciotti.
Normalerweise proben Balletttänzer hinter verschlossenen Türen. Die wenigsten Kompanien laden dazu ein, bei den Proben dabei zu sein. Das Publikum sieht die Stücke erst dann, wenn sie ausgereift sind und vorgeführt werden, darf allenfalls zur Generalprobe kommen. Das Ballett Preljocaj geht einen anderen Weg. Zehn Mal im Jahr sind alle eingeladen, beim Proben zu sehen. Heute sind 250 Zuschauer gekommen.
Ein Ballettmeister übt mit zwei Tänzern. Er kritisiert sie, lobt sie. Er tanzt mit Ihnen. 250 Zuschauer sind gekommen, um 18:00 Uhr, direkt nach der Arbeit.
Öffentliche Probe von un trait d’union 1 von Angelin Preljocaj, Foto: © Jean-Claude Carbonne
Um noch mehr Menschen für den Tanz zugewinnen, gibt es das Outreachprogramm. Das Ballet Preljocaj bringt den Tanz dorthin, wo man ihn nicht erwartet. Ein junger Mann mit roten Locken kommt auf mich zu. Es ist der zwanzigjährige Jack Rexhausen aus Hamburg, ein junger Mann mit roten Locken, weiß mehr darüber.
Jack Rexhausen, Foto:© DR
Das Ziel dieses Outreachprogramms sei es, Tanz an die verschiedensten Ort zu bringen, z.B. in Krankenhäuser, in Kitas, dort, wo tanzen nicht üblich ist. Und dann zeigten die Tänzer den Menschen einfach, was im Pallivon Noir so gemacht werde. Rexhausen durfte ein paar Mal mitmachen. Er war z.B. in einer Kita mit ganz kleinen Kindern, die sich unglaublich freuten. An der Schule mit etwas älteren Kindern 15,16 wurde der Tanz anders aufgenommen, eher staunend. Aber für die Tänzer ist es immer interessant zu sehen, wie unterschiedlich Menschen auf Tanz reagieren.
Also auf die Menschen zugehen und nicht warten, bis die Zuschauer auf Sie zukommen. Auf dem Bahnhof tanzen und auf dem Marktplatz. Jack macht das sehr gerne. Für dieses Programm ziehen die Tänzer Sneaker an und tanzen in Schuhen. Das ist manchmal recht schwierig, denn die Choreografie ja nicht für Sportschuhe gemacht. Aber die Tänzer ziehen die Schuhe an, gehen auf die Straße und versuchen, den Zuschauern den Tanz so nahe wie möglich zu bringen. In der Sonne hier in Aix-en-Provence, in schwarzen Klamotten, in Sneakern, da schwitzten sie schon sehr.
Aber nicht mehr lange. Jack hat großes Glück. Als einziger aus der jungen Ballettkompanie ist er in das Preljocaj Ballet übernommen worden. Er wird einer der 30 Tänzer sein, die in ganz Europa auf Tournee gehen.
Lavendel blüht überall in der Provence, Foto: Simone Hamm
Der nächste Tag ist den Lavendelfeldern gewidmet. Ein violettes Meer, wie man es von etlichen Fotos und Postkarten her kennt. Am Rande eines Lavendelfeldes unter einem Olivenbaum haben Anna und Aadesh eine Decke ausgebreitet. Sie trägt ein gelbes T-Shirt, er ein weißes Leinenhemd. Ich möchte sie nicht stören, aber als ich sie später in dem kleinen Laden, in dem Lavendelsäckchen, Seife und Getränke verkauft werden, wiedersehe, spreche ich sie an.
Betörender Duft geht von den violettfarbenen Lavendelfeldern aus, Foto: Simone Hamm
Sie kommt aus der Nähe von Heidelberg, er aus Indien aus der Nähe vom Taj Mahal. In Sachen Romantik kennt er sich also aus.Was hat sie hierhin gebracht, in die Lavendelfelder? Anna lächelt. Sie sie inspiriert worden von den Fotografien, die sie gesehen habe.
Es war ihr Wunsch, zu ihrem 30. Geburtstag: ein Picknick in den Lavendelfeldern, mit ganz viel Oliven, Wein und Baguette. Das wäre das größte Geschenk, sagte sie zu ihrem Freund, und jetzt sind sie hier.
Benoit Martinez leitet diese drei Hektar große Domaine, die Domaine Ugo, die keine Weinberge zu bietet hat. Hier dreht sich alles um Lavendel. In der Domaine Udo macht man Slow Tourism. Die Gäste sollen den Moment genießen und sich wirklich Zeit nehmen, um zu beobachten, zu riechen, zu erleben.
Normalerweise sieht man die Lavendelfelder nur im Vorbeifahren und darf sie nicht betreten, weil sie im Privatbesitz sind und es nicht jeder Lavendelbauer mag, wenn da Touristen scharenweise über die Felder laufen. In der Domaine Ugo ist das anders . Hier darf ich durch die Felder spazieren.
Für einen Lavendellikör ist es zu heiß und zu früh, aber ich lasse mich dazu überreden, einen Lavendelsirup zu probieren. Ich bin überrascht. Er ist überhaupt nicht süß und schmeckt ziemlich erfrischend.
Von weitem ist ein Klopfen zu hören. Als ich dem Geräusch folge, sehe ich ein paar Personen rund um Tisch sitzen. Jede hämmert konzentriert auf ein Stück Seife ein. Carlie und Alexis aus Philadelphia sind auch dabei.
„Seife machen“ heißt der Workshop. Carlie gibt zu, dass sie gar keine Seife machen, dass sie halt mit Stempeln kleine Muster in die Seife klopfen. So sieht sie dann schöner aus. Aber Spaß macht es ihnen allemal.
Blick in Paul Cézannes Atelier vor dem Umbau, Foto: Petra Kammann
Ich setze mich auf einen der Stehle am Rande eines Lavendelfeldes, lese, döse, genieße den Tag. Auf der Rückfahrt schaue ich noch bei Paul Cézannes Atelier vorbei. Ich schleiche um das Haus herum und versuche, durchs Fenster zu schauen. Denn das Atelier ist bis zum kommenden Jahr geschlossen.
Seinen „Hausberg“, die Montagne Sainte Victoire, hat Cézanne gut 80 mal auf seinen Bildern verewigt, Foto: Petra Kammann
Paul Cézanne, der 1839 in Aix geboren wurde, hat bis zu seinem Tode 1906 hier gearbeitet. Hier entstanden seine Meisterwerke „Die großen Badenden“, „Die Montagne Sainte Victoire“, „Die Kartenspieler“, das Stillleben „Der Apfelkorb“. Hut, Spazierstock und Malerhemd sind ausgestellt.
2025 wird es wieder eröffnet werden, denn 2025 soll zum großen Cézanne-Jahr werden. Alle Stätten, an denen er gelebt und gewirkt hat, die Kirche in der er geheiratet hat, werden renoviert. Im Musée Granet wird es eine große Ausstellung geben. Grund genug also, zurückzukommen nach Aix.