„Vergnügen und Verlust“, „Begegnungen“ und … Shakespeare bei den Ruhrfestspielen
Angela Winkler liest und das delian::quartett spielt dazu
Von Simone Hamm
Hinreißend. Es war ein ungewöhnlicher, ein außergewöhnlicher Abend bei der Ruhrestspielen. Angela Winkler rezitiert Shakespeare und das delian::quartett spielt dazu die großen Streichquartette von Dmitri Schostakowitsch (Nr. 8) und Felix Mendelssohn Bartholdy (Nr.6). Die Musiker untermalen die Lesung nicht einfach nur. Bei der gemeinsamen Arbeit sind sie und die Rezitatorin vielmehr von der Musik ausgegangen. Nicht zuletzt deshalb fügten sich Musik und Text organisch zusammen. „Begegnungen“ heißt der Abend dann auch.
Angela Winkler rezitiert musikalisch und mitreißend, Foto: Joachim Gern / Ruhrfestspiele
Die Texte vor der Pause waren dunkler, dramatischer als die nach der Pause. Da wurde Winkler heiterer. Die Musiker des delian::quartett: Adrian Pinzaru (Violine), Andreas Moscho (Violine), Lara Albesano (Viola), Hendrik Blumenroth (Violoncello) nahmen das gekonnt auf.
Live Musik mit dem dehlian::quartett, Foto: Mathias Bothor / Ruhrfestspiele
Angela Winkler hatte 1999 in Peter Zadeks legendärer „Hamlet“ Inszenierung den Hamlet gespielt und trug auch dessen großen Monolog „Sein oder Nichtsein“ vor – mit leiser, fester Stimme. Es war mucksmäuschenstill im Theatersaal: Der Zauber von Musik und Wort übertrug sich aufs Publikum. Angela Winkler las von Wahrheit und Wahn, Traum und Sehnsucht, Schönheit und Vergänglichkeit. Und riss alle mit.
Der glitzernde König tritt ab
Wolfram Koch ist König Lear in Jan Bosses Inszenierung vom Thalia Theater
Die Musiker spielen schon, als das Publikum Platz nimmt. (Livemusik: Johannes Landerschier, Leo Schiedthals, Tilo Werner). König Lear stolpert herein in einem schwarzen glitzernden Abendkleid, als ginge er auf einen Ball. Über ihm schwebt Eine überdimensionale Discohalbkugel (Bühne: Stephanie Laimé).
Lear zitiert seine Töchter herbei, denen er sein Reich vererben will – den Titel und die Krone aber will er behalten. Die Macht so ganz aufgeben – das kann er nicht. Er erwartet von seinen Töchtern im Gegenzug uneingeschränkte Liebe, die Goneril (Anna Blomeier) und Regan (Toini Ruhnke) heuchelnd versprechen. Seine Lieblingstochter Cordelia (Pauline Rénevier) hingegen bleibt bei der Wahrheit, sie liebe und ehre ihren Vater, nicht weniger, nicht mehr. Der König verstößt sie.
Komödiantische Elemente im King Lear, Foto:Armin Smailovic / Ruhrfestspiele
Jan Bosse (und auch Miru Miroslava Svolikovas Neuübersetzung) setzen auf das Komödiantische im Lear. Da strahlt die Diskokugel über der Bühne, da singt der in kanarierengelb gekleidete Narr (Christiane von Poelnitz) als gäbe es kein Morgen mehr. Doch das Grauen ist immer präsent. Die beiden Schwestern, die das Reich geerbt haben, sind Lear schnell überdrüssig geworden, keine will ihn bei sich am Hof haben. Sie treiben Lear in den Wahnsinn. und er wird alle und alles mit sich in den Abgrund reißen.
Goneril und Regan verlieben sich beide in Edmund (Johannes Hegemann), den intriganten illegitimen Sohn des Grafen Gloucester. Dessen Vater lassen sie die Augen ausstechen, über Edmund entzweien sie sich, die eine tötet die andere, dann sich selbst.
Cornelia flieht nach Frankreich, kehrt zurück, stirbt. Dann steht der inzwischen vollkommen irrsinnig gewordene Lear allein auf der Bühne. Die Jungen sind tot, der Alte gescheitert. Dennoch gibt es den Generationenwechsel, die tote Cordelia tritt noch einmal auf will eine neue Zukunft pflanzen. Die Personen sind allesamt zu holzschnittartig, als dass sie überzeugen können.
Dabei ist Wolfgang Koch doch brilliant! Er ist ein ironischer, machtgieriger, störrischer Lear. Er tobt und schreit und flucht und weint. Ganz langsam entkleidet er sich. Am Ende steht er in dunklen Shorts auf der Bühne. Dessen hätte es gar nicht bedurft. Wolfram Koch hat Lears unaufhaltsamen Abstieg ohnehin überzeugend gezeigt. Allein um ihn zu sehen, hat sich der Abend gelohnt.
Wolfgang Koch als Lear: ironisch, machtgierig und störrisch, Foto: Armin Smailovic, Ruhrfestspiele
Es gibt grandiose Bilder zu sehen, die überdimensionale Discohalbkugel, die Iglu und Höhle, deren Innenraum Lears Kerker wird. Silberner Stoff, glänzend, prunkvoll, der – plötzlich heruntergefallen – karge, schwarze Wände freigibt. Dutzende von Glühbirnen, die sich niedersenken. Unzählige Augen, die über die Bühne rollen.
Jan Bosse hat in Köln einen fulminanten, sehr unterhaltsamen, lustigen „Sommernachtstraum“ inszeniert. Dieser „Sommernachtstraum“ ist stimmig. Den Lear so zu überzeichnen, ist mutig, aber nicht überzeugend. Unter dem Motto „Vergnügen und Verlust“ haben die Ruhrfestspiele in den letzten sechs Wochen zu den unterschiedlichsten Vorstellungen eingeladen. Von 2018 an, als er die Intendanz der Ruhfestspiele übernahm, wollte Olaf Kröck ein Spannungsverhältnis von „Poesie und Politik“ schaffen.
Zirkus, Tanz, Kinder- und Jugendtheater, Ausstellungen, Lesungen. Experimentelles, Klassisches, Politisches aus aller Welt ist gezeigt worden. Zum ersten Mal wurden die Festspielwochen von einer Zirkuskompanie eröffnet, zum dritten Mal war ein Nobelpreisträger zu hören, Abdulrazak Gurnah. Schauspielstars wie Lars Eidinger, Charlie Hübner, Stefanie Reinsperger und Wolfram Koch sind gekommen. Der künstlerische Leiter des Festival d’Avignon, der portugiesische Regisseur Tiago Rodrigues, zeigte – zum erstmal in Deutschland, seine Inszenierung „As Far As Impossible“, ein Stück über die humanitären Helfer in Krisengebieten. Überwältigend.
Großmütter tanzten, die Polizei sprach, Fußball kam als multimediale Lesung. Die Ruhrfestspiele sind auch eine Erfolgsgeschichte. Weil sie so viele verschiedene Zuschauer ansprechen, sind die Veranstaltungen meist ausverkauft. Das weckt große Erwartungen und Vorfreude fürs kommende Jahr.