Olympiafeier in Paris: grandios, gigantisch, ja – aber?
Beobachtungen eines Sportbegeisterten am Fernsehschirm in Frankeich
Von Uwe Kammann
Grandios, spektakulär, überwältigend: Das waren die häufigsten Vokabeln nach der Eröffnungsfeier für die Olympischen Spiele 2024 in Paris. Die Moderatoren des übertragenden Senders France 2 konnten sie nicht oft genug wiederholen nach dem vierstündigen Marathon, das auf dem Monitor ihrer großen eigenen Pressetribüne meist mit dem Bild der Olympischen Flamme garniert wurde – ein großer goldener Feuerring unter einem Mond, der über den Tuilerien nahe am Louvre schwebte: in der Realität ein Ballon, der an das erste Fluggerät dieser Art erinnern sollte, benannt nach dem Erfinder Montgolfier.
Das olympische Feuer geht in der Montgolfière auf, Bildschirmfoto: Petra Kammann
Auch diese bislang einzigartige Inszenierung der feurigen Dauer-Signalisierung der präsidialen Proklamation – ‚Die Spiele sind eröffnet‘ – gehört zu den Superlativen, mit denen die Veranstalter glänzen wollten. Eine Eröffnungsfeier für die Ewigkeit, so befanden manche Kommentatoren. Die französischen TV-Moderatoren bedauerten am Schluss sogar die nachfolgenden Ausrichter, also die USA und Australien: Wie sollten die in vier und acht Jahren je mithalten können nach dieser gigantischen Schau? Und wiederholt bekannten sie, ihnen seien bei den starken Eindrücken die Tränen gekommen.
Wiederkehrendes dekoratives Element: die Farben der Trikolore, Bildschirmfoto: Petra Kammann
Das, so bezeugten die eingesammelten Interviews auf der Straße oder in Cafés, ging auch den heimischen Zuschauern so, oft auf der Wange geschmückt mit einer kleinen Trikolore. Und überhaupt: Die Nationalfarben bleu, blanc rouge spielten auch im offiziellen Arrangement und Dekor eine herausragende Rolle, so mit einer temporären Rauchskulptur, so bei der Künstlerischen Intonation der Marseilleaise vom Dach des Grand Palais
Die glänzenden Augen, die tiefempfundenen Emotionen im Laufe des Spektakels wurden auf allen Seiten, auch bei den Journalisten, immer wieder auch verbal bestärkt, durch die wiederholte Feststellung und Betonung, man sei so stolz, Franzose zu sein, auch Pariser. Die Nation, sonst eher als zerrissen empfunden, habe eindrucksvoll gezeigt, wozu sie fähig sei, welch wertvolle Kultur hervorgebracht habe und pflege, auch, wie modern und vielfältig das Land inzwischen sei, in einer gegenseitigen Beziehung wertvollen Traditionen und gegenwartsprägenden Formen – als bestes Beispiel galt die beschwingte musikalisch Begegnung der Garde Républicaine und des Gesangstars Aya Nakamura.
„La vie en rose“? mit Lady Gaga, Bildschirmfoto: Petra Kammann
Das alles präsentiert in einem facettenreichen Parcours durch französische (Kultur)-Geschichte, gemischt mit hochkarätiger Popmusik, theatralischen Einlagen, atemberaubender Akrobatik, wirbelnd-dynamischen Tanzsequenzen, Pariser Klassik-Zitaten wie Moulin-Rouge-Cancan, Akkordeon-Volkstümlichkeit oder einer Modenshow. In den Schlussphasen dann die poetische Fluss-Performance einer silbern gerüsteten Reiterin auf einem mechanischen Pferd als Überbringerin der Olympiaflagge und eine gigantische, kaum endenwollende Lasershow am Licht- und Imageträger Nummer 1, dem Eiffelturm.
Der Eiffelturm in allen Lichtinszenierungen – das Symbol für Paris schlechthin, Bildschirmfoto: Petra Kammann
Er ist ja das Wahrzeichen schlechthin der Metropole, von unübersehbarer Präsenz – nun mit der feurigen Olympiapartnerschaft Himmel vereint. So stellte sich die Cérénomie d’Ouverture in vielen Punkten vor allem so dar: als hochartifizielle, mit üppiger Phantasie (und einigen Klischees) ausgestattete Huldigung an Paris: mit Aktionen, mit Worten (natürlich fehlte nicht: Stadt der Liebe) und mit tausendfachen Bildern aus allen Perspektiven, von der Seite, von unten, von oben per Drohnenflug
Illuminationszauber an der Seine, Bildschirmfoto: Petra Kammann
Am Abend – nachdem vorher die Top-Sehenswürdigkeiten ihre Schaurolle spielen durften – erschlossen sich dann die Muster dieses so einzigartigen urbanen Kunstwerks besonders gut, mit den großzügigen Achsen der Boulevards, den symmetrischen Plätzen, den präzisen Perspektiven. Der Star dieser Spiele, zumindest der Star dieser Großschau, ist die Stadt. Eine klare Konsequenz der so ungewöhnlichen Grundidee, die Eröffnung der Spiele der Neuzeit nicht im Stadion, sondern in einem offenen Raum, sozusagen open air, zu feiern.
Thomas Bach, Präsident des Internationalen Olympischen Komitees, hielt seine Rede in den IOC-Sprachen Französisch und Englisch, Bildschirmfoto: Petra Kammann
Ursprünglich war der Gedanke, die Prachtstraße Champs-Elysées zu nutzen. Das wäre nach dem Geschmack von Thomas Bach, dem Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees, gewesen. Den kühnen Gedankensprung, stattdessen den die Stadt prägenden Fluss, die Seine, als Schauplatz zu wählen, tat selbst der stets für Innovation schwärmende Staatspräsident Emmanuel Macron als Schnapsidee ab, ebenso die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo. Doch dann setzte sich eine kleine Organisationseinheit durch. Und fand mit dem Theaterregisseur Thomas Jolly und dem Direktor der Eventagentur Ubi Bene, Thierry Reboul, ein kongeniales Duo für die Konzeption, Planung und Realisierung.
Wie leicht zu sehen war: eine logistische Herkulesaufgabe. Sechs-Seine-Kilometer als Auftritts-Szene zu bespielen, den Fluss mit seinen malerischen Brücken zur Bühne zu machen, das reale Geschehen mit Videosequenzen zu verbinden, um den Lauf mit der Olympiafackel auch in diversen Innen-Etappen zu visualisieren: Das schien kaum möglich. Denn dafür waren auch unzählige Kamerapositionen zu berechnen und die Technikvorrichtungen zu installieren. Die zusätzliche Schwierigkeit: Alles sollte am Eröffnungstag überraschend sein, Proben waren kaum möglich. Strikte Geheimhaltung war also in allen Phasen der zweijährigen Planung oberstes Gebot – lediglich Präsident Macron war in den wichtigsten Punkten eingeweiht.
Staatspräsident Emmanuel Macron bei der Eröffnungsfeier, Bildschirmfoto: Petra Kammann
Dass er strahlendes Wetter nicht per Dekret herbeiregieren konnte: geschenkt. Doch war es nicht allein der Dauerregen, der den Genuss vor Ort zumindest beeinträchtigte (auch wenn eine Pariserin im Fernsehinterview die Sache weglachte – „Ist ja nur Wasser!“ – und den Abend zum schönsten Erlebnis ihres Lebens erklärte). Sondern zumindest für die Fernseherschauer war oft auch beim zweiten und dritten Blick nicht ersichtlich, welche Akteure sich wo befanden, in welchem Zusammenhang das Vorbeischippern der Athleten mit den Kunst- und Animationsaktionen stand, wie innere und äußere Beziehungen herzustellen waren mit den vorgefertigten Filmen (besonders witzig beim Debüt, welches mit Zinedine Zidane die Idee des leeren Stadions interpretierte, der vor 26 Jahren in diesem Stade de France die Equipe Tricolore zur Fußballweltmeisterschaft geschossen hatte).
Vieles, und das ist sicherlich die Hauptkritik an der Eröffnungsfeier, wirkte unverbunden, stellte sich dar als ebenso unerschöpfliches wie unergründliches Füllhorn an prächtigen, sprühenden und intelligenten Einfällen, die sich nicht unbedingt zu einem Ganzen fügen wollten, sondern lediglich den Verdruss an Gigantonomie beschworen. Überfülle, das jedenfalls drängt sich als eine Quintessenz der auch zeitlich weit über das Normalmaß hinausreichenden Zeremonie auf, kann erstickend wirken, so wie ein zu üppiges Mahl den Genuss mildern kann, selbst wenn alle Einzelheiten auf den Tellern der Menufolge exzellente Qualitäten aufweisen.
Ungezwungen und zivil: das Olympische Feuer am Stadion, Foto: Uwe Kammann
So gingen beim Betrachter die Gedanken fünf Jahrzehnte zurück, an eine Olympia-Eröffnungsfeier, die in allem das Gegenteil der jetzigen war: an jene in München, die in jedem Moment das versprach und einlöste, was im Motto versprochen wurde: die heiteren Spiele. Niemand hätte sich damals vorstellen können, dass ein terroristischer Angriff dieses Sportfest nach zehn Tagen auf brutalste Weise zerstören würde. So leicht, so beschwingt, so offen und spielerisch wirkte das alles an diesem sonnigen Tag.
Showeinlagen? So etwas gab es damals noch nicht, bis auf ein wenig bayerische Folklore. Das, was den damaligen Radiosprecher Joachim Fuchsberger (und nicht nur ihn) zu Freudentränen rührte, das war das zentrale optische Element nach dem Einzug der Mannschaften: ein Blumenreigen von Münchner Kindern auf dem ganzen Stadionrund. Das olympische Feuer: entzündet von einem jungen Amateursportler in einer flachen Schale am oberen flachen Rand der Ränge.
Manschette in Otl Aichers Olympiafarben an einem Zeitdach-Mast, Foto: Uwe Kammann
Alles war auf diese Leichtigkeit und Heiterkeit abgestimmt, ersonnen und in jedem (noch heute zeitlosem) Detail konzipiert und durchgesetzt vom Designer Otl Aicher, dem Gestaltungsbeauftragten. Der in einem Rahmen arbeitete, der auch heute noch Maßstab ist für eine Sportarchitektur, die nicht überwältigen, sondern einladen will: mit den offen schwingenden Zeltdächern des Architekten Günter Behnisch über einer zurückhaltend modellierten Landschaft. Olympia – mehr Spielort als Kampfbahn.
Die Zeiten, ja, sie waren anders, völlig anders. Wer die Sicherheitsvorkehrungen in Paris sieht, mit annähernd 50.000 Polizisten und Soldaten, mit Gittern und Sperrzonen überall, der weiß sofort: Olympische Spiele können nicht mehr so unbeschwert sein wie damals (wobei die Haltung schwer bestraft wurde, mit tödlichen Folgen). Sie können, Folge der Kommerzialisierung und der allgemeinen Event-Orientierung, sich wahrscheinlich nicht mehr mit einem ornamentalen Kinderreigen und der durchgehenden Musikuntermalung durch ein Jazzorchester beim Publikum einschmeicheln. Heavy Metal ist für nicht wenige Zeitgenossen das höchste der Gefühle.
Aber eines sollte doch bedacht werden: Ab wann wirkt das Drumherum abträglich, ab welchem Aufwand (denken wir nur an die kalte Maschinerie in Peking) lässt die natürliche Aufmerksamkeit und Zugewandtheit nach? Wann wird die künstlerisch-artistische Einstimmung (so wie in 1992 Albertville) leicht zu einem Selbstzweck? Und: Ist es nicht doch für die Athleten viel erfüllender, sind sie dem olympischen Ideal nicht doch näher, wenn es zumindest zum Auftakt einen zentralen, einen ganz besonderen Ort gibt, in dem das Zusammensein mit dem Publikum empfunden und gefeiert werden kann – eben in einem Olympiastadion, das seine eigene Schönheit hat?
Paris konnte mit der Eröffnungsfeier sicherlich beeindrucken, mit zahlreichen künstlerischen Einzeldarbietungen – heute heißt das eher Acts – auch begeistern. Gleichbwohl, es bleiben große Fragegezeichen. Weil vieles unverbunden blieb, sich nicht zu einem Gesamtbild fügte, trotz aller gloriosen und grandiosen Momente.
Das olympische Feuer schwebt über der Stad Paris, Bildschirmfoto: Petra Kammann
Die Inszenierung vornehmlich einer Fernseh-Linearität als Reihe aus Hunderten von Einzelbildern blieb ein Manko. Als einigendes Band erwies sich die Seine nicht. Aber unbhängig davon: Paris ist wunderschön.
Alle Fotos sind von der Live-Übertragung der Eröffnungsfeier von France 2 vom Bildschirm des laufenden Fernsehapparats aufgenommen worden.