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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Frankfurt: Einst, jetzt und demnächst: Ein Interview mit dem scheidenden Direktor Jan Gerchow

„Das Museum muss für alle funktionieren“

Das Historische Museum Frankfurt (HMF) ist eins der ältesten Museen der Mainmetropole und eines der größten Stadtmuseen Europas, außerdem eine echte Sehenswürdigkeit, außen wie innen. Es erklärt nicht nur die Geschichte Frankfurts, sondern trägt zum Verständnis von Gegenwart und Zukunft der Stadt bei. Am 12. Juli geht sein Direktor Dr. Jan Gerchow in den Ruhestand. In seine fast 20-jährige Amtszeit fallen Abriss und Neubau eines Großteils des Hauses sowie die international beachtete Neukonzeption aller Ausstellungen. FF-Herausgeberin Petra Kammann lässt im Gespräch mit Jan Gerchow einige Stationen Revue passieren.

Museumsdirektor Dr. Jan Gerchow vor dem Historischen Museum Frankfurt, Foto: Petra Kammann

Petra Kammann: Wie ist es eigentlich, ein Geschichts- und Stadtmuseum einer Bürgerstadt wie Frankfurt zu leiten? Es ist ja zwangsläufig anders angelegt als ein Museum in einer Residenzstadt oder einer Hauptstadt. Gibt es da so etwas wie eine kuratorische Freiheit?

Dr. Jan Gerchow: Ja, die Bürgerperspektive schätze ich hier besonders, die verbunden ist mit einer republikanischen Tradition und damit einer gewissen Staatsferne. Anders als ein Museum, das sich auf eine Hauptstadt bezieht, geht es hier weniger um Nationales und Politisches. Das verschafft einem auch innerlich eine gewisse Freiheit. Wenn ich das mit dem Deutschen Historischen Museum in Berlin vergleiche, bei dem ich seit rund 10 Jahren Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats bin, empfinde ich das ganz besonders. Da bekomme ich so manches mit, was die Rahmenbedingungen betrifft. Ähnlich verhält es sich im „Haus der Geschichte“ in Bonn. Natürlich gelten diese beiden Museen in Deutschland als die großen Geschichtsmuseen. Aber auch Frankfurt zählt zu den großen Geschichtsmuseen – mit einer besonderen Frankfurter Perspektive.

Gespräch mit Jan Gerchow in seinem Büro, Foto: Petra Kammann

Sie haben ja auch noch andere Erfahrungen wie zum Beispiel mit dem Ruhrland Museum, das im Ruhrgebiet liegt.

Nun ja, das heißt zwar so, aber eigentlich ist es das Stadtmuseum von Essen. Stärker als hier in Rhein-Main ist in Essen der Blick auf das Industriegebiet und auf die Industrielandschaft gerichtet.

Kommen wir zu Ihren Auslandserfahrungen. Da kennen Sie sich vor allem im Angelsächsischen aus. Sehen Sie da Berührungspunkte zu Ihrer hiesigen Museumsarbeit?

Stadtmuseen wie etwa das „Museum of Liverpool“, das 2011 neu eröffnet wurde, oder das „Museum of London“ sind wichtige Referenzmuseen für unsere Planungen in Frankfurt. Für mich und für uns als Team galten englische Museen immer als vorbildhaft, vor allem, was die Einstellung zu den Themen, die Vermittlung und Teilhabe betrifft, sind sie schon lange Vorreiter.

Und das trotz der britischen royalen Tradition in England?  

In Großbritannien ist das Parlament eben doch wichtiger, als die Royals es sind. Natürlich gibt es königliche oder fürstliche Sammlungen. Aber das spielt für die Entwicklung eines Museums keine große Rolle, sondern eher die publikumsorientierte Ausrichtung.

Ist die Konstruktion eines Historischen Museums wie überhaupt das systematische Sammeln und Ausstellen von Dingen in Deutschland eine typische Tradition des 19. Jahrhunderts?

Es ist eine europäische Tradition, die im 19. Jahrhundert begründet wurde. Sie hängt nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern, vor allem mit dem Nationalismus zusammen.

Zwangsläufig auch mit der Französischen Revolution?  

Ja, insofern als dadurch Sammlungen „freigesetzt“ wurden – etwa durch Säkularisation von Klöstern und Stiften, oder die Auflösung vieler kleiner Fürstentümer und Reichsstädte. Es gibt da viele Wurzeln. Im Lauf des 19. Jahrhunderts übernahmen Städte und Staaten viel mehr Verantwortung für Soziales und für Kultur. Institutionen wie Bibliotheken, Archive und Museen wurden jetzt in öffentlicher Trägerschaft errichtet. Und unterhalten.

Gleichzeitig ging es um Wissenschaftlichkeit bzw. Verwissenschaftlichung. Die Museumssammlungen wurden – anders als viele der kirchlichen, fürstlichen oder privaten Sammlungen in den Jahrhunderten zuvor – nach wissenschaftlichen Kriterien angelegt.

Letzte Tage im Büro des Historischen Museums, Foto: Petra Kammann

Ja, und dazu gehört eben auch das Sammeln von Dingen. Wie empfinden Sie das Sammeln in einer Zeit, die eigentlich – nicht zuletzt durch die Globalisierung, Überproduktion und Vervielfältigung im Internet – ohnehin schon übervoll ist? Hat das Sammeln heute einen anderen Sinn als noch vor 100 Jahren?

Das glaube ich eigentlich nicht. Sammeln als solches hat sich nicht so sehr verändert. Es wird heute aber bewusster gesammelt, z.B.  bei der Frage des legitimen oder legalen Eigentums. Die Frage nach der Legitimität von Eigentum an Museumssammlungen stellt sich heute ganz anders als noch vor 100 bzw. vor 150 Jahren. Das spiegelt sich besonders in der Provenienzforschung, also der Recherche nach den Vorbesitzern von Objekten. Hier wird auch der Kunstmarkt viel stärker durchleuchtet als vorher.

Nehmen wir mal nur die Antiquitäten. So ist doch inzwischen zum Beispiel das Interesse an Antiquitäten in den letzten Jahren sehr zurückgegangen. Welchen Wert haben eigentlich diese „alten Dinge“? Haben sie überhaupt noch einen Wert?

Sie verlieren vielleicht ein wenig oder auch viel ihres Handelswerts, aber auf Dauer eben nicht ganz. Insofern hat sich die Voraussetzung für das museale Sammeln gar nicht so verändert. Uns als Museum geht es darüber hinaus viel mehr um die inhaltlichen Werte von Objekten.

Und was geschieht, wenn Sie als Museum Sammlungen angeboten bekommen? Muss man nicht doch auch zunächst einmal sehr kritisch ein Auge auf das Angebot einer Schenkung werfen und eine gewisse Vorsicht walten lassen? Wie können Sie überprüfen, ob das Angebotene überhaupt seriös ist?

Das versuchen wir natürlich herauszufinden, mit unseren erfahrenen Kuratoren und Kuratorinnen mit ihren Spezialgebieten. Im Team beraten wir dann, ob ein Objekt oder ein Konvolut für die Ergänzung unserer 16 Museumssammlungen relevant ist.

Obwohl das HMF kein Kunstmuseum ist, gibt es viel Kunst in unseren Sammlungen, wie die Gemälde, Skulpturen oder auch die Glasgemäldesammlung. Das trifft teils auch auf die Fotografie zu. Die Laterna Magica-Sammlung sagt etwas über die Vorgeschichte von Fotografie und Film aus. Unser Museum hat natürlich viele Objekte zur Alltags- und Kulturgeschichte, wie z.B. Möbel und  Textilien, also Modegeschichte.

Stiftungspreis 2020: Anerkennung als „Das beste Heimatmuseum“, v.l.n.r.: Jan Gerchow, Kulturdezernentin Ina Hartwig und Jan Schneider, Stadtrat bis 2021, Foto: Petra Kammann

Dabei hat sich Frankfurt doch eigentlich nie besonders als Modestadt hervorgetan…

Genau das aber haben wir versucht zu widerlegen: In der Ausstellung „Kleider in Bewegung. Frauenmode seit 1850“  haben wir gezeigt, dass Frankfurt zwischen den 1950ern und 70er Jahren, also in der sogenannten Wirtschaftswunderzeit, eine Hauptstadt der Mode in der Bundesrepublik war, mit vielen Modeateliers. Das hat sich dann nicht so fortgesetzt.

Aber auch im 19. Jahrhundert und im frühen 20. Jahrhundert wurde zwar weniger entworfen, dafür aber stark konsumiert. Da hat man sich eher in der Mode an Paris oder London orientiert. Im Wirtschaftsbürgertum  gab es einen ausgeprägten Kleiderkonsum. Frankfurter Familien haben dem Museum schon im 19. Jahrhundert besondere Kleider überlassen. Ab den 1970er Jahren hat das Museum dann gezielt Alltagskleidung gesammelt.

„Kleider in Bewegung“ im Stadtlabor, Foto: Petra Kammann

Nun war Frankfurt ja immer auch eine geschätzte Stadt der Musik. Sind Sie im Besitz von Instrumenten oder Partituren der Musiker, die hier gelebt haben?

Nein, Instrumente von Musikern haben wir nicht (bis auf eine Trompete von Carlo Bohländer), wohl aber Instrumente der Städtischen Kapelle seit dem 16. Jahrhundert. Eigentlich sollte Frankfurt nach Hilmar Hoffmanns Plänen auch ein Deutsches Musikmuseum bekommen, sogar eine Sammlung wurde begonnen. Da das Museum dann nicht gegründet wurde, landete die Sammlung im HMF. Die Stadt- und Universitätsbibliothek hat seit 1947 die Sammlung des „Manskopfschen Musikhistorischen Museum“ übernommen, eine wirklich umfangreiche Sammlung von Dokumenten und Instrumenten, mit sehr viel Frankfurter Musikgeschichte.

Wie schätzen Sie das Verhältnis zwischen Sammelangebot und zusätzlichem Einkauf von Objekten ein, um Ihren aktuellen Stand zu ergänzen?

Natürlich gibt es immer wieder Objekte, die unsere vorhandenen Objekte sinnvoll ergänzen. Dafür schauen wir regelmäßig die einschlägigen Kataloge der Auktionshäuser an. Außerdem erfahren wir über die Antiquare, die uns Objekte anbieten, und Museumskollegen, die ebenfalls auf der Suche sind, was sich für uns eignen könnte. Da haben wir glücklicherweise die Freunde und Förderer des Museums und vor allem die großzügigen Mitglieder des SaalhofClubs, die uns jedes Jahr für solche Ankäufe Geld geben, damit wir spontan bei Auktionen handeln können.

Wie definieren Sie Ihre Zielgruppe? Wenden Sie sich an alle, die in Frankfurt leben? Oder eher an die Touristen, die das Museum besuchen? Oder an die Frankfurter, die häufig genug auch ganz international sind, aus anderen Ländern kommen und hier phasenweise arbeiten oder an die „Eigeplackten“?

Ein Stadtmuseum muss für alle funktionieren. Das drückt vielleicht am besten die große Schneekugel aus, die schon vor dem Museum verschiedene Eigenschaften der Stadt vor Augen führt, die Frankfurt von anderen Städten unterscheidet.

Die Schneekugel ruft verschiedene Seiten der Stadt Frankfurt auf, Foto: Petra Kammann

Als Sie 2004 nach Frankfurt kamen, stand an der Stelle noch der Sichtbetonbau aus den 1970er Jahren. Ein etwas dunkler Kasten, der zum Rest der Architektur auf dem Römerberg wenig zu passen schien. Waren Sie schon mit dem Wunsch angetreten, da etwas Neues zu schaffen?

Bevor ich meine Stelle antrat, war schon ein Umbauverfahren im Gange, weil das Haus auch technisch saniert werden musste. Und da stellte sich dann die Frage, ob es denn sinnvoll wäre, nur eine neue Fassade davorzuhängen.

Der Um- bzw. Neubau des Museums war dann ja mit etlichen Überraschungen verbunden. Was würden Sie im Nachhinein sagen? War es mehr Glück oder Stress?

Es war einfach eine tolle Chance. Die Unbeliebtheit der Architektur schuf die Bereitschaft in der Politik und der Stadtgesellschaft, einen Neubau zu planen. Die Untersuchung der Sanierungskosten hat gezeigt, dass ein Neubau nur wenig teurer als der Umbau wäre. Damals ging es um eine Differenz von 4 Mio. Euro. Aber die Decken des Betonbaus waren zu niedrig, das hätte man durch einen Umbau nicht verändern können. Deshalb wurde der Beschluss gefasst, ihn abzureißen und neu zu bauen. Für die historischen Bauteile am Mainufer („Saalhof“) galt das natürlich nicht. Sie waren schon 1954 für das Museum hergerichtet worden und mussten grundlegend saniert werden, so dass es eigentlich um zwei Bau-Projekte ging.

Der Spaten im Büro des Direktors erinnert an die Zeit des Umbaus, Foto: Petra Kammann

Und gerade waren die Altbauten saniert, da tauchte 2012 ein spektakulärer archäologischer Fund ganz dicht vor dem barocken Bernuspalais auf, eine staufische Kaianlage, der sogenannte „Stauferhafen“, der in das Museum integriert werden sollte. Da war erst einmal ein Baustopp angesagt.

Die Archäologen wussten, dass in der Tiefe noch etwas vorhanden war. Man konnte vorher aus Sicherheitsgründen nicht so tief graben.

Sie mussten also eine Verzögerung in Kauf nehmen und eine Strategie fahren, die sich später im Gebäude widerspiegeln sollte?

Der Fluss, der Hafen und die Furt, all das kommt hier zusammen. Als Mediävist (Mittelalterforscher) interessierte ich mich besonders dafür, dass der Saalhof als ältestes aufrecht stehendes Gebäude der Stadt Ausgangspunkt der beiden großen Stadtmauern des Mittelalters war. Sogar die karolingisch-ottonische Pfalzmauer berührt dieses Gebäude. Ein zentraler Ort also, an dem die mittelalterlichen Strukturen gebildet wurden, die bis heute die Geschichte der Stadt bestimmen. Deshalb wollten wir die Altbauten hervorheben und denkmalgerecht bearbeiten, weil man ganz viel daran zeigen kann, wie sich die mittelalterliche Geschichte bis in die Gegenwart zieht.

Von hier aus kann man die Geschichte von Alt- und Neustadt erklären. Deswegen haben wir dann im Stauferbau erst einmal eine Ausstellung über die Stauferzeit (11. bis 13. Jahrhundert) gemacht. In dieser Zeit wurden überall im nordalpinen Europa Städte gegründet– und Frankfurt wurde zum Pfalz- und Krönungsort der Könige, zum Handelszentrum und zur Messestadt. Und im 500 Jahre alten Rententurm geben wir Einblicke in das Leben und den Handel am Main.

Der „Stauferhafen“ bildet eine Art Scharnier zwischen dem historischem und dem zeitgenössischen Teil des Museums, Foto: Petra Kammann

Wird dieser historisch so bedeutsame Teil des Historischen Museums heute eigentlich auch von den Besuchern so angenommen? Oder ist für die heutigen Besucher eher der zeitgenössische Teil mit den Wechselausstellungen attraktiv?

Die Ausstellungen in den historischen Bauten werden auch heute gut besucht. Aber natürlich steht seit 2017 der Neubau stärker im Vordergrund, dort sind die großen Ausstellungen, es gibt hier die gesamte Stadtgeschichte im Überblick zu sehen.

Auch der Mediävist, Numismatiker und Stellvertreter Dr. Frank Berger ging kürzlich in Ruhestand, Foto: Petra Kammann 

Wie wichtig ist es daher, mit einem Mediävisten in Ihrem Team zu arbeiten? Bislang konnten Sie selbst ja dieses Thema ja bearbeiten.  

Ja, diese Themen habe ich selbst vor allem bearbeitet. Aber auch Frank Berger, ein Kurator, der v.a. die geldgeschichtlichen Sammlungen betreut hat, war Mediävist. Er ist vor kurzem in Ruhestand gegangen. Diese Kompetenz wird im Team sicher wieder aufgebaut. Eine Entscheidung über meine Nachfolge ist ja im Mai gefällt worden. Vor Januar wird diese Person jedoch nicht anfangen können. Bis dahin gibt es eine kommissarische Leitung aus dem Team.

Was waren rückblickend Ihre wichtigsten bzw. Ihre erfolgreichsten Ausstellungen, die Sie in der Zeit gemacht haben?

Dafür gibt es ja unterschiedliche Kriterien. Und wir sind nicht gezwungen, Blockbuster zu machen. Wichtig für das Museum waren sicherlich „Die Kaisermacher“, eine  Ausstellung zur Geschichte der Kaiserkrönungen in Frankfurt zur Erinnerung an das 650-Jahr-Jubiläum der Goldenen Bulle und den 200. Jahrestag der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches im Jahre 2006. Das war eine gelungene Kooperation mit drei anderen Museen: mit dem Jüdischen Museum, dem Dom Museum und dem Institut für Stadtgeschichte, die ich koordiniert habe. Das war für mich ganz wichtig, um in der Stadt anzukommen. Den Kooperationsmodus haben wir übrigens 2008 dann mit der Ausstellung über „Die 68er: Kurzer Sommer – lange Wirkung“ wiederholt.

Barbara Klemm hat mit ihren atmosphärischen Fotos in der HMF-Ausstellung u.a. die Stimmung der 68er festgehalten, Foto: Petra Kammann

War das für Sie als Nicht-Frankfurter und Nicht-68er nicht unbehaglich?

Mir war schon klar, dass das schillernde Bild der Revolte und ihrer Folgen ein Minenfeld ist, weil viele von ihren Vertretern hier noch leben und ihre dezidierte Meinung dazu haben. Aber das hat mich nicht abgeschreckt. Wir hatten dazu auch zwei Kuratoren gewonnen, die nicht aus Frankfurt stammen und erst nach 1968 geboren wurden. So konnten wir dem Projekt eine andere Richtung geben, was sich auch im Titel der Ausstellung spiegelt. Es ging uns darum zu zeigen, wie diese Phase mit dem Heute zusammenhängt. 2008 lag 1968 ja 40 Jahre zurück. Das fand ich interessant. Das Thema hatte damals niemand sonst aufgegriffen, lediglich in Berlin gab es eine Fotoausstellung, ansonsten weit und breit nichts zum Thema. Insofern war es für mein Dafürhalten der richtige Moment, eine solche Ausstellung zu machen. Es ist der Vorteil eines solchen Museums, dass man auch Themen spielen kann, die vielleicht noch nicht so im Bewusstsein sind und von der Medienresonanz getragen werden. Immerhin kamen damals 30 000 Besuchende.

Kooperationen gab es zum Beispiel mit dem Jüdischen Museum, Foto: Petra Kammann

Also haben Sie dabei auf Kooperation gesetzt?

Ja, das kann man auch gut in Frankfurt. Das ist ein besonderer Vorteil der Kulturszene hier. Es haben sich immer wieder Kooperationen mit anderen Museen wie mit dem Museum Angewandte Kunst, dem Jüdischen Museum, Dommuseum, dem Weltkulturenmuseum, dem Architekturmuseum (DAM) oder dem Filmmuseum ergeben. Nur mit dem Museum Moderne Kunst (MMK) hatten wir bislang keine, weil sich das thematisch weniger anbietet.

Gab es noch andere bedeutende Ausstellungen?

Ja, zum Beispiel die Ausstellung „Peter Struwwel – Heinrich Hoffmann“, die aus Anlass des 200. Geburtstags des Frankfurter Arztes und Psychiaters Heinrich Hoffmann im Jahre 2009 stattfand. Da habe ich vor allen Dingen dann koordiniert. Es war sehr viel Arbeit, aber für mich sehr wichtig, um ganz konkret mit Leuten zusammenzuarbeiten und zu erleben, wie eine Stadt so funktioniert. Solch aufwändige Kooperationen konnte ich dann allerdings später nicht mehr leisten, als ich mich um den Neubau kümmern musste. Da stand einfach zu viel andere Arbeit an.

Und schließlich war für mich die Ausstellung „Leopold Sonnemann – Jude – Verleger – Politiker – Mäzen“ 2010 sehr wichtig. Da habe ich die Stadt des 19. Jahrhunderts anders und neu verstanden. Sonnemann war vor allem ein Netzwerker, er hat den Städel Museumsverein gegründet, war im Verein für das Historische Museum aktiv, hat eine Aktiengesellschaft für den Bau des Eisernen Steg gegründet, ebenso den Frankfurter Hof gebaut, war am Palmengarten und am Zoo-Gesellschaftshaus beteiligt, organisierte die Weltausstellung für Elektrotechnik 1891 in Frankfurt und legte damit den Grundstein für das Bahnhofsviertel undundund…

Der Elch, Symbol des „Caricatura“ und der „Neuen Frankfurter Schule, Foto: Petra Kammann

Nun ja, es war in Ihrer Ära nicht alles eitel Sonnenschein. Mit dem Caricatura Museum gab es durchaus auch Konflikte. Wie sehen Sie das aus heutiger Perspektive?

Achim Frenz war schon da, als ein Kurator am HMF, als ich 2005 kam. Dass er am liebsten „die Weltherrschaft“ wollte, wie er das oft mit einem Augenzwinkern sagte, habe ich vielleicht nicht ernst genug genommen.

War das eine Befreiung für Sie oder hat es Sie geärgert, als er vom Historischen Museum abgekoppelt wurde? 

Die Trennung vom HMF ist auch eine gute Lösung, sie hat der Caricatura nicht geschadet, und das ist ja die Hauptsache. Nur die Medienkampagne mit den rufschädigenden Anschuldigungen hat mich geärgert, es war unfair. In so einer Situation ist es dann auch unangenehm und wenig sinnvoll, noch weiter miteinander zu arbeiten. Der Umbau des Leinwandhauses für die Caricatura war mein erstes realisiertes Bauprojekt hier (2007-2008) – darauf bin ich immer noch ein wenig stolz, es ist gelungen und funktioniert gut. 

Gerchow präsentiert die Metzler-Ausstellung in der Jahrespressekonferenz 2024, Foto: Petra Kammann

Frankfurt ist aber auch ein international anerkannter Finanzplatz. Welche Rolle kommt den großen Frankfurter Familien, die häufig Bankiers waren, zu? Gerade läuft ja die Kabinettausstellung zum 350-jährigen Jubiläum des Bankhauses Metzler der Familie „Metzler 1674–2024. Bankiers in Frankfurt“. Und was ist mit den die Bethmanns?   

Natürlich haben wir von diesen Familien immer wieder auch Objekte bekommen, von den Bethmanns, von den Metzlers und den Haucks. Durch unsere NS-Ausstellung haben wir auch Familienstatements der Bethmanns zum Beispiel. Und solche von den Frankfurter Gesellschaften wie der Frankfurter Casino-Gesellschaft, von den Rotary-Clubs, der Frankfurter Gesellschaft für Handel und Industrie etc. Aber eigentlich liegt unser Fokus nicht auf dem Frankfurter Wirtschaftsbürgertum.

„Nachgefragt“ hieß es in der HMF-Ausstellung „Frankfurt und der NS“, Foto: Petra Kammann

Einer ihrer Schwerpunkte betrifft auch die Fotografie. Man denke nur an die zuletzt sehr erfolgreiche Barbara Klemm-Ausstellung mit über 50. 000 Besuchern? Die konnten Sie selbst kuratieren. Und die renommierte Frankfurter Fotografin hat Ihnen zum Abschluss sogar noch ein kleines Konvolut hinterlassen.

Ja, alle Bilder der Ausstellung und dann noch zehn Weitere. Das war in der Tat eine wunderbare Zusammenarbeit, ganz unmittelbar. Da hatte ich es nur mit einer Person zu tun, mit der ich mich absprechen konnte, und nicht mit 40 internationalen Leihgebern.

Haben Sie dadurch einen anderen Bezug zur Fotografie bekommen? Dieses Medium ist doch etwas anderes als ein Möbelstück oder ein wertvolles Objekt. Gibt es auratische Momente für den Historiker oder auratische Objekte? Was bedeutet Aura für sie?

Der Begriff stammt von Walter Benjamin, der auch Museumstheoretiker war. Die Aura hängt nicht daran, dass etwas wertvoll ist, sondern, dass etwas aus einer anderen Welt in die Gegenwart hineinragt und Fragen provoziert. Es steht für etwas, das vergangen oder „anders“ ist.

Eine unmittelbare und fruchtbare Zusammenarbeit verbindet Gerchow mit der Frankfurter Fotografin Barbara Klemm, Foto: Petra Kammann

Dennoch: Ist ein reproduzierbares Foto nicht doch etwas anderes als ein Objekt? Manche Fotos existieren ja nur als Film, als Kontaktabzug oder aber auf einem aufwendig gemachten qualitätsvollen Abzug.

Wir sammeln die historische Fotografie in ihrer originalen Materialität und nicht als Bildmotiv. Wir haben etwa 400. 000 Fotografien, aber etwa nur 1.000 davon befinden sich bislang in unserer Online-Sammlungsdatenbank.

Liegt denn wirklich schon in den Negativen etwas Auratisches?

Manchmal ist es auch die Bildoberfläche, die Materialität, die etwas erzählt. Darauf konzentrieren wir uns seit den 1990er Jahren. Anderen Institutionen wie dem Stadtarchiv kommt es mehr auf die Bildmotive, das Dokumentarische der Fotografie, an.

Wie viele Objekte verwalten Sie insgesamt im Museum und was davon ist digitalisiert?

630.000 Objekte, wobei die auch Konvolute umfassen. Online publiziert sind so um die 40. 000. In den Museen wurde nicht so früh mit der Digitalisierung begonnen wie in den Bibliotheken. Die haben es auch leichter, weil sie meist nur Schriftgut haben mit normierten Titeln, bei Büchern kommt allenfalls noch das Cover dazu. Damit sind bei uns nur die Münzen vergleichbar, die ebenfalls wie Bücher katalogisiert werden können.

Kurt Wettengel organisierte die Ausstellung über Erinnerung und zeitgenössische Kunst vom Historischen Museum in der Schirn, Foto: Petra Kammann

Welche anderen Ausstellungen lagen Ihnen noch besonders am Herzen?

Die Ausstellung „Vergessen. Warum wir nicht alles erinnern“ aus dem Jahre 2019/20. Die knüpfte an eine Ausstellung an, die 2000 in der Schirn vom Historischen Museum von Kurt Wettengel kuratiert wurde. Es ging darum, wie sich zeitgenössische Kunst mit Erinnerung und mit historischen Themen beschäftigt. Daraus ging die „Bibliothek der Alten“ hervor (heute Bibliothek der Generationen). In der Schau ging es um Prozesse des Vergessens und Erinnerns, im Gehirn, im Bewusstsein, in der Geschichtskultur. Und Frankfurt hat hier viel zu bieten: Holocaust-Forschung im Fritz Bauer-Institut, Psychoanalyse und Traumaforschung im Sigmund Freud-Institut, Hirnforschung an Max-Planck-Instituten. Für solche Themen hat Frankfurt eben eine große Bedeutung.

Hat sich das Erinnerungsvermögen Ihrer Meinung nach durch die Medien verringert?

Man muss sich die Dinge nicht mehr so merken, wie das früher der Fall war. Aber ich glaube nicht, dass das die Kapazität des Gehirns ernsthaft stark verändert.

Ist durch die Fülle des Gebotenen nicht die Auswahl schwieriger geworden?  

Dafür kann man ja auf die Geräte und deren Software zugreifen. Der Algorithmus schränkt die maschinelle Erinnerung allerdings ein. Interessant erscheint mir vor allem, wie das Verschwinden und Löschen im Internet besser organisiert werden kann.

Anlässlich des Kairos Preises, den Sie 2018 erhielten, sagten Sie einmal: „Die Stadt ist das Einzige, was alle Menschen, die dort leben, miteinander gemein haben: Nicht die Herkunft, die Religion oder irgendeine nationale Identität, sondern die Stadt ist das, was sie miteinander teilen. Darüber ins Gespräch zu kommen, die Stadt zu erkunden, in der aktuellen die historische Dimension zu erforschen – das heißt, Stadtmuseum zu machen.Erleben wir in dieser Hinsicht im Moment nicht eine Art Rückwärtsbewegung, die sich geradezu gegen das urbane städtische Bewusstsein stemmt? Die Identitären haben gerade großen Zulauf. Ausgelöst durch Krisen und Kriege frage ich mich schon, wie groß das Interesse heute an Demokratie ist? Sehen Sie daarin eine Bedrohung Europas?  

Mit dem Satz meinte ich, dass alle, die in der Stadt leben, diese gemeinsam benutzen und somit Alltagsexperten dieser Stadt sind. Eigentlich gibt es kein anderes Thema, über das sich alle unterhalten können.

Veranstaltung mit Jan Gerchow  im HMF anlässlich des 20 jährigen Jubiläums der Stolpersteinaktion, Foto: Petra Kammann

Wir haben ja auch erlebt, dass in einer Stadt viele Nationen und Religionen zusammenleben und nach dem Hamas-Angriff ein starker Antisemitismus einsetzt. Wie kann man dem begegnen?

Indem man sich mit den Frankfurter Jüdinnen und Juden solidarisiert und es auch zeigt.

Aber Sie haben doch auch einen Bildungsauftrag. Was geht mit den Mitteln des Museums?  

Wer ist Frankfurter und wer nicht? Wie gehe ich mit den Juden um? Das alles hat ja Vorgeschichten. Dazu kann man aus einer historisch fundierten Thematisierung beitragen. Man kann sich auch positionieren. Das haben wir als Museumsleiter zuletzt auch getan, als die jüdische Gemeinschaft wieder pauschal angegriffen wurde. In dem Rahmen können wir etwas tun. Aber ansonsten sind wir eher Beobachter, die versuchen zu verstehen, was in so einer Stadt vor sich geht.

Sie haben „Die Bibliothek der Generationen“ und ein „Junges Museum“ etabliert. Warum?

Zum einen setzen wir auf Partizipation, d.h.: die aktive Teilhabe an der Generierung von Inhalten. Das beruht auf der Annahme, dass alle, die hier leben und arbeiten, Experten für ihre Stadt sind. So laden wir sie dann auch ein mitzuwirken. Und dazu nochmal als Kommentar zu dem von Ihnen angesprochenen Thema: Wie geht man mit extremen Positionen um, die heute auch in Stadtgesellschaften entstehen? Indem wir immer wieder mit größeren Gruppen arbeiten und gearbeitet haben. Schon in der Vorbereitung unserer Stadtlabor-Projekte gibt es einen intensiven Austausch der Teilnehmenden, bevor die Ausstellung eröffnet wird. In diesem Diskussionsprozess moderieren sich die oft gegensätzlichen Positionen der teilnehmenden in der Diskussion miteinander: Hier kann das Museum wie ein demokratischer Ort funktionieren.

Projektion von Aktivitäten des „Jungen Museums“, das auch in der Stadt unterwegs ist, Foto: Petra Kammann 

Und beim Jungen Museum ist es vor allem die Interaktivität und das aktive Mitgestalten. Das Junge Museum ist übrigens schon seit 1972 da, als Kindermuseum. Wir haben es 2018 nur in Junges Museum umbenannt. Bei den jungen Besuchern ist es uns besonders wichtig, dass sie etwas benutzen und anfassen können, was man ja im Museum normalerweise nicht darf. Das hilft uns dabei, dass jeder Besucher – auch solche mit Einschränkungen– die Ausstellungen nutzen und verstehen können.

Dieses Junge Museum haben Sie übernommen, als Sie kamen?

Ja, das habe ich auch sehr geschätzt. Vorher stand es immer wieder mal zur Disposition, das haben wir beendet. Es wird jedes Jahr von 20.000 bis 40.000 jungen Besuchern benutzt, auch durch die Familienspuren und -touren in der Dauerausstellung ziehen wir viele Familien an.

Können sich die Besucher trotz der Themenvielfalt in Ihrem Museum  auch an einem Zeitstrahl orientieren, um die Entwicklung der Geschichte nachzuvollziehen? Wie funktioniert das für Besucher, sich  in dem engen aber langestreckten Bau zeitlich einen Überblick zu verschaffen?

Neben den Themen kann man sich auch am Zeitstrahl orientieren, Foto: Petra Kammann

Frankfurt auf 2000 Quadratmetern sollte man nicht an Jahreszahlen aufgereiht darstellen. Das ist ermüdend und vorhersehbar. Denn die Zäsuren von Stadtgeschichten in ganz Europa sind immer die gleichen. Wir wollen die Frankfurter Geschichte eben von den anderen Stadtgeschichten unterscheiden. Und das tun wir über Themen.

Trotzdem: Wie können sich die Besucher orientieren? 

Dazu haben wir 5 Themen mit eigenen Unterthemen, kleineren Häppchen, eingerichtet. Wir wollen Möglichkeiten schaffen, die Themen erst einmal zu verstehen, ohne dass man deswegen 2000 Quadratmeter durchlaufen muss. Wir haben auch zwei große Zeitleisten eingebaut, an denen man sich orientieren kann. Das entspricht der Funktion eines Stadtmuseums, das eben kein Nationalmuseum ist. Aber hier wollten wir deutlich machen, Frankfurt von anderen Städten unterscheidet.

Und wie geht es weiter mit dem Bolongaropalast, einem Nebenzweig des Historischen Museums in Höchst mit der Sammlung des Höchster Porzellans?

Das hat mich schon zwischen 2006 und 2009 beschäftigt, und ich habe die Arbeit daran 2018 wieder aufgenommen. Es geht darum, dass unser seit 1994 bestehendes Porzellanmuseum in den barocken Bolongaropalast umziehen und damit ganz neu und zeitgemäß  konzipiert werden soll. Mit erweiterten Themen und neuen Partnern wie dem Bolongaro Museumsverein sowie dem Höchster Geschichtsverein. Mit beiden planen wir ein Stadtmuseum für den Frankfurter Westen, das auch in den Bolongaro Palast einzieht. Aber wir sind nun mal nicht die Bauherren und konnten das Thema daher leider terminlich nicht voranbringen. Erst einmal muss die Sanierung des historischen Gebäudes fertig werden. Und das ging bisher leider nur sehr schleppend voran. Jetzt hoffen wir auf Herbst 2025. Die Pläne dazu liegen jedenfalls fertig ausgearbeitet in der Schublade.

Hätten Sie, wenn Sie zurückblicken, als Historiker lieber an der Universität geforscht und dort Karriere gemacht?  

Nein. Die ewigen Studienreformen sind eine echte Belastung für die Forschenden und Studierenden. Und ich wäre auch nicht der Richtige für so eine Lehrtätigkeit gewesen. Für mich war diese Arbeit hier am Museum genau das Richtige. Interessante Inhalte, die man selbst wählen und für ein großes Publikum bespielen kann. Man bekommt ganz schnell Rückmeldungen auf das, was man tut. Und man inszeniert die Themen in Räumen, als gebaute Ausstellungen.

Bezüge zur Altstadt: die Architektur von Arno Lederer, Foto: Petra Kammann

D.h. Sie haben den Neubau gerne betrieben, weil auch Ihr Interesse an der Architektur groß ist?

Schon mein Vater wäre lieber Architekt statt Lehrer geworden, meine Schwester ist Architektin. Ja, ich habe eine Leidenschaft für Architektur. Ausstellungen werden ja auch gebaut, sowohl innenarchitektonisch als auch inhaltlich und multimedial. Das macht mir wegen der vielen Facetten einfach Spaß.

Wie war die Zusammenarbeit mit dem kürzlich verstorbenen Architekten Arno Lederer? Wäre das im Wettbewerb auch Ihr Favorit gewesen?

Im Wettbewerb zunächst nicht. Wegen seiner zurückhaltenden, „wolkigen“ Präsentation hatte ich ihn zunächst gar nicht richtig auf dem Schirm. Aber Gottseidank hat die Jury ihn dann ausgewählt. Er hat die Altstadtthematik als Gesamtes aufgegriffen und den Bau sehr qualitätvoll bis ins Detail durchgestaltet. Allerdings war er der Meinung, das Museum innen müsste ein Ort der Stille und der Kontemplation sein. Aber wir sind ein kulturhistorisches Museum und kein Kunstmuseum, ein Ort der Interaktion und nicht (nur) der Kontemplation. Außerdem gibt es seit 50 Jahren Fachplaner für Szenografie (Ausstellungsgestaltung); solche haben wir dann auch beauftragt.

Spolie in einer Nische an der Außenwand, Foto: Petra Kammann

War es Lederers Idee, draußen in den Nischen an der Außenhaut des Museums, die Spolien anzubringen?

Nein, das war unsere Idee. Mit den leeren Nischen hätte das auch schiefgehen können. Das wirkte zunächst sehr monumental, hatte Anklänge an die Architektur der 1930er Jahre. Die Sandsteinfiguren haben wir alle aus dem Steindepot in der Borsigallee, das wir uns mit dem Archäologischen Museum teilen, hergeholt.

Blick in das Steinarchiv in der Borsigallee, Foto: Petra Kammann

Vermissen Sie schmerzlich etwas, das unter Ihrer Ägide nicht realisiert wurde, wie zum Beispiel ein nahes Depot?

Es war mein Plan, dass die Museumssammlungen, die ja 2008 und 2011 ausziehen mussten, wieder hier in unsere Nähe zurückkommen, aber das wäre am Main nicht möglich gewesen, weil man zu tief hätte graben müssen und die Hochwassergefahr zu groß ist. Deshalb habe ich dafür gekämpft, dass ein Zentraldepot gebaut wird, auch für die anderen Museen der Stadt. Am besten wie in Rotterdam als zentrales, vom Publikum partiell begehbares Gebäude. Nur das HMF hat 6 verschiedene Depots in Mietflächen, die pro Jahr über 1 Million an Miete verschlingen. Die müssen alle mit Alarmsicherung und klimatischen Maßnahmen ausgestattet werden, alle Jahre muss ein Depot geräumt und ein neues gefunden werden. Das ist pure Geld- und Zeitverschwendung, ganz zu schweigen vom Schaden für die Sammlungen.

Haben Sie, wenn Sie, ein Frankfurter auf Zeit, nach knapp 20 Jahren in den Ruhestand gehen, vielleicht sogar etwas wie eine Art Heimatgefühl hier in Frankfurt entwickeln können?

Auf jeden Fall. Ich lebe jetzt hier genauso lange wie in der Stadt, in der ich geboren bin. Ich habe in Berlin, in Freiburg, in Göttingen, in London, in Essen und in Frankfurt gelebt. Dagegen ist meine eigene Heimatstadt ziemlich verblasst. Meine Methode, mich zu beheimaten, ist die Geschichte einer Stadt. Die meisten Frankfurter sind so wie ich, nicht hier geboren. Und da fühle ich mich schonmal zuhause. In Frankfurt muss man nämlich nicht wie in Hamburg oder München behaupten, man wäre schon seit Generationen hier, was dann häufig gar nicht stimmt.

Es gibt hier einerseits eine leistungsorientierte Stadtgesellschaft, andererseits kann man sich aber auch einbringen. Und die Lebensqualität ist hier sehr hoch. Was mir vielleicht ein wenig fehlt, sind schöne Flüsse oder Seen, in denen man schwimmen kann wie zum Beispiel in der Schweiz. Vielleicht gibt es doch irgendwann einmal wieder Badeanstalten im Main. Die Aare in Bern hingegen ist für mich perfekt zum Schwimmen. Die reißt einen einfach mit. Und da ich durch meine Schweizer Frau auch einen Schweizer Pass besitze, zieht es mich ein wenig in die Schweiz, zumal unser älterer Sohn mit Schwiegertochter und Enkelinnen dort leben. Aber wir haben uns entschlossen, erstmal hier in Frankfurt bleiben.

Schön, dass Sie uns in Frankfurt erhalten bleiben. Ich danke Ihnen für das Gespräch und wünsche Ihnen alles erdenklich Gute für den wohlverdienten Ruhestand.

Infos über Jan Gerchow

Gerchows thematische Orientierung zwischen den Jahren, Foto: Petra Kammann

1958 in Braunschweig geboren, studierte von 1978 bis 1984 in Freiburg und Durham (Großbritannien) Geschichte, Germanistik und Philosophie. An der Universität Freiburg promovierte er 1984 zur frühmittelalterlichen Geschichte Englands. Über Stationen am Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen und am Ruhrlandmuseum in Essen kam er 2005 als Direktor ans Historische Museum Frankfurt am Main.

Dort ist er nicht nur für die üblichen Angebote und Funktionen eines großen Stadtmuseums verantwortlich – auch die Sanierung und der Neubau der Museumsgebäude sowie die Neukonzeption der Ausstellungen tragen seine Handschrift. Die aufwendig sanierten Altbauten – der „Saalhof“ – wurden 2012 eröffnet, die großen Neubauten im Oktober 2017. Eines der Exponate ist eine überdimensionierte Schneekugel mit künstlerisch gestalteten Modellen zum Thema “Typisch Frankfurt“, die Antworten auf die Frage gibt, wie Frankfurt zu dem wurde, was es ist und worin sich die Stadt von anderen unterscheidet.

 

Katalogcover der aktuell laufenden Fotografinnen-Ausstellung, die noch bis zum 22. September 2024 geht

Weitere Infos unter:

https://www.historisches-museum-frankfurt.de/

 

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