Uraufführung von William Kentridges Oper „The Gerat Yes, The Great No“ auf dem Festival in Aix-en-Provence
Ein Wirbelsturm aus Klängen, Bildern, Worten, Rhythmen
Von Simone Hamm
Marseille1941. Ein Frachtschiff nimmt Kurs auf Martinique. An Bord sind Juden und Staatenlose, Intellektuelle und Künstler, die vor dem Vichy- Regime fliehen. Darunter der Surrealist André Breton, der Ethnologe Claude Lévi-Strauss, die Schriftstellerin Anna Seghers, das Schriftstellerehepaar Suzanne und Aimé Césaire. Diese Überfahrt nach Martinique hat der der südafrikanische Künstler William Kentridge als Vorlage für seine Oper „The Gerat Yes, The Great No“ genommen, die beim Festival in Aix-en-Provence uraufgeführt wurde.
„The Great Yes, The Great No“, Festival d’Aix-en-Provence 2024 Foto: © Monika Rittershaus
Dafür werden die Zuschauer nach Arles zur LUMA Stiftung gebracht. Die Stiftung hatte die Oper in Auftrag gegeben, die Ruhrfestspiele Recklinghausen sind Koproduzent.
Im LUMA, in einer Halle in einem großen Garten mit Teich und Wildblumen ist auch eine Ausstellung von Kentridges Werken zu sehen: Tuschezeichnungen, Videos, Schattenspiele, Collagen.
„The Great Yes, The Great No“, die Geschichte von Exil und Migration, von Kolonialismus und Barbarei wird in einer anderen Halle gezeigt.
William Kentridge lässt neben den tatsächlichen Passagieren noch andere mitreisen: Josephine Baker, die in der Résistance gewesen war, den Psychhiater, Politiker und Schriftsteller Frantz Fanon, einen Vordenker der Entkolonisierung, die Schwestern Paulette und Jeanne Nardal, welche die literarischen Bewegung der sogenannten Négritude mitbegründet hatten. Sie alle haben gegen Rassismus und Kolonialismus gekämpft. Fanons und Nardals Texte bilden den Kern des Librettos der Forscherin und Autorin Mwenya Kabwe. Hinzukommen Texte von Brecht, Majakowski, Breton.
Das mag alles sehr ernst, sehr streng klingen. Dabei ist Kentridges Überfahrt eine kreolische, eine tropische Oper, die überhaupt nicht hölzern, nicht agitpropmäßig wirkt. Und deshalb darf sogar Joséphine Bonaparte auf dieser immer surrealistischer werdenden Reise mitfahren.
Wiliam Kentrigdes „The Great Yes, The Great No“ ist eine multidisziplinäre Arbeit. Vertreter von Bildender Kunst, Musik, Tanz und Theater treffen sich auf der Überfahrt. Es entsteht ein Wirbelstrum aus Klängen, Bildern, Worten, Rhythmen.
„The Great Yes, The Great No“, Festival d’Aix-en-Provence 2024 Foto: © Monika Rittershaus
Die Sänger, Schauspieler und Tänzer tragen Masken aus bedruckter Pappe, welche die Figuren zeigen, die gerade gespielt werden. Sehr schnell wechseln die Figuren. Kurz tauchen Leo Trotzki, Frida Kahlo, Diego Rivera und ein kleiner teuflischer Stalin auf. Ein sehr schöner Einfall ist, dass es André Breton gleich doppelt gibt. Er spricht mit sich selbst.
Die Faschisten hingegen, die ja in den Gedanken aller Reisender präsent sind und deshalb immer wieder auftauchen, haben keine Gesichter. Auf ihren Schultern tragen sie nicht Hals und Kopf, sondern kleine, klassische italienische Expressssokocher. Das Frachtschiff schaukelt gefährlich.
William Kentridge hat eine überbordende Phantasie. Im Hintergrund des Schiffsdecks ist ein Rad zu sehen, auf dem sich Scherenschnitte, alte Fotografien, Landkarten, Zeichnungen üppiger Pflanzen drehen.
Worte, Sätze aus ausgeschnittenen Zeitungsartikeln sind zu lesen, etwa „Warum ist dieses Jahrhundert das Schlimmste von allen?“ Stillleben erwachen, fangen an sich zu bewegen. So schafft Kentridge eine sehr poetische Welt. Eine mobile Welt aus Assoziationen.
Wie ein Zermemonienmeister führt der Kapitän des Frachtschiffes durch den Abend. Er trägt den Namen Charon, des Fährmanns also, der die Toten über den Totenfluss in den Hades bringt. Der großartige südafrikanische Schauspieler Hamilton Dhlamini stellt ihn dar. Es mangelt ihm nicht an Selbstironie.
Nhlanhala Mahlangu hat für einen Chor aus sieben Frauen intensive, bisweilen dramatische, dann wieder zart vibrierende afrikanisch-karibische Gesänge komponiert. Tief beeindruckend singen sie in einer Zulusprache davon, sich zu befreien, die zerstörte Welt aus Ruinen wieder aufzubauen. Nathan Koch, Mitglied des Ensembles, hat die Musik arrangiert.
Dann wieder sind Klänge von Cello, Klavier und Schlagzeug zu hören. Die Erinnerungen an ein einst besseres Europa fahren mit nach Martinique, mit in eine bessere, hoffnungsvolle Zukunft.
William Kentridge, der weiße Südafrikaner, hat sein ganzes Leben lang gegen Apartheid und Rassismus gekämpft. Im kommenden Jahr wird er 70 Jahre alt. Er könnte längst in London, Paris oder New York leben, da, wo er große Opern inszeniert hat (an der MET etwa Gogols „Die Nase“ und Alban Bergs „Lulu“ inzseniert), da, wo er verehrt wird. Aber er bleibt in Johannesburg, schreibt Theaterstücke, Opern, zeichnet, macht Collagen, filmt und wird nicht müde, Ungerechtigkeit anzuprangern. Auf kongeniale, sehr unterhaltsame Weise feiert er die Kraft der Poesie, der Imagination, der Kunst.
Wer „The Great Yes, The Great No“ demnächst in Deutschland sehen möchte, sollte unbedingt im kommenden Jahr zu den Ruhrfestspielen kommen.