„Palimpseste“ – Eine Tandem-Ausstellung von Susanne Windelen und Jochen Fischer im Haus am Dom
Vielschichtige Überschreibung fragiler Zeiteben
Ein Rundgang mit der Kunstwissenschaftlerin Brigitta Amalia Gonser
In der astralen Atmosphäre des denkmalgeschützten Zollamtsaales mit dem seltsamen Indigoblaulicht der recycelten früheren Fensterfolien entfaltet sich, in einem offenen visuellen Diskurs effektvoll in Szene gesetzt, die Tandem-Ausstellung „Palimpseste“ mit Installationen, skulpturalen Objekten und Zeichnungen der arrivierten Frankfurter Künstler Susanne Windelen und Jochen Fischer. Zwei dialogierende „Mengen von Aussagen“, die – mit den Worten Michel Foucaults – je „einem gleichen“ ästhetischen „Formationssystem zugehören“ empfangen den Betrachter.
Susanne Windelen, Gesamtansicht, Foto: © Michael Meisen, Frankfurt am Main
Gemeinsam ist den beiden Künstlern in ihrem Schaffen das Anliegen, variable Transformation zu erreichen durch intensive Repetition analoger sich überlappender und überlagernder Zeit-Phänomene. Diese sind bei Windelen eher terrestrisch energetischer Natur, die sie in verschiedenen Formen gleichsam sammelt oder archiviert, während Fischer in ihnen die ihn faszinierende dynamische Macht kosmischer Bewegungsströme obsessiv visualisiert.
Generell weist das Œuvre der beiden Künstler eine wachsende Prozessualität der im Laufe der Jahre entstandenen Werkserien auf, aus denen etliche repräsentative Exponate in dieser Ausstellung im Dialog miteinander gezeigt werden.
Der Ausstellungstitel „Palimpseste“, den sie übrigens schon 2021 im Kunstverein Neckar-Odenwald für eine kleine Präsentation eingesetzt haben, visiert demnach nicht nur Formfragen, deren Inhalte sich verweben und vielschichtige Möglichkeiten zur Ansicht und Ausdeutung geben, sondern ebenso aktuelles und akutes Weltgeschehen, was den Bildradius der in der Antike üblichen Praxis der Mehrfachnutzung und Überschreibung von Pergamenten substantiell erweitert.
Es freut uns alle, dass sich die Pforten des Zollamtes in diesem Sommer auf Einladung von Prof. Dr. Joachim Valentin, Direktor Haus am Dom, für die Ausstellung „Palimpseste“ von Susanne Windelen und Jochen Fischer, in besonderer Anerkennung Ihres künstlerischen Schaffens, dem Publikum öffneten.
Susanne Windelen, Scherenschnitte (Detail), Foto: © Michael Meisen, Frankfurt am Main
Wie erkaltete Spuren eines eben sich ergossenen Lavastromes auf einem Plateau liegen die dunklen kraterübersäten „Gesteine und Schlacken“ Susanne Windelens, von 2014/2024, aus Gips und farbigem Stuckmarmor, modelliert im Sinne von Joseph Beuys, als energetische Speicher im Raum verstreut. Kleine, im Urlaub gesammelte Mineralien und Pyrite waren der Auslöser zu deren Werden.
Darüber hängt kopfüber, frei im Raum, ein zeltartiges „Schwarzes Haus“ aus Stoff, von 2017, eines ihrer großen Serie „Labile Balancen“, dessen Form durch 12 unterschiedlich mit dunkler Flüssigkeit gefüllte PET-Flaschen entsteht, die über ein Zugsystem die textile Architektur in einem labilen Gleichgewicht halten.
Eine Zeltkonstruktion, die ihre Vorläufer in ähnlichen aber leichten, hellen Installationen der Serie „Upside Down” hat, die von der Fragilität von Situationen und Zuständen erzählen. Dieses „Schwarze Haus“ suggeriert einerseits ein skulpturales und architektonisches Bauprinzip, offenbart aber andererseits den skeptischen Blick der Künstlerin auf die Unwägbarkeit der Gegenwart: das moderne Nomadentum und existentielle Instabilität.
Susanne Windelen, Labile Balancen, Foto: © Michael Meisen, Frankfurt am Main
Dahinter auf einem Paneel entfaltet sich ein Scherenschnitt-Reigen von Händen, aus den Blättern des Blauglockenbaumes, deren Fragilität für die Schutzbedürftigkeit der Natur durch den Menschen, aber auch für die Verletzlichkeit des Menschen durch die Naturgewalten steht. Oder es erheben sich auf der gegenüberliegenden Wand fragile Balancen an verdorrten Zweigen.
Susanne Windelen, O.T., 2023-24, 6 Aquarelle auf Papier, Foto: © Michael Meisen, Frankfurt am Main
Susanne Windelen, O.T., 2022-23, Aquarelle auf Papier, Foto: © Michael Meisen, Frankfurt am Main
Und daneben erblühen ihre Aquarelle, gemalt mit Pflanzenextrakten.
Susanne Windelen, Kafkas Muse, 2014, Gips, Eisendraht, Foto: © Michael Meisen, Frankfurt am Main
Die weiße diaphane Gipsskulptur „Kafkas Muse“ und der für diese Ausstellung gefertigte Gipsguß zum Kafka-Jubiläumsjahr „Ich habe nur ein Leben“, mit Kafka-Porträt und Zeitungsnotiz auf der Schnittfläche der Wolke, gehört zu Windelens Serie „Clouds“, auf deren Tafeln Text- und Bildinformationen aus Tageszeitungen der letzten Monate spiegelbildlich fixiert sind.
7) Susanne Windelen, Ich habe nur ein Leben, 2024, Gips, Druckfarbe, Hocker, Teppich
Die so entstandenen, in ihren Formen an Wolken erinnernden Archive, dokumentieren und kommentieren als offenes System Susanne Windelens sehr individuelle Zeitsicht auf die gegenwärtige Bilder- und Informationsflut und deren kollektive digitale oder analoge Archivierung.
Die Arbeiten von Jochen Fischer
Jochen Fischer ist ebenfalls Bildhauer, hat sich aber seit 2015 intensiv auf großformatiges Zeichnen in Werkserien konzentriert. Wie schon die Meister der italienischen Renaissance verkündeten „Il disegno è una cosa mentale“, Fischer würde sagen: „künstlerische Arbeit beginnt im Kopf“, entfaltet dann aber ihr kreatives Eigenleben. Dennoch zeigen seine hier ausgestellten Werke der letzten sechs Jahre einen betont konzeptuellen Ansatz. Dabei verzichtet er absichtlich auf Titel, um der Wahrnehmung des Betrachters freien Raum für Assoziationen zu lassen.
Jochen Fischer, O.T., 2019-2020, 10-teilige Zeichnung, 200 x 350 cm, Foto: © Michael Meisen, Frankfurt am Main
Magische Anziehungskraft geht von seiner ersten großen zehnteiligen Arbeit aus, angesichts der mächtigen kosmischen Ströme zehntausender agiler, blaugrüner, minuskler, mit Filzstiften gezeichneter Pfeile. Deren Strömungsgeschwindigkeit ist am höchsten in den Außenkurven und wo der Verlauf am tiefsten ist. Sie visualisieren ungeheure Menschen- und Informationsströme, digitale Datenfluten, nie versiegende Geld- und Güterströme, mondiale Börsencrashs, riesige Zeitverläufe, weltumfassende Epidemien und Pandemien, aber auch den Mainstream im Zeitalter der Medienvielfalt mit digitaler Währung und künstlicher Intelligenz.
Stellenweise umkreisen diese treibenden gleichgeschalteten Ströme aber ausgesparte von kritischen Datumsstempeln übersäte Zeit-Inseln. Vor dieses grafische Panorama dynamischer Machtentfaltung setzt Fischer nun die unserem Zeitalter gemäße Vermessung des prototypischen biblischen Menschenpaares: seine Interpretation des Menschen als Maß aller Dinge und seine Paraphrase des Vitruvianischen Menschen von Leonardo da Vinci, da in der Auffassung des Philosophen Immanuel Kants „alle Dinge nur so sind, wie sie dem Menschen erscheinen“.
Jochen Fischer, O.T., 2020, Zeichnungen,je 100 x 70 cm, Foto: © Michael Meisen, Frankfurt am Main
Die kosmischen Strömungsbilder variiert er dann kreativ in mittelgroßen farbigeren Zeichnungen mit malerische Akzenten.
Jochen Fischer, O.T., 2022-2024, 8-teilige Zeichnung, 200 x 280 cm, Foto: © Michael Meisen, Frankfurt am Main
Gewaltige Energien entfaltet auch vis-à-vis das zweite achtteile Zeichenwerk, eine stürmische Himmels- und Meereslandschaft mit flirrender Luft und glitzerndem Wasser, die als eine zeitgemäße authentische Paraphrase des wunderbaren Farbholzschnitts „Die große Welle vor Kanagawa“, des japanischen Künstlers Katsushika Hokusai interpretiert werden könnte.
Mit seinen von Wind und Wetter getriebenen, tausenden und abertausenden Elementarteilchen winziger, mit farbigen Filzstiften gezeichneter Kreise, Wasserperlen und Schaumblasen in sepia-grün-blau-bis-violett-schwarzen Tönen, die von Sog- und Wirbelströmungen zu riesigen Wellen und Schaumkronen aufgetürmt werden, hat dieses Werk Fischers eine beeindruckende Dynamik, die den Kontrast zwischen der Vergänglichkeit des menschlichen Lebens und der imposanten aber auch gefährdeten Natur zur Geltung bringt.
Jochen Fischer, O.T., 2020-2024, Zeichnungen, je 100 x 70 cm, Foto: © Michael Meisen, Frankfurt am Main
Ein weiteres Interessengebiet Fischers bildet die zeichnerisch experimentelle Auslotung und Erkundung der aus ethnographischen Traditionen inspirierten Ornamentik. Damit setzt er sich selbstverständlich dialektisch auch mit dem Begriff „kulturelle Aneignung“ auseinander, wobei er sich aber als an afrikanischen ornamentalen Formen und Ausdrucksweisen interessierter, ethnographisch forschender Künstler davon bewusst abgrenzt und einen kulturellen Austausch auf Augenhöhe anstrebt.
Jochen Fischer,Afrika-Ornamente „Leere Taschen“, Foto: © Michael Meisen, Frankfurt am Main
Mit Fischers malerischer Tapisserie von 2014 mit dem suggestiven Titel „Leere Taschen“ aus aneinandergereihten, abgetragenen und umgestülpten Männerhosen beenden wir unseren akzentreichen Rundgang durch die Ausstellung „Palimpseste“.
So rezipieren beide Künstler Zeitgegebenes und Zeitgeschehen auf ihre jeweils eigene Art und transportieren es in ihre Werke, die somit zu authentischen Zeitkapseln werden.
Typisch ist auch, dass die beiden Künstler in ihren Aquarellen und den großen Zeichnungen durch das Verwenden natürlicher Pigmente, wie Pflanzenextrakte, oder den vorrangigen Gebrauch von farbigen Filzstiften die zeitliche Verblassung ihrer Kunstwerke nicht nur in Kauf nehmen, sondern sogar einkalkulieren. So erfasst den Betrachter angesichts des Prozesses dieses unaufhaltsamen Verschwindens von Kunst tiefe Wehmut: that’s life! „Ewigkeit ist nicht jedermanns Sache“ konstatierte schon der Dada-Künstler Kurt Schwitters.
Zeitgemäße visuelle Aussagen durch ihre Kunstwerke überzeugend zu transportieren, zu konservieren und zu revitalisieren entspricht dem ästhetischen Sendungsbewusstsein und dem konzeptuellen Kunstwollen dieser beiden Künstler.
Biografien
Susanne Windelen (*1959) und Jochen Fischer (*1954) haben zusammen eine Reihe nationaler und internationaler Ausstellungen, Projekte und Kooperationen realisiert. Die aus künstlerischen Forschungsaufenthalten entstandenen Arbeiten wurden von ihnen unter anderem in Uruguay, Korea, Italien, Ägypten und Deutschland präsentiert.
Für ihre künstlerische Arbeit wurden beide mit dem Wilhelm Lehmbruck-Stipendium der Stadt Duisburg, dem Barkenhoff Stipendium Worpswede und dem europäischen Austauschprojekt ›Tansfer‹ des Sekretariats für gemeinsame Kulturarbeit NRW ausgezeichnet. Susanne Windelen war Stipendiatin des Landes Rheinland-Pfalz in der Villa Balmoral, Bad Ems, Jochen Fischer Stipendiat der Akademie Solitude, Stuttgart und Preisträger des Dorothee von Stetten Kunstpreises Bonn sowie Preisträger des Uno Royal Garden Award des Hakone Open Air Museum in Hakone, Japan.
Susanne Windelen war Professorin für Bildhauerei an der Staatlichen Akademie der Künste in Stuttgart, Jochen Fischer lehrte am Institut für Kunstpädagogik der Goethe-Universität in Frankfurt am Main als Professor für Plastik und künstlerische Raumkonzepte.
Alle Fotos: © Michael Meisen, Frankfurt am Main mit freundlicher Genehmigung der Künstler, Text: © Brigitta Amalia Gonser, Kunstwissenschaftlerin, Frankfurt am Main
Die Ausstellung „Pailmpseste“ ist noch zu sehen
bis zum 9. August 2024 im
Haus am Dom
Domplatz 3
60311 Frankfurt
Tel: (069) 800 87 18 – 501
https://hausamdom-frankfurt.de/
Öffnungszeiten
(Mo – bis Fr 9 bis 17 Uhr, Sa und So 11 bis 17 Uhr).
Der Eintritt ist frei.