„Pelléas und Mélisande“ beim Festival d’ Art Lyrique in Aix-en-Provence
Ein Hochgenuss: Katie Mitchells Interpretation von Claude Debussys Oper
Von Simone Hamm
Ganz selten werden beim Opernfestival in Aix-en-Provence Produktionen wieder aufgenommen. Katie Mitchells bahnbrechende feministische Inszenierung von Claude Debussys „Pelléas und Mélisande“ aus dem Jahre 2016 gehört mit Recht dazu. Für Katie Mitchell ist Mélisande nicht nur Projektionsfläche von Männerphantasien, von Männern, die überhaupt nichts über sie wissen und die sie doch sofort besitzen wollen.
Pelléas-et-Mélisande, Festival-dAix-en-Provence 2024 Foto ©: Jean-Louis-Fernandez
Katie Mitchell inszeniert die Oper aus der Sicht Mélisandes, einer träumenden Mélisande. Deshalb sind häufig zwei Mélisandes auf der Bühne, die reale und die Traumgestalt. Eine Sängerin und eine stumme Schauspielerin. Ebenso gibt es zwei Pelléas. Bisweilen scheinen die Traumgestalten fast über die Bühne zu schweben.
Die erste Szene beginnt im Schlafzimmer. Noch im Hochzeitskleid, ein blutbefecktes Taschentuch in der Hand, macht Mélisande einen Schwangerschaftstest. Er ist positiv. Sie ist müde, schläft ein. Träumt sie oder erinnert sie sich ?
Golaud hatte Mélisande im tiefen Wald gesehen und sie an sein dunkles Schloß geholt. Dort lebt er mit seiner dekadenten, kalten, reichen Familie, die sich darüber mokiert, dass die Armen es wagen, in ihrer Gegenwart zu hungern. Mélisande fühlt sich in jeder Hinsicht unglücklich, eingesperrt. Golaud fällt über sie her.
Pelléas-et-Mélisande, Festival-dAix-en-Provence 2024 Foto ©: Jean-Louis-Fernandez
Golauds viel jüngerer Halbbruder Pelléas verliebt sich in Mélisande. Mélisande erwidert seine Gefühle. Begehren und Erotik sind ihr nämlich alles andere als fremd. Im Gegenteil. In Mitchell feministischen Inszenierung lebt Mélisandes Traumdoppelgängerin ihre erotischen Phantasien gemeinsam mit Pelléas Traumdoppelgänger aus. Mélisande findet ihren Weg aus dem dunklen Schloß hin zu Pelléas: durch Schranktüren, über eine Treppe.
Die hocherotischen, bisweilen sogar drastischen Szenen (so, wenn Pelléas von seiner Hand singt, greift er Mélisande sofort zwischen die Beine) sind mit einer Intimitätskoordinatorin erarbeitet worden. Ihre Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass sich alle,gleich ob Sänger, Schauspieler, Musiker, vor allem aber die Darsteller der erotischen Szenen, sicher fühlen können. Das hat es den Sängern sicher leichter gemacht, die sinnlichen Szenen zu erarbeiten.
Wie immer bei der britischen Theater-, Film- und Opernregisseurin Katie Mitchell sind Bühnenauf- und abbau Präzisionsarbeit. Lizzie Clachan hat verschiedene Räume im alten Schloss geschaffen, die alle ein wenig heruntergekommen sind. Das Schloss hat eindeutig bessere Tage gesehen. Jeder einzelne Raum, alle Gegenstände darin, sind bis auf die kleinste Kleinigkeit genau konzipiert. Schwarze Schiebetüren öffnen und schließen die Räume. Eine Wendeltreppe am Rande und ein verlassenes Schwimmbad wirken unheimlich.
Pelléas-et-Mélisande, Festival-dAix-en-Provence 2024, Foto ©: Jean-Louis-Fernandez
Schnell wechseln die Räume und während des Umbaus ist nur ein Viertel der Bühne sichtbar (mit der Wendeltreppe). Dann werden im anderen Teil die Räume hin und hergeschoben.
Deshalb kommen am Ende, nach den Sängern und der Dirigentin, auch alle Bühnenarbeiter auf die Bühne. Auch sie haben Großes geleistet.
Die finnische Dirigentin Susanna Mälkki gilt als Debussy-Spezialistin. Das Orchester der Opéra de Lyon begleitet hier nicht nur die Stimmen, es schafft die Folie, vor der die oft ätherischen Stimmen zu hören sind.
Die Schweizer Sopranistin Chiara Skerath ist eine scheue traumwandelnde Mélisande mit zarter, eindrucksvoller Stimme
Huw Montague Rendall ist ein verführerischer Pelléas, ein Mann, so ganz anders als der patriarchalische Goloud und dessen Vater. Auch stimmlich. Er singt sehr elegant. Laurent Naouri als brutaler Golaud ist wirklich beeindruckend, seine Stimme enorm wandelbar und macht spürbar, wie er klagt und trauert, wie er sich quält, was die Eifersucht aus ihm macht!
Katie Mitchell hat eine neue Mélisande gezeigt, eine Frau, die Wünsche, Träume, einen eigenen Willen hat. Trotzdem lässt sie „Pelléas und Mélisande“ aber das Mystische, schwer Greifbare. Ein wahrhaft großer Opernabend.