Der Fotograf Robert Doisneau und sein Paris
Ein großer Bildband erschließt eine Welt des Humanen
von Uwe Kammann
Der Champ-de-Mars-Hase, 1941 © 2024 Atelier Robert Doisneau, Paris
Grandios sollten sie sein, die Eröffnungsbilder von den Olympischen Spielen in Paris. Kein Start im Stadion also, wie gewohnt, sondern eine Bildreise durch die Stadt. Was natürlich auch bedeutete: Die Top-Sehenswürdigkeiten wie Perlen an der Schnur gereiht, mit dem einigenden Band der Seine: also von der Conciergerie bis zum Louvre, son der Nationalbibliothek bis zum Grand Palais, von Notre Dame bis – natürlich – zum Eiffelturm. Eine einzige Hommage an das glanzvolle, an das mächtige, an das geschichtsträchtige Paris, auch an die Stadt der Kultur und des Vergnügens mit Universalklischees à la Moulin Rouge.
Ganz anders der erste Eindruck des jungen Rainer Maria Rilke, festgehalten in den fiktiven „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ vom Anfang des 20. Jahrhunderts „So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier.“ Ihm, dem sensiblen Dichter, erscheint die Metropole als reiner Moloch, als Ausbund von Krankheit, Armut, Tod.
Wer sich befreien will vom Olympia-Auftrumpfen – Motto der auf weltweite TV-Bilder setzenden Veranstalter: Der einzige und eigentliche Star der Spiele ist die Stadt –, wer gleichzeitig den Kontrast-, Elends -und Horrorklischees eines großstadtfremden Dichters entkommen will, der solle unbedingt zu einem so großformatigen wie schwergewichtigen Fotoband greifen, der gerade im Taschen-Verlag erschienen ist.
Er trägt den schlichten Titel „Robert Doisneau. Paris“. Dies allerdings in großen Buchstaben, auf einem Titelbild, das den Ausschnitt eines – wahrscheinlich berühmtesten und meistgedruckten – Fotos der Geschichte zeigt: den wie flüchtig erhaschten Kuss eines jungen Paares mitten in einer Straßenszene, im Hintergrund das Rathaus von Paris. Sofort stellen sich bei der Gesamtkonzeption dieses Titelbildes eine Reihe von Assoziationen ein.
Ja, Doisneau, das ist der Fotograf, der über viele Jahrzehnte, von den 30er Jahren an, unser Bild von Paris geprägt hat; aber eben nicht über die Ansichten von den berühmten Bauten und gloriosen Perspektiven, sondern über die unzähligen Aufnahmen vom Alltagsleben der ganz normalen Leute, festgehalten in verschiedensten Szenen; oft zufällig wirkend, dann wieder wie in einer bestens bekannten Szenerie gefunden. Dabei aber stets in einem Moment aufgenommen, der mehr über ihr Leben, ihre Leidenschaften, ihre existentiellen Umstände offenbart – und der das Gesehene steigert, verdichtet, ihm über die Komposition eine besondere Aura, eine eigene Wahrhaftigkeit verleiht.
Wieder und wieder wird man die über 400 Seiten des Bandes durchblättern, um voller Staunen, vor allem aber voller Anteilnahme den Bilder-Flaneur Doisneau bei seinen Streifzügen durch Paris zu begleiten, um im Kern dieses imposanten fotografischen Werkes eines zu entdecken: das Leben als comédie humaine, als immer wieder neues Spiel in allen Noten und allen Schattierungen, vom unbeschwert Heiteren bis zum tief Tragischen. Hier konzentriert auf der so unendlich vielfältigen Bühne Paris – die in sich noch wesentlich vielfätiger ist als das, was WalterBenjamin in seinem großen Passagenwerk als Bühne der Moderne diagnostiziert.
Robert Doisneau (1912-1994) ist dabei nicht nur dem Paris der so genannten kleinen Leute auf der Spur – er, der selbst in der ärmlichen Banlieue aufgewachsen ist, sich seiner Herkunft immer verbunden fühlte –, er taucht nicht nur in die Milieus der Arbeiter, der Kneipengänger, der Randständigen ein. Er porträtiert auch Künstler und Autoren, darunter in vielfacher Annäherung den Dichter Jacques Prévert. In ihm erkennt und liebt er einen Seelenverwandten. Im berühmten Proustschen Fragebogen, der diesen Band als hübsche Pointe beschließt, stellt er Prévert als Dichter sogar auf die oberste Stufe. Kein Wunder, denn niemand hat je mit größerer Wärme das (französische, aber auch universelle) Alltagsleben in Verse gefasst, so einfach klingend, so bezaubernd in ihrem inneren Reichtum.
Picasso macht übrigens im weitgehend auf die Nuancen und die Dopplung aus Abstraktion und Konzentration setzende Schwarz-Weiß-Fotografie bei den Porträtierten (darunter Fernand Léger, Jacques Tati, Alberto Giacometti, Georges Braque, Jean Tinguely) eine Ausnahme – fast wird er zum Künstler im Goldrausch, so gewandet präsentiert er sich in seinem Atelier, inmitten seiner farbstarken Bilder.
Auch später, schon in den 60ern, sucht Doisneau die Möglichkeiten der Farbfotografie auszuloten, so bei einem USA-Aufenthalt. Oder auch in Paris, indem er die architektonischen Akzentuierungen der sogenannten villes novuvelles aufgreift, indem er sie aufnimmt; allerdings aus der Distanz, sie durchaus als Experiment der Moderne begreifend – ein damals auch leuchtendes Vorbild (Satellitenstädte) gepriesenes Experiment, das später in der Realität des Zuwanderungsdrucks scheiterte.
Die damit verbundene zunehmende Heterogenität der Gesellschaft gab es in den früheren Jahrzehnten noch nicht; die Menschen, die Szenen, die Doisneau fotografierte, würden die meisten Betrachter als ‚typisch pariserisch‘ beschreiben. Im Hintergrund-Gedächtnis spielen auch jene Fotos mit, mit denen einst, um die Wende zum 20. Jahrhundert, Eugène Atget das alte Paris dokumentierte, so in der berühmten Serie Paris pittoresques und Le vieux Paris. Auch bei ihm gibt es die Arbeiter, die Prostituierten, die Kleinbürger, die Ausgeschlossenen. Doisneau sieht sich – bewundernd – durchaus auch in dieser Tradition, aber sein Spektrum, gut vier Jahrzehnte später, wurde wesentlich größer, so auch als Industriefotograf für Renault, wo er systematisch die Bedingungen moderner Großproduktion aufnahm.
Für uns, in Deutschland, wird wahrscheinlich eher seine erste große Reportage aus den Hallen die Wahrnehmung prägen. Für viele Besucher noch in den späten 60er Jahren war diese Reise in den ,Bauch von Paris ‚ ja ein unglaubliches Abenteuer, mit oft schauerlichen Einblicken in diesen Großtempel der Grande Bouffe. Den späteren Abriss der Hallen – die viel Pittoreskes boten, so in der direkten Nachbarschaft von Blutschürzen und Musette per Akkordeon – haben viele bedauert. Dass die Stadtverwaltung diese nächtliche Händlerschlacht im Herzen der Stadt auslagern wollte, kann ,man verstehen. Aber die Nostalgie …
Auch hier, wie in seinen anderen Reportagen, zeigt und beweist Doisneau seine Zuneigung zu den Menschen, wie sie aus allen Fotos dieses Bandes spricht. Darunter sind auch viele bislang unbekannte Aufnahmen zu finden. Der Grundstock dieser umfangreichen, ja oppulenten Auswahl (aus über 450.000 Negativen im Archiv) ist Jean Claude Gautrand zu verdanken, der vor zehn Jahren für Taschen eine Doisneau-Monographie betreut hat. Zu Recht rühmen die Töchter des Fotografen, Anette Doisneau und Francine Deroudille, die genaue Werkkenntnis des 2019 verstorbenen Autoren und Journalisten Gautrand, der auch selbst als Fotograf gearbeitet hat und dabei Doisneau als sein Vorbild, seine „Referenz“, bezeichnet hat.
In ihrem Vorwort zum jetzigen Band heben die Töchter vor allem hervor, dass Gautrand eine schlüssige Erzählung entwickelt und in seinem Layout „das Fließende und das Grafische raffiniert einander gegenübergestellt“ habe, als „Spiel mit Formen und Licht, wie es unser Vater an seinem Tisch im Atelier bei jedem Buchprojekt spielte“. Und sie loben das Gespür des Arrangeurs und Autors für „den Ton, die leise Melancholie, den geheimnisvollen Humor des Fotografen, der die Bilder zu durchtränken scheint, ihnen jene Seele einhaucht, die der Analyse entgeht, aber das Gefühl anspricht.“
Ja, davon ist viel zu spüren in den einfühlsamen, sich an der Chronologie orientierenden Texten Gautrands, welche die Sujets nachzeichnen, die Arbeitsweise beschreiben, die Charakteristika herausarbeiten. (Es lohnt sich übrigens, die drei Fassungen in Deutsch, Englisch und Französisch zu vergleichen – manche Übersetzungsnuancen erlauben leicht differenzierte Blicke.) Bei der wiederholten Durchsicht häuften sich die Anstriche und Randbemerkungen, so sehr, dass sich Zitate hier verbieten.
Aber eine Bemerkung zur Technik ist vielleicht erwähnenswert. Doisneau arbeitete lange Zeit mit einer Rolleiflex, jener zweiäugigen Mittelformat-Kamera, die lange zum Standard der Profifotografen gehörte. Der Mattscheiben-Draufblick durch einen Faltschacht, so Gaulands Vermutung, habe vielleicht zum Vertrauen beigetragen, während die schnellere Leica eher den Bilder-„Jägern“ entsprochen habe. Nun, wenn man die Fotos von Henri Cartier-Bresson damit vergleicht (der ja, mit seiner Leica, ebenfalls viele Alltagsszenen als Flaneur, als tänzerischer Fotograf wie nebenbei aufgenommen hat), erscheint diese These vielleicht als allzu „theoretisch“.
Ersichtlich aber ist: Das quadratische Rolleiformat umschließt jeweils eine eigenständige, ohne Vertikal- oder Horizontal-Hierarchie auskommende Welt, es unterstützt – zusammen mit dem unaufdringlichen Blick auf die Mattscheibe – jene Eigenschaft, die das A und O der Doisneau-Fotografien darstellt. Liebe zum Menschen, Empathie.
Café Saint Yves, 1947 © 2024 Atelier Robert Doisneau, Paris
Wie groß ist die Versuchung, in einer solchen Rezension jedes Bild vor genau diesem Hintergrund zu beschreiben, von den spielenden Kindern über die wilden Tänze in den Nachkriegs-Kellern von Paris, in denen auch Juliette Gréco auftrat (ein hinreißendes Straßenfoto zeigt sie ohne jede Allüre in Saint-Germain) bis zu all jenen Alltagszenen aus einem ganz „normalen“ Paris (selbst zur Kriegszeit mit der deutschen Besatzung oder während der Studentenrevolte im Mai 68). Dass D0isneau der Szenerie gelegentlich nachhalf, um sie aus dem Innersten zu interpretieren, das belegt sein berühmtes Kussfoto: Schauspielschüler hauchten ihm das ‚lebensechte‘ unsterbliche Leben ein. Fake Photo? Kaum jemand ist bislang auf diese Idee gekommen.
Wer übrigens, zurück zum Anfang, Stichwort Olympia, die Pariser Sehenswürdigkeit Nummer 1 sucht, den Eiffelturm, der wird ebenfalls fündig. Gleich am Anfang, als Ausrufezeichen zum Vorwort, ist ein schlangenförmiger Turm zu sehen, als „distorsion optique“, als Scherz also. Und später sehen wir ein Scherzbild anderer Art, reizvoll symmetrisch aufgebaut: ein Mann führt auf dem Champ de Mars sein Kaninchen spazieren, vor der Hintergrund-Perspektive des eisernen Wahrzeichens. Das war 1941, als der Welt spektakuläre Lasershows noch völlig unbekannt waren.
Könnte man heute auf sie verzichten? Vielleicht. Aber keines der hier versammelten Fotos aus der Welt des Robert Doisneau möchte man missen. Auf die Frage, welches Fotobuch in den Tresor für die berühmte Insel gehört, kann die Antwort nur lauten: Unbedingt dieses. Weil es in jedem Moment zeigt, was das ist: Humanität.
Der Autor
Jean Claude Gautrand gilt in Frankreich als einer der herausragenden Experten in Sachen Fotografie. Seit 1986 war er als Fotograf aktiv und machte sich auch als Historiker, Journalist und Kritiker mit zahlreichen Veröffentlichungen einen Namen. Für TASCHEN verfasste er die Bücher Brassaï (2004), Paris. Porträt einer Stadt (2011), Robert Doisneau (2004) und Eugène Atget. Paris (2016).
Das BUCH
Jean Claude Gautrand,
Robert Doisneau. Paris
Multilinguale Edition:
Englisch, Französisch, Deutsch
3.31 kg, 440 Seiten