Die doppelte „Iphigenie“ beim Festival in Aix-en-Provence, inszeniert von Dmitri Tcherniakov
Hinter leuchtenden Streben
von Simone Hamm
Eine junge Königstochter soll den Göttern geopfert werden, damit aus einer Flaute ein Wind wird und die Flotte der Grieche gen Troja fahren kann. Durch göttliche Fügung wird das Opfer verhindert. Ein grausamer Krieg beginnt. Das ist die Geschichte von „Iphigénie en Aulide“, der Oper von Christoph Willibald Gluck, die 1774 in Paris uraufgeführt wurde. Sie basiert auf der griechischen Mythologie. 20 Jahre hat der Krieg gedauert. So lange schon lebt die Königstochter in der Fremde. Sie ist nun Priesterin und tötet jetzt selbst im göttlichen Auftrag jeden Fremden, der sich nähert. Da werden zwei Ankömmlinge am Strand gefunden. Es sind ihr tot geglaubter Bruder und sein Freund. Das ist die Geschichte von „Iphigénie en Tauride“. Diese Oper Glucks wurde 1779 uraufgeführt. Gluck hatte es nie vorgehabt, beide Opern an einem Abend aufzuführen.
IPHIGÉNIE EN TAURIDE beim Festival d’Aix-en-Provence 2024 © Monika Rittershaus
Pierre Audi, der Leiter des Festival d’Aix-en-Provence, hatte 2009 beide Iphigenie-Opern Glucks in Brüssel an einem Abend aufgeführt. Er überzeugte Dmitri Tcherniakov davon, „Iphigénie en Aulide“ und „Iphigénie en Tauride“ im Grand Théâtre de Provence unmittelbar nacheinander zu zeigen. Tcherniakov zeigt, dass sie zusammen gehören: Iphigenie, das Opfer, wird zu Iphigenie, der Vollstreckerin grausamer göttlicher Befehle. Aus der Märtyrerin wird eine Henkerin.
Tschernikov macht seine Bühnenbilder selbst. Und diese Bilder mag man oder mag sie nicht. Regelmäßig sind die Meinungen des Publikums, auch der Kritiker, gespalten. Er bietet keine Wohlfühloasen, ist streng, intellektuell. Die Gefühle soll allein die Musik transportieren.
Sein Bühnenbild in Aix ist nüchtern, drängt sich nicht nach vorn und illustriert gerade deshalb das Geschehen auf der Bühne perfekt: die skelettartigen Häuser, die keine Fensterscheiben haben, die Streben, manchmal Gitter (wie in Leoš Janáceks „Aus einem Totenhaus“ auf der Ruhrtriennale), die auf eine Gerüst reduzierten Räume (wie aus Wagners „Ring“ an der Staatsoper Berlin).
Es gibt nichts, was Schutz bietet. Die Räume nehmen Gestalt an durch die kluge Lichtsetzung Gleb Filshtinskys, der die Streben zum Leuchten bringt.
In „Ipginénie en Aulide“ hat Iphigenie sich damit abgefunden, ein Opfer zu sein. Sie zieht sich ganz in sich selbst zurück und stellt die Staatsraison über ihr Leben. Derweil schreit das Volk nach ihrem Tod.
Am Ende liegt sie aufgebahrt da. Ihre Familie, ja auch ihr Bräutigam, jubeln. Die Götter sind besänftigt! Doch ist es wirklich Iphigenie, die aufgebahrt worden ist? Oder die Göttin Diana, die ihre Gestalt angenommen hat und ihre Worte singt? Iphigenie schaut erschrocken zu, wie die Familienmitglieder an ihrer Bahre zusammenkommen und Selfies von sich und dem blutenden Leichnam machen. Sie feiern am Vorabend des Krieges.
IPHIGÉNIE EN AULIDE beim Festival d’Aix-en-Provence 2024 © Monika Rittershaus
In der Pause steht auf großen Lettern steht GUERRE auf dem Vorhang aus Eisen.
Die fröstelnde Iphigenie in Tauride ist umgeben von zerlumpten Gestalten, die ernüchtert und traumatisiert sind vom jahrelangen Krieg. Wie eine Lazarettschwester reicht sie ihnen Tee.
Sie stellt ein Kindheitsfoto Ihres Bruders Orest auf, entzündet eine Kerze. Dabei ist Orest ganz nah. Gemeinsam mit seinem Freund Pylades erreicht er das Ufer. Nun wäre es Iphigenies Aufgabe, den Bruder, den sie noch nicht erkannt hat, und dessen Freund zu opfern, zu töten.
Dramaturgisch und musikalisch steigt die Spannung. Von der leisen, innerlichen Stimmung mit der „Iphigénie en Aulide“ begonnen hat bis zum dramatischen Konflikt in „Iphigénie en Tauride“.
IPHIGÉNIE EN AULIDE beim Festival d’Aix-en-Provence 2024 © Monika Rittershaus
Die amerikanische Sopranistin Corinne Winters meistert den schwierigen Part der beiden Iphigenien mit Bravour, zeigt in ihrem Gesang deren Wandlung. Leicht, fast passiv, singt sie in „Aulide“, reif in „Tauride“. Sie ist eine ausdrucksstarke und an diesem Abend auch konditionsstarke Iphigenie.
Der australische Tenor Alasdair Kent überzeugt als leichtfüssiger Achilles, die französische Mezzosopranistin Véronique Gens als verlorene Mutter. der kanadische Bass Russel Braun als leidender Vater, der als furchterregender König bereit ist, das Liebste, zu opfern.
Der französische Bariton Florian Sempey singt den Orest, kraftvoll, fast grausam, wenn er mit Pylades kämpft, dann wieder warmherzig, wenn er dem Freund seine Liebe, seine Freundschaft erklärt.
Der französische Tenor Stanislas de Barbeyrac als Pylades antwortet ihm ebenso, kann Wut und Verzweiflung in seine Stimme legen und auch viel Wärme.
Meisterhaft ist der meist unsichtbar im Operngraben singende Chor des Ensembles Le Concert d’Astrée, der die Vox Populi herausschreit oder donnernd den Sturm auf Tauris ankündigt.
Die Musiker des von Emmanuelle Haïm geleiteten Ensembles Le Concert d’Astrée spielen virtuos, lebendig, kraftvoll unter ihrem Dirigat. Emmanuelle Haïm dirigiert energisch, fordernd, vorantreibend.
Dmitri Tcherniakov hat den Sängern und Musikern einen Kraftakt zugemutet. Sie haben den Abend mit Bravour gemeistert. Fünfeinhalb Stunden (inklusive einer langen Pause) dauert der Abend. Und das ist keine Minute ist zuviel.