„INES „von Ondrej Adámek und Katharina Schmitt uraufgeführt
Radioaktiver Unfall an der Oper Köln
Stimmengewirr vor Beginn der Oper. Nach einer Weile erst bemerkt man, dass es keine Zuschauer sind, die da tuscheln, sondern, dass es aus Lautsprechern kommt. Wir verstehen „Katastrophe“, „Unfall“. Der Chor der Kölner Oper nimmt das Wispern auf. So beginnt die Oper „INES“ des tschechischen Komponisten Ondrej Adámek und der Librettistin und Regisseurin Katharina Schmitt an der Kölner Oper.
Hagen Matzeit (O), Kathrin Zukowski (E) Foto: © Matthias Jung / Oper Köln
Hunderte von schneeweißen Säcken stehen auf der Bühne (Ausstattung Patricia Talacko). Eine dystopische Welt. Ein furchtbarere Atomunfall, eine Sieben auf der INES Skala, hat Land und Leute verstrahlt. INES bedeutet “International Nuclear and Radiological Event Scale“.
E arbeitet in einem Naturkundemuseum. Bei einem Atomunfall wird sie verstrahlt. Durch die Atomkatastrophe fällt sie regelrecht auseinander, zerfällt in mehrere Figuren, in ein Ensemble aus Doppelgängerinnen.
O ist unendlich traurig über den Tod seiner Geliebten. Am liebsten würde er zum Schatten werden.
Den Figuren zu Grunde liegt der Mythos von Orpheus und Eurydike, dem großen Liebespaar, das der Tod trennt, das die Götter aber wieder zusammenbringen wollen. Orpheus steigt in die Unterwelt, ins Schattenreich, um Eurydike zurückzuholen. Dabei darf er sich nicht nach ihr umdrehen. Als er es dennoch tut, stirbt Eurydike endgültig.
In „INES“ wird nicht chronologisch erzählt. Es geht um O, seine Traumata, die ihn wieder und wieder heimsuchen. Aber auch um Erinnerungen an die schöne Zeit mit E, die in Rückblenden gezeigt werden. Zuerst mag das verwirren, hat man es einmal verstanden, ist es von großer Dynamik.
O besucht E im Krankenhaus. Ineinem Kubus, einem Isolationszelt steht ein Krankenbett. Die Ärztin (Dalia Schaechter) berichtet kühl, was ein Atomunfall mit einem Menschen macht. Sie erklärt O, dass E bald sterben wird. O will seine Frau wegzerren, mitnehmen, stöpselt sie von den medizinischen Geräten ab. So stirbt E endgültig. Das ist der Blick zurück, den Orpheus auf Eurydike geworfen hat.
Beide Hauptdarsteller sind einfach großartig. Zunächst schweigt O. Hagen Matzeit deklamiert zunächst. Es ist eine Art Sprechgesang. Er beginnt überhaupt erst zu singen, als E bereits tot ist. Durch ihren Tod wird er zum Sänger mit einer enormen Bannbreite. Zunächst singt er einen satten Bariton.
Je mehr Trauer und Angst von ihm Besitz ergreifen, desto höher singt er. Aus dem Bariton wird ein Countertenor mit glasheller Stimme. Kathrin Zukowski als E singt schön und rein, ihre Doppelgängerinnen Olga Siemienczuk, Tara Khozein und Alina König Rannenberg singen im Terzett dazu. Die Solostimme von E ist längst zum Echo geworden.
Kathrin Zukowski (E) und Musiker des Gürzenich-Orchesters, Foto: © Matthias Jung / Oper Köln
Der Chor der Oper Köln (Leitung Rustam Samedov) leistet Enormes, läuft oder schleicht über die Bühne, kommt aus allen Ecken.
Das Orchester dirigiert Ondrej Adámek selbst. Die Musiker sitzen auf der Bühne und um die Zuschauer herum. Einzelne Musikergruppen sind hinter und neben dem Publikum platziert.
Henry Purcell mit seinem „Cold Song“ aus King Arthur wird ebenso zitiert, wie Carl Orff und Phil Glass. Georgische Volksmusik fließt ein. Es gibt sogar Swing Nummern, wenn vier junge Frauen auftreten, die dem Bomberpiloten von Hiroshima einen Brief geschrieben haben.
Ja, auch an Hiroshima wird in „INES“ erinnert. Auch hier gab es ja ein Schattenreich. Die nach der Katastrophe ins Trottoir eingebrannten Leichen wirkten wie Schattenrisse.
Der sich immer und immer wieder wiederholenden Chorsänger fügen eine ganz eigene, fremde Klangfarbe hinzu.
Von überall tönt die Musik, hört man Stimmen, ein Klangteppich aus Tönen, Rauschen, Wispern. Am Ende sind nur noch einige Worte, dann Silben, dann einzelne Buchstaben zu hören. Und dann: nichts mehr.