Wolfgang Bunzel: Ein Brückenbauer der Romantik, der unbekannte Schätze hebt und interessante Ort reanimiert
Mittler konkreter Kulturgeschichte in einem Kosmos voller Bezüge
Ein Besuch bei Prof. Wolfgang Bunzel
Von Petra Kammann
Unmöglich, sein reichhaltiges Forscher- und Vermittlertum auf eine Kurzformel zu bringen. Wolfgang Bunzels Feld ist so weit gefächert wie fokussiert. Der Leiter der Dauerausstellung im Deutschen Romantik-Museum Prof. Dr. Wolfgang Bunzel koordiniert seit 2007 verantwortlich die umfangreiche historisch-kritische Ausgabe sämtlicher Werke und Briefe von Clemens Brentano, und er ist Mitherausgeber des Internationalen Jahrbuchs der Bettina-von-Arnim-Gesellschaft. Zudem lehrt er an der Goethe-Universität Frankfurt a. M. als Professor für Neuere deutsche Literatur. Natürlich ist Bunzel auch beteiligt an der aktuellen Ausstellung „Wälder“, die derzeit in drei Museen läuft, im Deutschen Romantik-Museum, im Museum Sinclair-Haus in Bad Homburg und im Senckenberg Naturmuseum Frankfurt. 2014 wurde der Autor zahlreicher Publikationen zum Thema Romantik zudem einer der beiden Geschäftsführer der Trägergesellschaft Brentano-Haus Oestrich-Winkel gGmbH. Und an der Brentano-Akademie in Aschaffenburg ist er im Kuratorium für den literarischen Bereich zuständig. Wie bringt man das alles unter einen Hut, wie sich ihm nähern?
Prof. Dr. Wolfgang Bunzel in seinem Büro im Freien Deutschen Hochstift, Foto: Petra Kammann
Kein Wunder. Verschlungen sind die Wege innerhalb des Gebäudes im legendären Frankfurter Großen Hirschgraben, wo sich das Goethe-Geburtshaus und der Sitz des Freien Deutschen Hochstifts befindet. Da hockt, arbeitet und forscht hoch oben unter dem Dach Prof. Dr. Wolfgang Bunzel immer mit Blick auf das Goethe-Gärtchen und zur Linken auf die Rückseite der dreigeteilten Fassade des Deutschen Romantik-Museums, das sich nahtlos, nur von einer Brandmauer getrennt, an das Goethe-Haus schmiegt. Die miteinander verbundenen Organisationseinheiten im Großen Hirschgraben sind unter dem Dach des Freien Deutschen Hochstifts verzahnt, wozu auch noch die Kunstsammlungen, eine Handschriftensammlung sowie eine Forschungsbibliothek zählen. Das alles ist ihm somit ständig vor Augen. Dabei bilden den Schwerpunkt seiner derzeitigen Forschungsarbeit drei historisch-kritische Editionen zu Clemens Brentano, Hugo von Hofmannsthal und zu Johann Wolfgang Goethes ‚Faust‘.
Die Plakate im Büro im Großen Hirschgraben deuten an, dass Bettine von Arnim und Clemens Brentano im Fokus stehen, Foto: Petra Kammann
Auf den ersten Blick in dem nicht gerade übermäßig großen Büro spürt man: hier wird gearbeitet, ständig umgewälzt und neu und medial gedacht, die bedeutende Literatur der Epoche und die damit verbundene Kulturgeschichte immer im Hinterkopf. An den Wänden hängen Plakate wichtiger vergangener Ausstellungen wie die erfolgreiche Schau über Bettine von Arnim „Bettine von Arnim. Die Welt umwälzen“ aus dem Jahre 2009. Keck schaut auf dem populär-rotem Hintergrund mit markanten Lettern gestalteten Plakat die junge unkonventionelle Bettine im Profil wie ein „Hans-Guck-in-die-Luft“ sehnsüchtig in die Ferne. In den Regalen lagern Gesamtausgaben von Klassikern und Romantikern, die ständig in Benutzung sind. Wo noch ein Eckchen Platz ist, ist Bunzel von unzähligen Briefen, Aktenordnern und Verpackungsmaterial umgeben. Auch viele praktische Dinge bestimmen seinen Alltag. Dafür ist alles in handlicher Reichweite.
Bildliche Anspielung auf Clemens Brentanos Lore Lay, Foto: Petra Kammann
Unübersehbar trifft man schon an den Wänden auf die verschiedensten Brentano-Verweise. Die Vertreter jener im 18. Jahrhundert weltoffenen und kunstsinnigen italienischen Einwandererfamilie Brentano aus dem Tessin siedelten sich in Frankfurt an, um dort mit Südfrüchten, Gewürzen und Spezereien zu handeln und den Grundstein für ein mächtiges Handelsimperium zu legen. Von Frankfurt aus unterhielten die Brentanos aber nicht nur Handelsbeziehungen. Sie übten auch prägende Einflüsse auf das kulturelle und wissenschaftliche Leben im gesamten Rhein-Main-Gebiet aus. Ihre Spuren kann man in vielen Facetten und an verschiedenen Orten und über die Romantik hinaus verfolgen: in Frankfurt selbst, in Oestrich-Winkel am Rhein, in Aschaffenburg und in Koblenz.
Blick aus dem Fenster in Goethes Garten und linkerhand auf die rückwärtige Fassade des Romantik-Museums
Warum beschäftigte sich Bunzel so intensiv mit den Brentanos, hatte er doch ursprünglich über Goethe promoviert? Für einen hoch motivierten Forscher, wie er es ist, liegt die Herausforderung auf der Hand. Man müsse nur die „Wissensinseln“ miteinander verknüpfen, da es eh unmöglich sei, einen Gesamtüberblick zu bekommen. Nun, da Bunzel, der, als er 2007 ins Haus kam, schon editorische Erfahrung mitbrachte, waren seine bisherigen Forschungen eine wunderbare Grundlage, nicht nur, weil die Familien Goethe und Brentano enge Kontakte pflegten…
Bunzels Kaffee Verschnaufpause mit Gespräch im Innenhof des Gebäudeensembles, Foto: Petra Kammann
Bunzel scheute die Erweiterung seiner bisherigen Wissensgebiete nicht, wenn er rückblickend nüchtern feststellt: „Die historisch-kritische Ausgabe war immerhin zunächst auch schlicht der Kern der Stellenbeschreibung, als ich im Freien Deutschen Hochstift anfing. Damals hieß die Abteilung sogar noch Brentano-Abteilung.“ Auch hatte er in seiner Beschäftigung mit Goethe im Rahmen seiner Dissertation schon gewisse „romantische“ Aspekte vorweggenommen.
Da galt sein Interesse vor allem Goethes Veröffentlichungen in Almanachen und Taschenbüchern unter öffentlichkeitsstrategischen und pressegeschichtlichen Aspekten, Vorläufer der ,Illustrierten‘ mit ihren Fortsetzungsgeschichten. Wissensinseln statt Gesamtüberblick eben. Und „das Lesen wurde damals portabel„, sagt er fröhlich, und „es veränderte auch das Schreiben“, das Bewusstsein offensichtlich auch. Diese Transformation in Umbruchzeiten macht Gunzel sichtlich Spaß, trägt sie doch zur Entstaubung des „Allerheiligsten“ und zu neuen Erkenntnissen bei: weg vom Primat der Ästhetik und den Prämissen der idealistisch-klassischen Philosophie hin zu sehr viel konkreteren Formen und auch zu Konzepten politischer Dichtung.
Neben Frankfurt als „Hotspot“ spielte aber nicht nur für Goethe und die Romantiker auch die unmittelbare Umgebung im Rhein-Main-Gebiet eine wichtige Rolle, nicht zuletzt für Bunzel selbst, der immer auf zu neuen Ufern ist. Frankfurt ist in dem Sinne ja eigentlich auch nicht ein Zentrum der Romantik. „Aber“, holt er aus: „es gab Subzentren, die wenig im Bewusstsein sind, und wir wollten die Vielzahl der Zentren anschauen und bei der Überprüfung hat sich dann herausgestellt, dass Frankfurt zwar nicht ein Zentrum, sondern einen Schnittpunkt bildet. Und das über einen langen Zeitraum. Nicht nur, weil einige Leute hier geboren oder gestorben sind wie z.B. Dorothea Schlegel. Die Kreuzungspunkte laufen über einige dieser Transmissionsgestalten.“ Clemens Brentano bemühte sich darum, Ludwig Tieck als Direktor oder Dramaturg ans Frankfurter Theater zu bekommen. Der Sohn von Dorothea Veit-Schlegel wurde Städeldirektor und hatte damit hier eine Stellung inne, wo er ab den 1830er Jahren einen Schwerpunkt setzen konnte“.
Zugang zu Clemens Brentano im Deutsche Romantik-Museum, Foto: Petra Kammann
Für die damaligen romantischen Freidenker waren der Rhein und die umliegende Weinbauregion ausgesprochen inspirierend. Mit der fünf Jahre älteren Karoline von Günderode verband die spätere Bettine von Arnim eine kurze, intensive Freundschaft. Diese Faszination blieb im übrigen auch bei Schriftstellern des 20. Jahrhundert wie für die einstige DDR-Schriftstellerin Christa Wolf. Man denke nur an ihre Erzählung „Kein Ort, nirgends“, in der sie heutigen Lesern das Schicksal der unglücklichen Schriftstellerin Karoline von Günderode psychologisch näherbrachte und ihr ein literarisches Denkmal setzte. Noch heute kann man in Winkel am Rhein ihre letzte Ruhestätte, die sie nach ihrem Freitod auf dem dortigen Friedhof fand, ganz in der Nähe des Brentano-Hauses besuchen, wo Bettine und Clemens von Brentano, Achim von Arnim und Johann Wolfgang von Goethe einander trafen und miteinander debattierten. Da taten sich natürlich auch für Gunzel neue Orte auf, die es wieder zu beleben galt, wie eben das Brentano-Haus in Oestrich-Winkel, das seit 2014 Eigentum des Landes Hessen wurde.
Blick auf das Günderrode-Schicksal im Deutsche Romantik-Museum, Foto: Petra Kammann
Von den „Staatlichen Schlössern und Gärten Hessen“ wurde es grundlegend renoviert. Die wiederum brauchten eine Trägergesellschaft für den Betrieb, der nun zur Hälfte aus der Stadt Oestrich und zur anderen Hälfte aus dem Freien Deutschen Hochstift, das seit 90 Jahren daran einen Anteil hat, betrieben werden sollte, um dieses Haus zu erhalten. So wurde Bunzel für das Brentano-Haus zuständig und Geschäftsführer der Trägergesellschaft Brentano-Haus Winkel gGmbH. Nun plant er dort in den Räumen des Hauses, die neben den historischen sanierten Räumlichkeiten hinzukommen sind, in denen die früheren Besitzer Angela und Udo Brentano zuletzt im Hause gelebt hatten, und die durch den Verkauf freigeworden sind, eine neue Dauerausstellung. Zwangsläufig seien da keine historischen Preziosen zu erwarten wie in den ,Schauräumen‘, aber eben bespielbare historisch-authentische Räume. Insofern möchte das Romantik-Museum – das ist sein Wunsch – neue Akzente setzen, die über das hinausgehen, was man in der Regel bei den traditionellen Führungen mitbekommt.
Im Frühjahr 2015 begannen die Sanierungsarbeiten am Brentano-Haus in Oestrich-Winkel, Foto: Petra Kammann
Kreative Treffen in Winkel am Rhein
Bunzel hatte schon früh einen Schwerpunkt auf Bettine von Arnim, geb. Brentano (1785-1859), auf ihren vielseitigen Bruder Clemens Brentano (1778-1842) und auf Bettines Ehemann, dem „Wunderhorn“-Sammler und Dichter Achim Achim von Arnim (1781-1831) gelegt und nahm beherzt das jeweilige Umfeld dieser Dichter in den Blick. Und dann wurden natürlich die Pläne über die Erweiterung des Goethehauses zu einem Romantikmuseum für ihn nicht nur eine große Freude, sondern es erschien auch objektiv ganz organisch, schon bald nach seinem Antritt die „Brentano-Abteilung“ in „Romantik-Forschung“ umzubennen. Auf der Basis seiner Recherchen konnten wichtige Grundlagen für das erste Deutsche Romantik-Museum geschaffen werden, in dem die Fäden dieser Bewegung zusammenlaufen und geschickt verknüpft werden. Bunzel wurde im Hause der Hauptansprechpartner, wobei er Wert darauf legt zu erwähnen, dass an dieser Transformation die Kollegen mitgerungen und -gewirkt haben. und gemeinsam Konzepte entwickelt wurden.
Prof. Dr. Anne Bohnenkamp-Renken, Direktorin des Freien Deutschen Hochstifts seit 2003, betrieb den Bau des Deutschen Romantik-Museums, Foto; Petra Kammann
Bunzel hatte bereits 2009 anlässlich des 150. Todestages von Bettine, damals noch unter dem Dach des Freien Deutschen Hochstifts, eine Ausstellung über die unkonventionelle romantische Schriftstellerin Bettine von Arnim betreut. Im Mittelpunkt dieser erfolgreichen Ausstellung und begleitender Veranstaltungen standen sowohl Bettines Wirken als Schriftstellerin wie auch als bildende Künstlerin und Komponistin, die sich darüber hinaus mit Theologie, Philosophie, Pädagogik und Medizin beschäftigte und die außerdem den Anspruch hatte, politisch zu wirken, sich für politisch Verfolgte für die Armen einzusetzen. In „Dieses Buch gehört dem König“ entwickelt die 67-Jährige ihre Idee des Volkskönigs und forderte in einem Schreiben den preußischen König auf, die Todesstrafe abzuschaffen. Ausgerechnet im Jahr ihres Todes 1759 wurde das Freie Deutsche Hochstift als eine Vereinigung von Frankfurter Bürgern „für Wissenschaften, Künste und allgemeine Bildung“ gegründet.
Die Bettina-Reisetasche im Romantik-Museum
Auch im DeutschenRomantischen-Museum selbst kann man den Spuren Brentanos folgen, Foto: Petra Kammann
Ein interessantes Detail dieser vielfältig angelegten Ausstellung: schließlich stieß Bunzel bei der Vorbereitung der Ausstellung im Depot auf jede Menge Devotionalien und Alltagsgegenstände und machte einen sensationellen Zufallsfund, der 1977 als Teil des sog. Sommerhoff-Nachlasses in das Freie Deutsche Hochstift gekommen war, nämlich auf eine ganz besondere Handtasche, worauf er noch heute stolz ist. Die quirlige und gewitzte Bettine von Arnim hatte als moderne Städterin in den frühen Jahren des 19. Jahrhunderts ihren Lebensmittelpunkt in Berlin, wo die Salonkultur blühte und wo sie zu Gast bei dem Rechtswissenschaftler Carl von Savigny, den ihre Schwester Gunda geheiratet hatte, war. In Berlin verkehrte sie mit den Brüdern Jacob und Wilhelm Grimm oder Alexander von Humboldt. Trotzdem wurde sie erst nach Achims Tod 1831 selbst zur Schriftstellerin, dazu erfolgreicher als Achim von Arnim selbst.
Aber sie hielt sich auch aber immer wieder über längere Zeit auf dem familieneigenen knapp 80 km südlich von Berlin liegenden Landgut in Wiepersdorf auf. Für ihr Hin- und Herpendeln jedenfalls benutzte sie die neu eingerichtete Eisenbahnlinie zwischen Halle und Berlin und wollte sich auf der Strecke nützlich machen. Sie hatte wohl beobachtet, dass die reisenden Herren, um auch unterwegs zu arbeiten, häufig aufklappbare Reiseschreibsekretäre bei sich trugen, in die häufig Bodenschubladen eingearbeitet waren.
Bettine von Arnim, Handtasche, Abb. Freies Deutsches Hochstift
Als siebenfache Mutter war Bettine es gewohnt, die für sie verfügbare freie Zeit kreativ zu nutzen. Also ließ sie sich eine solche beidseitig ausklappbare und für Reisen geeignete Handtasche bei einem renommierten Hofbuchbinder für ihren eigene Bedürfnisse sonderanfertigen mit einem herausnehmbaren länglichen Holzkästchen für Aufbewahrung von Schreibgeräten und Hilfsmitteln zum Zeichnen (Bleistift, Kreide) sowie von Handarbeitsutensilien (Strick-, Näh- und Stecknadeln). „Da sie für das Arbeiten unterwegs konzipiert war, könnte man diese Handtasche als Laptop des 19. Jahrhunderts bezeichnen“, erläutert Bunzel amüsiert. Diese Handtasche aus grünem, geprägten Leder mit Holzboden und Messingschloss – ein wahrhaft ungewöhnliches Accessoire einer selbststbewussten Frau aus dem frühen 19. Jahrhundert – befindet sich heute dauerhaft als Exponat im Romantik-Museum. Und eine Nachbildung gibt es heute in Schloss Wiepersdorf zu sehen, dem einstigen Landgut, das ihr Mann Achim von Arnim bewirtschaftete, wohin in Teilen die Ausstellung wanderte.
Gedächtnisort Wiepersdorf
Zu den Satelliten die ihm am Herzen liegen, gehört für Wolfgang Bunzel auch Wiepersdorf, ein „wie aus der Zeit geholtes verwunschene Märchenreich im Brandenburgischen“, wo man fern ab jeglicher Zivilisation ganz auf sich gestellt ist und ganz für sich sein kann. Schloss Wiepersdorf blieb über sehr lange Zeit – bis 1919 – in Familienbesitz der von Arnims. Aber auch nach dem Verkauf fühlten sich die Nachkommen später noch dem Anwesen verpflichtet, bis nach Kriegsende die bisherigen Bewohner von der sowjetischen Besatzungszone enteignet wurden.
Plakate zu vergangenen Bettine von Arnim-Ausstellungen in Gunzels Arbeitszimmer, Foto: Petra Kammann
Da für die DDR-Kulturpolitik die Epoche und die Vertreter der Romantik aber als rückwärtsgewandt oder gar reaktionär galten, wurden hier zwar eigene Museumsräume eingerichtet, die Freundeskreise dem Ehepaar Achim und Bettine von Arnim gewidmet hatten, doch musste Wiepersdorf inzwischen verschiedene weitere Stationen mit teils unterschiedlichen Nutzungskonzepten durchlaufen. Das Anwesen wurde immerhin kulturell in der DDR umgenutzt, das Wiepersdorfer Gutshaus als Dichterheim deklariert und zur Erholungsstätte für Kulturschaffende entwickelt, wo zahlreiche DDR-Autoren und Autorinnen zeitweise lebten und arbeiteten, darunter Anna Seghers, Christa Wolf und Arnold Zweig. Das Andenken an die früheren Eigentümer blieb insofern durchaus präsent. Und es entstanden dort Texte wie Sarah Kirschs Gedichtzyklus „Wiepersdorf“ aus dem Jahr 1977. Die damals alleinerziehende Mutter, im 17. Stock eines Berliner Plattenbauhochhauses lebend, in dem man bespitzelt wurde, genoss ihre Zeit ganz besonders.
In seinem Selbstverständnis knüpft das Künstlerhaus als Begegnungsstättes an die zu DDR-Zeiten geschaffene Tradition des Schriftstellererholungsheims an. Heute ist Schloss Wiepersdorf ein Wohn- und Arbeitsort für Künstler und Künstlerinnen wie auch für Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen. Zugleich bleibt die Residenz aber auch die Gedenkstätte eines Ortes und seiner Bewohner. Seit Anfang der 90er Jahres gibt es in einem Seitentrakt ein Bettine und Achim von Arnim-Museum. Es ist sicher spannend, dort Rundgänge zu machen. In einem eingezäunten Gelände vor der Kirche befindet sich zudem die Begräbnisstätte der Familie von Arnim. Zur Vorbereitung für eine Besichtigung kann man auf der Homepage der Stiftung Wolfgang Bunzels virtuellen Rundgang schon mal akustisch erleben.
„In Aschaffenburg – Christian Brentanos Vorlesung“
In der weit verzweigten Brentano-Familie wurde neben der Literatur auch die Musik stets intensiv gepflegt: So sang Clemens Brentano zur Gitarre, während andere Familienmitglieder Flöte, Geige und Klavier spielten. Außerdem waren die Brentanos begeisterte und fachkundige Kunstsammler. Die Stadt Aschaffenburg hat gemeinsam mit Dr. Stephan Dessauer, dem Eigentümer des Künstlerhauses „Altes Forstamt“, die „Brentano-Akademie Aschaffenburg“ gegründet.
Neben dem Stammhaus in Frankfurt kommt der Stadt Aschaffenburg nämlich eine wichtige Bedeutung in der Familiengeschichte der Brentanos zu. Christian Brentano führte hier ein gastfreundliches Haus, in dem auch die Brüder Grimm und ihr malender Bruder Ludwig Emil Grimm gern gesehene Gäste waren; eine humoristische Skizze aus seinem „Reisetagebuch in Bildern“ trägt den Titel „In Aschaffenburg – Christian Brentanos Vorlesung“. Drei Mitglieder der Familie sind in Aschaffenburg bestattet: Clemens, Christian und Ludovica (Lulu) Brentano. Schon 1808 war Bettine mit ihrer Schwester Gunda für einige Tage zu ihrem Schwager Savigny und Achim von Arnim nach Aschaffenburg gereist, um sich die „herrlich große Kupferstichsammlung und ganz ausgewählt niedliche Gemäldesammlung“ anszuchauen.
Ihr Bruder Franz war 1837 ganz nach Aschaffenburg übergesiedelt. Sowohl Franz Brentano, Christians Sohn, der Philosoph, der hier seine Kindheit verbrachte, wie auch Bettines Lieblingsbruder Clemens Brentano, sind auf dem Aschaffenburger Altstadtfriedhof begraben. Und die Geschichte reicht weiter zurück. Clemens Brentanos Großmutter war nämlich die legendäre Sophie La Roche, eine der ersten und erfolgreichsten Frauenschriftstellerinnen ihrer Zeit, pflegte mit Wieland und Goethe regen Austausch. Seine Schwägerin Antonia war mit Ludwig van Beethoven befreundet, während sein Neffe Franz Brentano als Theologe und Philosoph in Wien wirkte.
Zu den kulturellen Highlights in Aschaffenburg zählen die Kunsthalle Jesuitenkirche und das Christian-Schad-Museum, Foto: Petra Kammann
Deshalb fand auch Wolfgang Bunzel es an der Zeit, an die Bedeutung Aschaffenburgs für den Kreis der Romantiker anzuknüpfen, um ihre Nachwirkung in der europäischen Geistesgeschichte und die Tradition der Familie auf lebendige Weise fortzuschreiben. Schließlich sei in Aschaffenburg heute die Bildende Kunst ist gut vertreten mit der Jesuitenkirche, dem Christian-Schad-Museum und dem Kirchnerhaus. Nun solle die Literatur und die musikalische Tradition noch mehr gestärkt werden. Grund genug für eine Brentano-Akademie in Aschaffenburg, wo der Hanauer Mäzen Dessauer in Nähe in der Stadtmitte ein historisches Gebäude wieder hat herrichten lassen: den „Jägerhof“.
2022 wurde das erste, von der Brentano-Akademie Aschaffenburg organisierte Brentano-Festival ins Leben gerufen. Die Veranstaltungsreihe geht den Spuren Brentanos in Konzerten, Rezitationen, Workshops und Meisterkursen sowie einem Kolloquium nach, um das Erbe der Brentanos aufrecht zu erhalten und mit innovativen Projekten Impulse für die Zukunft setzen. Künstlerische Leiter sind der Tenor Julian Prégardien wie auch die Musikwissenschaftlerin Dr. Ulrike Kienzle, die mit ihrer Expertise für das Deutsche Romantik-Museum in Frankfurt betraut war und die 2019 eine viel beachtete Ausstellung über Clara Schumann im Frankfurter Institut für Stadtgeschichte kuratiert hat. „Wir versuchen daher, den Bereich Literatur und Musik dort zu verbinden. Ulrike Kienzle ist für den musikalischen Bereich zuständig, ich für den literarischen Schwerpunkt. Ende September wird an 4 Tagen die nächste Brentano-Akademie mit Exkursionen, Vorträgen und Lesungen dort stattfinden. Noch arbeiten wir am Programm. Ich selbst werde eine Präsentation über den Mythos Loreley zum Kaffee in einer lockeren zugänglicheren Formaten anbieten.
Musikwissenschaftlerin Dr. Ulrike Kienzle bei einem Vortrag über Clara Schumann im Holzhausenschlösschen, Foto: Petra Kammann
Clemens Brentano war ein ungemein produktiver und vielseitiger Autor, der Gedichte, Dramen, Satiren, Märchen, religiöse Schriften, dazu natürlich Briefe hinterlassen hat. Entsprechend umfangreich ist sein Werk. Etliche glauben, die Geschichte von der schönen, unheilbringenden Loreley sei von Heinrich Heine mit den berühmten Zeilen „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten …. In Wirklichkeit aber erfand 1801 der romantische Dichter Clemens Brentano die sagenhafte Figur der „Lore Lay,“ mit seinem Gedicht „Zu Bacharach am Rheine“, wonach ein regelrechter Loreley-Mythos einsetzte . „Nach bzw. neben Goethe und vor Heine war er jener Dichter, der die Ausdrucksmöglichkeiten der deutschen Sprache am intensivsten zu nutzen wusste und der ein einzigartiges Gefühl für die Musikalität von Literatur hatte. Daher sollten wir den Sprachkünstler und Wortakrobaten Brentano unbedingt neu entdecken“, meint Bunzel. Und das genau hat er auch vor, wenn er sich im Herbst in der Brentano-Akademie mit dieser Gestalt beschäftigen wird.
Das romantische Motiv der schönen wie unglücksbringenden Loreley ist im Mittelrheintal auch eine touristische Attraktion, Foto: Petra Kammann
„Mit Clemens Brentano hat man jemanden mit Volksliednähe, mit Volksmärchen, mit Kunstmärchen, mit religiöser Literatur, der selbst schon ein ganzes Spektrum abbildet. Und dann beim Mythos Loreley, da ist sofort Eichendorff dabei, natürlich auch Heine. Deswegen wollen wir diesen Fokus beibehalten: im Kern Literatur und Musik, aber auch Literatur und Bildende Kunst, Illustrationen und die Wechselwirkungen“. Erstaunlich, Bunzel erwähnt auch noch die Bildende Kunst, an der ihm liegt. Den Illustrationen habe er immer schon inspirierend gefunden, und die Bildende Kunst überhaupt. Seit seiner Zeit als jugendlicher Schüler hat er bisher noch keinen Besuch der documenta versäumt, um über die neuesten künstlerischen Strömungen im wahrsten Wortsinn im Bilde zu sein.
Und Koblenz-Ehrenbreitstein?
Auch Koblenz ist so ein weiterer Bezugsort der Brentano-Familie, der Gunzel inspiriert. Dort steht das Haus von Sophie von La Roche, in dem Clemens Brentano geboren wurde. Koblenz wurde auch im weiteren Verlauf seines Lebens für Clemens eine ganz wichtige Station, wo er sich u.a. tränenreich von seinem“Herzbruder“ Achim von Arnim an der „fliegenden Brücke“ verabschiedete. Der Eine steht noch an dem einen Ufer, der andere setzt über, und dann sehen sie sich zwei Jahre nicht. „Man hatte noch kein WhatsApp. Der Briefverkehr in Europa war schwierig und sehr ungewiss“, sagt Bunzel, dessen Augen zu funkeln beginnen: „Wissen sie, was eine „fliegende Brücke“ ist?, fragt Bunzel.
Die Fliegende Brücke von Koblenz, um 1800, aus privatem Familienarchiv
Und er schickt die Erläuterung gleich hinterher. Natürlich gab es damals noch keine Brücke über den Rhein, nur eine alte Brücke über die Mosel. Allein um Waren auf die andere Rheinseite zwischen Koblenz und Ehrenbreitstein zu transportieren, schaffte man dann fliegende Brücken, indem man über verankerten Kähne über einer Balkenkonstruktion eine große Fläche aus Brettern montierte, die dann beladen und rheinaufwärts durch die Strömung des Rheins rübergetrieben wurden. Wenn man so etwas entdeckt, dann wird die Kulturgeschichte, mit dem Verständnis, wie Kommunikation stattfindet, sehr viel konkreter.
Auf Geschichten wie diese stieß und stößt Bunzel immer wieder durch sein intensives Quellenstudium. So hat er Geschichten über Geschichten zu erzählen und kann diese mühelos aus dem Stand erläutern. „Ich liebe meinen Beruf, weil man ganz viele Dinge erfährt, von denen man sonst nie erfahren würde“. Im Umgang mit Freunden, auch Familien, mit Leuten, die in anderen, nicht kreativen Berufen, aber oft gutbezahlten Berufen arbeiten und darunter leiden, sagen diese ihm häufig, dass sie sich auch wünschen so wie er zu arbeiten. Das erlebt er als eine Form von Bestätigung, die bei ihm so etwas wie ein Glücksgefühl aufkommen lässt, auch wenn er Studierenden zusätzliche (Er)Kenntnisse vermitteln kann. „Wenn das mir gelungen ist, erlebe ich entweder in der unmittelbaren Form der Rückmeldung oder der Dankbarkeit dann so etwas wie die Sinnhaftigkeit meines Tuns.“
Blick in die aktuelle Ausstellung „Wälder. Von der Romantik in die Zukunft“, Foto: Petra Kammann
Nach dem ausführlichen Gespräch in seinem Büro, in dem er neben anderen Details einen ganzen Brentano-Kosmos eröffnet hat, frage ich mich, wie er das alles neben der Lehre an der Universität unter einen Hut bekommt, ob er auch mal schläft? Ach was, natürlich hat er längst schon wieder neue Pläne.
Im Romantik-Museum kann man in der aktuellen Ausstellung „Wälder. Von der Romantik in die Zukunft“ schon ganz sinnlich dem virtuellen Zwitschern der Vögel folgen und das Rauschen des Waldes spüren. So möchte er, dass Tiecks letzte Erzählung „Waldeinsamkeit“ aus dem Blonden Eckbert ein spätes, aber wohlverdientes Echo bekommt. „Das muss auch in die Schulen“, so sein Credo. Die abgespeckte Tieck-Reclam-Ausgabe ist schon in Arbeit…
Literaturhinweise
Von und mit Wolfgang Bunzel stammen zahlreiche Publikationen zur romantischen Literatur, wie zum Beispiel:
Die Brentanos.
Eine romantische Familie?
Hrsg. von Bernd Heidenreich, Evelyn Brockhoff,
Anne Bohnenkamp-Renken und Wolfgang Bunzel,
Hessische Landeszentrale für politische Bildung,
Verlag Henrich Druck + Medien GmbH
22,00 Euro
Wolfgang Bunzel, Hg.,
Das Haus der Brentano!
Eine Romanchronik von
Wolfgang Müller von Königswinter
Reizvolle Episoden
aus dem Leben der
Dichtergeschwister
Henrich Editionen