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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Junge Kunst im Frankfurter Kunstverein – „Wer hat Macht? Körper im Streik”

Körperkult, Schönheitswahn, Selbstoptimierung und archaische Erfahrungen

Von Petra Kammann

Nun sind die Tage gezählt, um die aktuelle Ausstellung „Wer hat Macht? Körper im Streik” im Frankfurter Kunstverein mit den neuen Werken von Gintare Sokelyte und Sonja Yakovleva anzuschauen und diese auf sich wirken zu lassen. Die noch bis zum 4. August 2024 laufende Ausstellung zweier aufstrebender Frankfurter Künstlerinnen ist eingebettet in die programmatische Ausrichtung des Frankfurter Kunstvereins, der sich für die Förderung junger Kunst aus Frankfurt und dem Rhein-Main-Gebiet einsetzt und dabei innovative Perspektiven auf gesellschaftliche Fragen präsentiert. Sonja Yakovleva und Gintare Sokelyte bespielen jeweils eine komplette Etage des Frankfurter Kunstvereins.

Kunstverein-Direktorin Franziska Nori mit Gintare Sokelyte und Sonja Yakovleva vor Yakovlevas Scherenschnittarbeit Gym bro, Foto: Petra Kammann

Die beiden ungewöhnlichen Künstlerinnen Gintare Sokelyte (*1986) und Sonja Yakovleva (*1989), die vor wenigen Jahren ihr Studium an der Städelschule bzw. an der Hochschule für Gestaltung Offenbach absolviert haben, waren vom Frankfurter Kunstverein eingeladen worden, ihre bisher größte institutionelle Einzelausstellung zu präsentieren. Das gab ihnen die Möglichkeit, autarke Bildräume vor Ort zu produzieren. Bei ganz unterschiedlichen künstlerischen Arbeiten verbindet sie Fragen wie: Welcher Macht sind Körper ausgesetzt und welche Macht wird von Körpern im öffentlichen Raum ausgeübt?

 

Eine weibliche und eine männliche Silhouette als Schattenbildarbeit, Foto: Petra Kammann

So fertigte etwa Sonja Yakovleva, zunächst bekanntgeworden durch die Ironie ihrer pop-feministischen Motive, seit Jahren monumentale Scherenschnitte mit überbordenden farbigen Bildkompositionen an, in denen sie den Körperkult, den Schönheitswahn und den grassierenden Wettbewerb heutiger Fitnesskultur nicht nur auf sozialen Medien als Symptom verinnerlichter Normen karikiert. In ihren Bildwelten inszeniert und offenbart sie die Arbeit am eigenen Körper als Mittel eines Leistungsdiktats, verbunden mit Klassenfragen und Machtverhältnissen in der Leistungsgesellschaft. Dabei kann sie auf eigene Erfahrungen zurückgreifen, die sie als Boxerin in einem Frankfurter Fitnessstudio gemacht hat und in dem sie nach wie vor trainiert.

Sonja Yakovleva vor ihrem großen Wandwerk „State of Strike“, Foto: Petra Kammann

Als Gegenpol dazu untersucht die Künstlerin Arbeit als Notwendigkeit, für Menschen und für das Funktionieren von Städten und der Gesellschaft als Ganzes. Für den Frankfurter Kunstverein hat Yakovleva ihren Blick und ihre intensive Recherche auf neue Bereiche gerichtet. Dabei hat sie als ersten thematischen Schwerpunkt ihrer neuen Werke mit Bildern aus Instagram Fitness Feeds gearbeitet, in denen der Körper als optimierbare Materie das zentrale Element ist.

Der Selbstdarstellungskult, der sich mit Verrenkungen und Überdehnungen des eigenen Körpers äußert, wird bei ihr zum Motiv und künstlerisch  mit zwei überdimensionalen Figuren aus dem Körperkult der Fitnesswelten überzeichnet. Zwei muskulöse, starke und gestählte Silhouetten, eine männliche und eine weibliche, in der Pose des Muskeloptimierens: Körper aus der CrossFit Welt, die als „bigger than life“ empfunden werden.

Ein Zeitgeist-Phänomen. Mit ihren Körper- und Schönheitsidealen verkörpern diese Figuren die Zwänge digitaler Netzkulturen. Anhand von Beauty-Filtern und der Übertreibung einzelner Merkmale passen Menschen die digitalen Abbilder ihrer eigenen Körper an die entsprechenden Normen an, was nicht zwangsläufig mit Wohlbefinden einhergeht.

Die farbige Fitness-Welt als Deckenareal, Foto: Petra Kammann

In einem zweiten Raum erschafft Yakovleva ihre Schattenbildarbeit zum ersten Mal als Deckeninstallation und als Bühne solcher Körperinszenierungen. Sie porträtiert in ihren Scherenschnitten in sich geschlossene Fitnesswelten, verdichtet und komprimiert sie über großflächige Spiegel, transparente Glasfassaden und allgegenwärtige Handykameras.

Dabei werden die Orte, die Studios, in denen quantifizierte Leistungssteigerung durch Coaches, Headsetkommandos und präzise Taktungen angetrieben wird, ebenso sichtbar wie  die „Urban Heroes“, die fanatisch Körperarbeit unter den Blicken der Anderen ausüben. Dieses raumgreifend komponierte Deckenareal, bestehend aus insgesamt 240 Kacheln und sechs Bildflächen, können die Betrachter aus der Unterperspektive erleben, da sie durch die im Ausstellungsraum verteilten beweglichen Trainingsgeräte liegend im wahrsten Wortsinne erfahrbar werden.

Wie man sich bettet, so trainiert man und „fährt“ mit den Augen das Deckenareal ab, Foto: Petra Kammann

In einem dritten Raum hat Yakovleva eine über 10,5 Meter lange Wandarbeit State of Strike geschaffen. Zu sehen ist ein dichter Strom an Menschen und eine Stadt, in der Onlineversandhandel, Fleischindustrie, Lieferdienste, Kitas, Krankenhäuser, Baustellen, Gebäudereinigung, Gastronomie auf engstem Raum verdichtet wurden. Die Stadt wird hier als Symbol der Moderne und der Gesellschaft dargestellt, in der die hier arbeitenden Menschen ihre schlecht bezahlte Arbeit verweigern und mit ihren Körpern die Straßen besetzen. Die Macht des Körpers wird hier zu einer politischen.

Betrachterinnen vor der großen Arbeit  „State of Strike“, Foto: Petra Kammann

Es sind die Widersprüche einer zunehmend flexibilisierten und von Unsicherheit gezeichneten Arbeitswelt, welche Yakovleva umtreiben. Menschen, die oft dazu gezwungen sind, schwierige Arbeitsverhältnisse anzunehmen, die von schlechten Arbeitsbedingungen bestimmt sind. Was wäre, wenn nicht nur die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter:innen, sondern auch sie die Arbeit niederlegen würden? Hier beschäftigt sich die Künstlerin mit der Möglichkeit eines Streiks, der die Ausbeutung ihrer Körper in der Öffentlichkeit verweigert, und sie stellt zur Diskussion, was wäre, wenn sich die Menschen in Solidarität zusammenschlössen, um auf Dauer Veränderungen zu bewirken.

Mit dem Aufzug geht es in die Welt von Gintare Sokelyt (links), rechts: Franziska Nori, Foto: Petra Kammann

Ganz anders die neuen, in manchen archaisch anmutenden Arbeiten von Gintare Sokelyte, die in der oberen Etage des Frankfurter Kunstvereins eine ganz eigene, in sich geschlossene Welt erschaffen hat. Bei ihr geht es mehr um die Darstellung einer abstrakten Macht, die in unseren Körpern eingeschrieben zu sein scheint, und die unser Zusammenleben strukturiert.

Dieser Ausstellungsraum kann nur über den Aufzug erreicht werden. Sobald sich die Tür des Aufzugs öffnet, befindet man sich in einer vorzeitlichen Höhle. Sokelytė hat die südafrikanische Blombos-Höhle, die älteste steinzeitliche Fundstätte, in der Zeugnisse menschlicher Kreativität und Kultur entdeckt worden sind, rekonstruiert.

Gintarė Sokelytė im „Höhlenkorridor“, Foto: Petra Kammann

Ein Höhlenkorridor führt uns zu einer großen geometrischen und begehbaren Skulptur, in der fünf Filme gezeigt werden, in denen Sokelytė  fünf Freiwillige, an Armen und Beinen an einer Metallskulptur festgebundene Menschen, gefilmt hat, die unter Zwang zu den Themen Angst, Macht und Ordnung Fragen beantworten. Dabei suchen sie in ihrem tiefsten Inneren nach Antworten, während der unbekleidet ausgelieferte Körper dem Zwang, dem Schmerz der Fesselung und der Kamera unterworfen ist.

Die Form der begehbaren Skulptur setzt sich aus einem Dodekaeder, einer geometrischen Konstruktion mit zwölf gleichgroßen Flächen und dreißig gleichlangen Kanten, zusammen. Sokelytė hat das Innere des Dodekaeders mit etlichen Textkopien von internationalen Staatsverfassungen und Gesetzessammlungen, von der Prähistorie bis in die Gegenwart, ausgekleidet. Für die Künstlerin definieren sie einen Übergang in der Menschheitsgeschichte hin zu der normativen Ordnung, die das gemeinschaftliche Leben bestimmen. Der Dodekaeder bildet somit für die Künstlerin einen konzeptionellen Gegenpol zur Ursprünglichkeit der Höhle.

Blick auf einen Ausschnitt des Dodekaeders, Foto: Petra Kammann

Durch einen noch schmaleren Durchgang führt die Höhle in einen zweiten Raum, in dem die Großinstallation A-Type Complex, eine iglu-artige Halbkugelarchitektur, geflochten aus geborgenen, rostigen Baugittern, die Mitte des Raums einnimmt. Darinnen sitzen menschliche Figuren oder oder sie stehen aufrecht.

Sokelytes Figuren sind keine Individuen, sind weder weiblich noch männlich, sie repräsentieren vielmehr Formen des Menschseins. Da die aus Gips gefertigten Skulpturen mit ausgebranntem Maschinenöl bemalt wurden, sind offen, roh und durchlässig. In manchem erinnern an sie Überlebende einer vorausgegangenen Katastrophe.

Archetypischer Umgang mit Körperlichkeit und Zeit bei Sokelyte, Foto: Petra Kammann

An der Wand befindet sich ein dreidimensionales fünf Meter langes schwarzes Wandrelief. Ein dichtes Gebilde, eine Art Assemblage aus geometrischen Strukturen, Ruinen aus Gittern und Stein und einem Menschenstrom, der sich durch die Konstruktion aus Fundmaterialien windet. Auch diese skulpturale Collage  hat sie durch verbrauchtes Motoröl geschwärzt.

In dem die aus Litauen stammende Künstlerin Wertstoffe wie Motoröl und Steinkohle verwendet, welche verschiedene Zeitphasen in sich verkörpern – von ihrer urzeitlichen Entstehung vor 350 Millionen Jahren über ihre Rolle als Katalysator für die menschliche Energiegewinnung in der Frühzeit der Industrialisierung bis hin zur Nutzung als Rohstoff und Treiber für die toxischen Umweltauswirkungen der Industrialisierung –, will sie uns wohl die apokalytische Umweltsituation im Zeitalter der industriellen Moderne vor Augen führen.

So durchziehen Zeit und Vergänglichkeit, Vergangenes und immer Wiederkehrendes als Prinzip allen Lebens Sokelytes so archaisch wie archetypisch anmutenden Arbeiten.

 

Biografie der Künstlerinnen

Gintare Sokelyte (*1986, Kedainiai, LT) lebt und arbeitet in Frankfurt am Main (DE). Im Jahr 2023 schloss sie ihr Studium an der Städelschule in Frankfurt am Main (DE) ab. Zuvor studierte sie Siebdruck an der Technischen Universität Vilnius Gediminas (LT). Sie ist Mitglied des Künstler- und Architekt:innenkollektivs Commune 6×3. In den Jahren 2013, 2016 und 2023 erhielt Sokelyte den litauischen Filmpreis – den Silbernen Kranich – für die beste Regie im Bereich Schnitt. Im Jahr 2023 wurde sie mit dem Preis der Heinz und Gisela Friederichs Stiftung ausgezeichnet. Gintare Sokelyte hat unter anderem im Palais de Tokyo, Paris (FR), im Frankfurter Kunstverein (DE), im Montos tattoo art space, Vilnius (LT), im Vytautas Kasiulis Art Museum (LT) und im Goethe-Institut Irland (IE) ausgestellt.

 

Sonja Yakovleva (*1989, Potsdam, DE) lebt und arbeitet in Frankfurt am Main (DE). Sie hat an der Hochschule für Gestaltung Offenbach und an der Hochschule der Bildenden Künste in Athen (GR) studiert. Sie ist Mitglied des Kollektivs KVTV, mit dem Yakovleva den Videoblog KulturvotzenTV über zeitgenössische Kunst auf Instagram betreibt und Ausstellungs- und Publikationsprojekte kuratiert. Unter anderem hat Sonja Yakovleva in folgenden Institutionen ausgestellt: Kunstraum Potsdam, Potsdam (DE), Kunstpalais Erlangen, Erlangen (DE), Klingspor Museum, Offenbach am Main (DE), Städtische Galerie Nordhorn, Nordhorn (DE), saasfee pavillon, Frankfurt am Main (DE), Neuer Kunstverein Gießen, Gießen (DE).

Praktische Info

Wer hat Macht? Körper im Streik
Sonja Yakovleva und Gintare Sokelyte
noch bis 4. Aug 2024

Frankfurter Kunstverein
Steinernes Haus am Römerberg
Markt 44
D- 60311 Frankfurt am Main
www.fkv.de

 

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