Italien, Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2024
Italia – unter dem Motto: „Verwurzelt in der Zukunft“
„Scheitern kann Anregung für tiefgreifenden Wandel sein“
von Christian Weise
Aus dem provinziellen Westen Frankfurts mit dem „Junkie-Express“ (der Straßenbahn 11) in die Innenstadt fahrend, treffe ich, nachdem ich das Drückercafé am Anfang der Mainzer Landstraße passiert habe, auf die ersten Drogenhändler, um dann beim Hinabsteigen zu den U-Bahnen auf eine Kohorte abgehärmter Drogensüchtiger zu stoßen. Bis kurz vor 8 Uhr morgens schlafen sie auch hier auf blankem Betonboden. Dann werden sie zumindest geweckt, kurzzeitig vertrieben, um dann aber immer wieder zurückzukommen. Einen der Süchtigen kannte ich flüchtig. Schwer an Taubstummheit leidend, half Benny Bücher-Paul in Bockenheim. Nur einmal, nach einem Krankenhausaufenthalt, verschätzte er sich bei der Dosis… Ein paar Stationen weiter sollte am vergangenen Dienstagvormittag im Literaturhaus das Konzept vorgestellt werden, mit dem das diesjährige Gastland Italien sich und seine Literatur präsentieren wird. Das Motto des Gastlandes: „Radici nel futuro“ – „Verwurzelt in der Zukunft“.
Das Ehrengast-Plakat: „Verwurzelt in der Zukunft“
Buchmessedirektor Jürgen Boos betonte in seinen einleitenden begrüßenden Worten, dass die Absicht sei, eine inzwischen lange Lücke mit der Vorstellung neuer Autoren zu schließen. In seinem Regal habe er aus frühen Zeiten etwa Tommasso Landolfi und Giuseppe di Lampedusa gefunden. 1988 seien Umberto Eco und Elsa Ferrante und andere Autoren breit vorgestellt worden, vieles davon auf Deutsch verlegt bei Piper. Anschließend folgte nichts mehr.
Buchmessedirektor Juergen Boos und die italienische Delegation im Literaturhaus, Foto: Christian Weise
Botschafter Armando Varricchio betonte mit einem Zitat Pasolinis, „Ich weiß sehr wohl, wie widersprüchlich man sein muss, um wirklich konsequent zu sein“, dass die große Kulturwelt Italiens „varietà“ und „richezza“ auszeichne.
Der italienische Botschafter Armando Varrichio und Koordinator Mauro Mazzo, Foto: Christian Weise
Commissario straordinario del Governo Mauro Mazzo, für die Koordinierung der Aktivitäten in Zusammenhang mit der Beteiligung an der Buchmesse eingesetzt, umriss anschließend die einende Kraft der „Fußballmannschaft“ Kultur, in der aufstrebende Autoren zusammen mit den bereits etablierten spielten.
Auf dem „Feld“ der Buchmesse seien verschiedene Positionen besetzt worden:
Die Nahrungsmittel – probieren und schmecken, Essen und Trinken werden eine Rolle spielen.
Es wird Ausstellungen geben, darunter: Augenblick und Ewigkeit – zwischen uns und der Antike; Niccolò Macchiavelli; Aldo Manuzio; Johann Wolfgang von Goethe.
Der 100. Jahrestag des Istituto della Enciclopedia Italiana Treccani, der 2025 gefeiert wird, kommt in den Blick.
Konzerte werden das klingende Italien bereits vor der Buchmesse in Dortmund und Berlin präsentieren. An jedem Buchmesse-Abend werden Konzerte in Frankfurt stattfinden.
Die Agora wird Schauplatz sein für Debatten.
Kultur ist für die Gestaltung der Politik nötig. Sie zeigt was wichtig ist: Respekt gegenüber dem Gesprächspartner. Die Aufgabe ist, Europa zu einigen als Plattform vieler Kulturen. Die Aufgabe ist auch, Europa und Russland wieder anzunähern, um nicht der selbstmörderischen Waffensprache anheimzufallen.
links: Präsident des italienischen Verlegerverbandes (AIE) Innocenzo Cipolietta, Foto: Christian Weise
Präsident Innocenzo Cipolietta nannte zunächst kurz die wirtschaftlichen Kennzahlen der Verlagsbranche: Inzwischen werden in Italien jährlich 112 Millionen Bücher gekauft – mehr als doppelt so viel wie 1988. In den vergangenen drei Jahren seien 600 italienische Titel als Übersetzungen auf Deutsch veröffentlicht worden. 70.000 Neuerscheinungen beglückten jedes Jahr die Italiener.
100 italienische Autoren seien diesmal zum Mitmachen aufgerufen und eingeladen worden.
Vielerlei Gruppen könnte man ausmachen und jeweils Autoren ihnen zuordnen. So ginge es um Gedichte bis zu sozialen Brennpunkten, um Krimis bis Comics, um Essays bis zu Liebesromanen, um Künste, um Jugendbücher, um Geschichte, um die Faszination der Deutschen, um junge Autoren, die nach Deutschland gezogen sind, darum, wie man einen neuen europäischen Roman erfindet, um die Rolle des Intellekts, um Rechts und Links, um verschiedene Genres, um Romane, die unsere Wünsche beschreiben, um Abwesenheit, um Schönheit, um Apokalypse, um Chaos, um Wissenschaft…
Stararchitekt Stefano Boeri präsentiert den Italien-Pavillon, Foto: Christian Weise
Auf seinen umfassenden Dank an alle Beteiligten hin stellte anschließend der italienische Stararchitekt Stefano Boeri, – bekannt vor allem durch seinen „Bosco verticale“, ein begrüntes Hochaus in Mailand, der mit der Gestaltung des italienischen Pavillons betraut worden war, das Konzept vor: „Zu Grunde liegt eine simple Idee, zu erzählen, was in Geschichte, Gegenwart und Zukunft geschieht.“ Der Ort hierfür ist die italienische Piazza als „der traditionelle Ort, wo es immer darum ging, miteinander etwas zu gestalten“.
Juergen Boos mit den Repräsentanten und Autorinnen, Foto: Christian Weise
Um den „Kern der Sache“ sollte es schließlich gehen in der kurzen Befragung der beiden eingeladenen Autorinnen. Beide sind etwa zum Zeitpunkt des letzten Italien-Buchmessegastlands 1988 geboren.
Anna Giurickovic Dato schrieb „Das reife Mädchen“ (übersetzt von Annette Kopetzki), erschienen 2018 bei Piper, in dem sie intensiv und psychologisch meisterhaft die Folgen von Kindesmissbrauch, Hilflosigkeit und Liebe, Macht und Ohnmacht, und Unschuld beschreibt.
Ginevra Lamberti schrieb „Der Aufruhr unserer Herzen“ (ebenfalls auf Deutsch übersetzt von Annette Kopetzki), der virtuos-vielschichtig die wilden 70er Jahre in Venetien schildert. Der Roman erscheint im August bei Piper.
Auf die Einleitungsfrage von Juergen Boos, was sie ihm sagen möchte, gab Anna Giurickovic Dato die provozierende Antwort: „Ich will gefoltert werden“. Es gehe ihr um einen Cut, einen Schnitt mit der Vergangenheit, um eine Zukunft ohne Wurzeln.
Ginevra Lamberti skizzierte anschließend – selbst aus der Provinz kommend – die Herausforderungen des Lebens an die Menschen. Italien sei nicht eben nur durch Städte und uralte Stadtkultur geprägt. Sie beschrieb die Versuche der Provinz, sich ab den 1970er Jahren zu wandeln.
Jugendliche seien aus der Provinz ausgezogen in die Städte und in die Welt, und anschließend seien sie wieder zurückgekehrt. 1978 habe in Italien die zunehmende Einnahme von Heroin eingeschlagen. Das Leben hätte damals Tabus benannt und gebrochen. So wurde auch die Lage der Frau thematisiert. Sprachlosigkeit zwischen Eltern und Jugendlichen sei eben nicht nur das Ergebnis gewesen. Literatur sei auf Wirkung aus, könne Tabus aufzeigen, verstöre.
Juergen Boos versuchte fragend eine Zusammenfassung: Literatur stellt also die Leser in Frage, will nicht unterhalten? Gehe es ihr um ein unerhörtes Ereignis? Sei das ein Trend der jungen Literatur?
Ginevra Lamberti wies daraufhin zunächst ihre Zugehörigkeit zur jungen Generation zurück, es gäbe inzwischen schon die Millennials und die Generation X und die Generation Z.
Raum für Wachstum zu geben, das sei für die Literatur charakteristisch. Es gebe jetzt viel Literatur in Ich-Form. Die Autofiktion. Außerdem seien hybride Formen der Genres bemerkbar, es gebe eine Tendenz zur Hybridisierung der Gattungen (Mischformen).
Ginevra Lamberti, Foto: Christian Weise
Anna Giurickovic Dato betonte mit Verweis auf italienische Autoren: Der „Turmbau von Babel“ ist als ein Geschenk zu betrachten. Es stelle sich nun ein Gefühl von Freiheit ein. Schon Natalia Ginzburg habe formuliert: Wer übersetzt, muss sich verlieren. So auch die Autoren – sie verlieren sich, bringen sich mit etwas anderem in Einklang.
Die kleine Diskussion mit den Autorinnen endete zusammenfassend bei der These: „Scheitern kann Anregung sein für tiefgreifenden Wandel.“
Somit ergab sich wieder der Ausblick auf die Zukunft und das Motto, unter dem sich Italien auf der Buchmesse präsentiert: „Verwurzelt in der Zukunft“.
Der kurze, sich anschließende Austausch mit dem Publikum, in dem nach nicht teilnehmenden und regierungskritischen Autoren gefragt wurde, schloss mit der Versicherung von Boos: „Es wird Reibung geben!“
Das Motto der Italiener im Hinterkopf, fuhr ich vorbei an der „Agora“ des Frankfurter Hauptbahnhofs wieder zurück in meine Höchster Provinz. Der Blick auf die Drogensüchtigen, die sich wie Katzen an den Mauern und Straßengeländern rieben, drängte die Frage auf: Für wen von ihnen, für wen von uns Passierenden, mag wohl das hier sichtbare Scheitern der Menschen eine Anregung sein für einen tiefgreifenden Wandel?