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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Preis der Autorenstiftung 2024 für die Drehbuchautorin und Filmemacherin Sylke Ender

Schlamassel allüberall

von Renate Feyerbacher

„Was für ein Schlamassel“, was für eine verfahrene, unangenehme Situation, wieso bin ich da hineingeraten, so fragt man sich gelegentlich. Im Film „Schlamassel“ von Sylke Enders ist die Krise, die Klemme, die Ausweglosigkeit, sind Misslichkeiten ständig Thema. Konflikte über Konflikte, über die aber keiner bisher wirklich sprach. Der Film: das humorvolle Drama von Johanna, einer jungen Frau, einer Fotojournalistin, die mit sich und ihrer Familie ringt und eine andere, fremde Familie, deren Mutter, Oma, eine ehemalige KZ-Aufseherin in Ravensbrück, namens Anneliese Deckert in große Verwirrung stürzt…

Sylke Enders bei der Preisverleihung in Frankfurt, Foto:Renate Feyerbacher

„Unsere Mutter hat niemandem was getan. Da gibt es nichts zu erzählen,“ so eine der Töchter der heute 80-Jährigen. Verharmlosend braucht sie, die ehmalige KZ-Aufseherin, das Wort Schlamassel und sieht sich selbst dabei als Opfer: „Wir als Wachpersonal haben oft Hunger gehabt. Die Häftlinge hatten genug zu essen.“ 

Der Film beginnt mit der Beerdigung von Johannas Großmutter, die sie über alles geliebt hat. Warum bleibt offen. Ohne die Liebe ihrer Mutter, deren Wut, um die entgangene Erbschaft kreist, versucht Johanna ihr Leben als Lokajournalistin in den Griff zu bekommen.

Die Geschichte von „Schlamassel“ spielt im Jahr 1997 als Schaf Dolly geklont wurde. Es ist die Nachwendezeit. Prägende Jahre für Sylke Enders, die in Brandenburg an der Havel geboren und in Kleinmachnow aufgewachsen ist und heute in Berlin wohnt. Sie studierte Soziologie an der Humboldt-Universität und hat einen sowohl kritischen als auch verständnisvollen Blick auf die Zerrissenheit von Familien. Nicht aufgearbeitete Traumata werden von Generation zu Generation weitergegeben. In „Schlamassel“ werden die Konflikte schließlich angesprochen.

Regisseurin, Drehbuchautorin, Filmproduzentin Sylke Enders, die  5000 Euro Preisgeld aus den Händen der Vorsitzenden der Autorenstiftung Annette Reschke in Frankfurt entgegennahm, wurde für ihre Filme mehrfach ausgezeichnet. Silber für den Besten Spielfilm“ Kroko“ im Jahre  2004.  Er erzählt von der 17jährigen Berlinerin Julia, die, ohne Führerschein, mit einem fremden Auto einen Radfahrer anfuhr und zu 60 Stunden Arbeit mit behinderten Menschen verurteilt wurde und daran wächst.

Ihr Film „Mondkalb“ (2007) wurde als ‚besonders wertvoll‘ eingestuft. Für „Schönefeld Boulevard“ (2014) erhielt sie  beim Filmfest Lünen die Perle, die Frauen aus der Filmbranche auszeichnet. Sie schrieb für diese Filme das Drehbuch und führte Regie. Der Fernsehfilm  „Zwei verlorene Schafe“ (2016),, für den sie Regie führte, erreichte eine beachtliche Zuschauerzahl.

Ulrich Hub und Hans-Werner Hess, Zwei namhafte Laudatoren, ehrten Sylke Enders mit einer analytisch ausgetüftelten, anspruchsvollen, auf den Menschen Enders und ihren Film eingehende Laudatio.

Ulrich Hub, zunächst Schauspieler, Regisseur ist einer der bedeutendsten, vielfach ausgezeichneten Kinderbuchautoren. „Sein Theaterstück und Kinderbuch ,An der Arche um Acht“’ist im In- und Ausland zu einem modernen Klassiker der Kinderliteratur geworden“, (laut Verlag der Autoren). Sein letztes Kinderbuch „Arschbombe verboten“ (Carlsen Verlag 2023) mit Bildern von Jörg Mühle über Freundschaft, Verrat und die Kunst, sich selbst zu akzeptieren, ist ein Renner.

Über Hans-Henner Hess heißt es im Autorenverlag: „ Er arbeitete viele Jahre als Dramaturg bei der Bavaria-Gruppe, schrieb eine erfolgreiche Krimireihe für den Dumont-Verlag, erfolglose Theaterstücke sowie zahlreiche Konzepte und Drehbücher für bekannte TV-Formate. Als Volljurist schreibt Hess mit Vorliebe über Themen, die nichts mit Jura zu tun haben.“

Juyvorsitzende Anja Reschke und Sylke Enders, Foto: Renate Feyerbacher

Enders erklärt nicht, was damals im Osten los war, dennoch so wird in der Laudatio gefragt: „Was macht es mit den Leuten, wenn der Kapitalismus auf eine unerfahrene Gesellschaft losgelassen wird?“ Johanna fotografiert in einem Autohaus mit vermeintlichen Models, die Mutter fährt Trabi, der Chef Wartburg, die Handwerker, die in der DDR produzierten Schnelltransporter namens Barkas, und ein älterer Herr sieht voraus, dass die Fremden schuld sind.

Als Johanna ein Foto zugespielt wird, hofft sie, eine investigative Story schreiben zu können. Gut gekleidet mit Blumenstrauss sucht sie die alte Dame, die Aufseherin von Ravensbrück, dem größten KZ für Frauen während des Nazi-Regimes war, auf.

In einem Gespräch beim Sender rbb erzählt Enders am 23.9.2023 vom Auslöser zu dieser Geschichte: „Es war tatsächlich die Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück. Ich stieß auf Täterinnen, Protokolle. Aber das war noch nicht das Spannendste. Unsere Suche nach Stunden ergab, dass es auch Kassetten gab. Und dann hörte ich diese Protokolle. Die Stimmen, die Pausen.“

Johanna hört zu, kommentiert nicht, als Anneliese Deckert sagt: „Der Himmler schaut immer auf die Hände.“

Die Jury mit Sylke Enders (Mitte) , von links: Hans-Werner Hess, Drebuchautorin Alexandra Maxeiner, Ulrich Hub, alle im Vorstand der Autorenstiftung dahinter Vorsitzende Anja Reschke, Foto:Renate Feyerbacher

Die Jury würdigt die unaufgeregte Filmerzählung: „Ein Drehbuch von Klarheit und Poesie und dessen filmische Umsetzung, die in karger, konzentrierter Bildästhetik und Formensprache das grandiose Schauspielensemble glänzen lässt.“

Lore Stefanek, die große österreichische Theaterschauspielerin und -regisseurin, spielt Anneliese Deckert.  Kaum zu glauben, dass sie KZ-Aufseherin war.

Die in Quedlinburg geborene Theater-, Film- und Fernsehschauspielerin Mareike Beykirch erhielt für ihre Rolle als Johanna in „Schlamassel“ den Nachwuchspreis beim 32. Filmkunstfest Mecklenburg-Vorpommern. Den hat sie verdient für ihre differenzierte Interpretation der jungen Lokaljournalistin, die sich ziemlich mürrisch, auch aggressiv, labil zeigt, dann zunehmend ruhiger, einsichtiger: „Ich bin im Umbau“, sagt Johanna am Ende von „Schlamassel“.

Auch alle anderen Rollen sind vorzüglich besetzt, wirken authentisch.

Der Verlag Henschel,  der Schauspiel – Theaterverlag Berlin, vertritt die Vergaberechte für Drehbuch und Film von Sylke Endres, die sich über die Teilnahme von Anna Kokenge bei der Preisverleihung in Frankfurt freute.

Sylke Enders freut sich, dass Anna Kokenge vom Verlag eigens nach Frankfurt anreiste, Foto:Renate Feyerbacher

Es ist schwierig, die verschiedenen Themen, die angesprochen werden, aufzunehmen. Das Hin und Her zwischen den Familien hat eben auch was mit Schlamassel zu tun. Dennoch gelingt es dem Film, den Zuschauer zur Spurensuche in der Vergangenheit und zum Nachdenken über zeitlose Themen anzuregen. Der Bogen ist weit geschlagen.

Noch einmal Worte aus der Laudatio von Hub &Hess: „Eine Qualität des Filmes ist, dass Konflikte tatsächlich ausgetragen werden anstatt künstlich zugespitzt. Vieles wird zwischen den Zähnen hinausgepresst, manchmal wird scheinbar ziellos drauflos geschimpft. Die Protagonistin friert, ganz physisch in ihrer nicht winterfesten Behausung, und innerlich, wenn sie mit ihrer gefühlskalten Mutter redet. Die Menschen stecken fest in prekären Verhältnissen und dysfunktionalen Familien, es gibt viel Unausgesprochenes zwischen den Generationen nach zwei Diktaturen, man sieht eher verödete als blühende Landschaften.“

Ein Film, der es verdient, von vielen gesehen zu werden.

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