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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„Leben am Rande“: Das 12. Buch-Arsenal Kiew

Verbrannte Bücher, tote Dichterin, flammende Musikerin, Neuerscheinungen und viele Liebhaber der Literatur

Von Christian Weise

„On Tyranny“ von Timothy Synder, einem Professor der Yale University, liest stehend in der Metro die junge schwarzhaarige Frau im Original. Ich bin heute dort Passant, muss weiter auf das Buch-Arsenal, steige also bereits nach einer Station aus. „Leben am Rande“ lautet das Thema des 12. Buch-Arsenals. Das Betreten des Areals, der einstigen Waffenfabrik, ist schnell erledigt. Am Eingang nur die üblichen Sicherheitschecks mit Metalldetektoren.

„Leben am Rande“ – das Grün von Google Maps gepaart mit dem Blau-Violett eines Flusses, Foto: Christian Weise

Draußen im Hof des 60.000 Quadratmeter großen Ausstellungsgeländes sitzen rund um den Brunnen auf Stühlen schon einige Besucher. Alle anderen flanieren in den 9 Meter hohen, endlos lang scheinenden Gewölbegalerien, die seit 2006, als Präsident Volodymyr Yushchenko die Umwidmung lancierte, für Kunstausstellungen, aber auch für das Buch-Arsenal benutzt werden.

Die weiten Galerien des Kunst-Arsenals, Foto: Christian Weise

Rechts und links ziehen sich diesmal wieder lose arrangiert rund 100 Verlagsstände durch zwei der vier Gänge. Am ersten Tag fühlt man sich noch wohl, zumal, da draußen auf der Straße schwülwarmes Wetter drückt. Alle wichtigen Verlage der letzten Jahre sind vertreten. Entdecken kann man einige neue Verlagsnamen. Dies umso mehr, als vergangenes Jahr bei dem 11. Buch-Arsenal man auf das Konzept gesetzt hatte, die ukrainischen Neuerscheinungen durch mehrere großen Buchhandlungen, etwa „Sens“ (nun seit Februar mit großem Buchladen am Khreshchatyk) verkaufen zu lassen.

Verlage auf dem Buch-Arsenal, Foto: Christian Weise

Bis zur Hauptszene, die all die vergangenen Jahre „Café Europa“ hieß, auch weil sie von deutschen, polnischen, französischen, tschechischen Nationalständen gesäumt war, die so in diesem Jahr fehlen, passiert man noch einer von früher hier vorhandenen Szenen: der Literaturszene. Die weiteren Szenen nennen sich Lektorium, Verlagsszene. Draußen unter der „schwangeren Auster“, wie Berliner ulken würden, regiert  „die Straßenbühne“.

Wie nicht anders möglich: Kaum hatte ich das Buch-Arsenal betreten, begegnete ich gleich Oleksandra Koval, der Direktorin des Ukrainischen Buchinstituts. Und natürlich lief ich auch gleich Oleksandr Afonin, dem langjährigen Direktor des ukrainischen Verlegerverbandes, in die Arme. Langsam finden sich an der Hauptszene die Besucher ein. Ständig klackern die Stühle auf dem harten Boden. Vier hohe Podeste mit Kameras davor erinnern jetzt an Patriot-Systeme. Vadym Karpiak moderiert wie üblich vor besetzten Stühlen professionell die Eröffnungsveranstaltung.

Viele Kameras begleiten wie Abwehrgeschütze das Programm auf der Hauptszene. Foto: Christian Weise

Die einleitenden Worte, kurz zum Konzept und vor allem des Dankes an alle, die an der Gestaltung und Durchführung des diesjährigen Buch-Arsenals gearbeitet haben, kommen von Olesya Ostrovska-Lyuta, der Direktorin des Kunst-Arsenals und von Yuliia Kozlovets, der Festival-Koordinatorin des Buch-Arsenals. Ihr Dank gilt außer den verschiedenen Mäzenaten, zu den auch das deutsche Außenministerium zählt, auch dem ukrainischen Medienpartner Suspilne, der die Veranstaltung dokumentiert, so dass sie im Anschluss im Internet auf der Seite https://suspilne.media/culture/ zu finden sind.

↑ Olesya Ostrovska, Direktorin des Kunst-Arsenals, Fotos: Christian Weise

↓ Yuliia Kozlovets, Festival-Koordinatorin des Buch-Arsenals

Anschließend war der Plan intensiv zu flanieren, um von den heute nur 15 Veranstaltungen einige Eindrücke aufzuschnappen. „Rotation“ war also das Prinzip.

Als erstes stellten Tetyana Odarkova und ihr Ehemann Volodymyr Yermolenko kurz ihr Konzept vor. Die beiden, die auch durch ihr seit 2019 laufendes Medienprojekt Ukraine/World weiter bekannt sind, werden bis Sonntag 9 Veranstaltungen zu dem Thema durchführen.

Tetyana Ogarkova und Volodymyr Yermolenko, Foto: Christian Weise

„Wir haben uns für das Thema „Leben am Rande“ entschieden. Was ist eine Grenze? Warum leben wir am Rande? Es kommt uns so vor, als ob jeder von uns am Abgrund steht. Wir sehen diese Realität und den Preis, den unser Land zahlt. Für uns ist es wichtig, die Realität nicht zu vergessen. Es schien uns, dass es bei der Gestaltung eines solchen Themas um gemeinsame Solidarität mit Menschen geht, die am Rande stehen. Diese Grenze verläuft in jedem von uns“.

Olena Huseinova erläuterte anschließend das Kulturprogramm „Gräben überwinden“.

Das Kulturprogramm wird erläutert von Olena Huseinova, Foto: Christian Weise

Bedrückt schauten indessen immer wieder Besucher auf die zuletzt spontan aufgebaute lange Fläche mit Büchern, die vergangene Woche bei dem Raketenangriff auf das Stadtzentrum Charkivs in Brand aufgingen: 50.000 Bücher sind hierbei vernichtet worden.

„Verbrannte Bücher“ aus Charkiv, Fotos: Christian Weise

Die erste Diskussion „Ränder in uns selbst“ findet auf der Hauptszene statt zwischen Olena Stiazhkina, Larysa Denysenko, Oleksandra Matviichuk, und Oleksandr Mykhed, moderiert von Tetyana Ogarkova.

Diskussionsrunde, bei der es um Grenzerfahrungen zwischen Leben und Tod geht, , Foto: Christian Weise

„Ich denke nicht nur darüber nach, was die Grenze ist, sondern auch, was das Maß ist. Ich werde jetzt von dem Gefühl verfolgt: Ich kann nicht mehr, aber ich muss noch ein bisschen weiterleben. Ich muss leben, damit unsere Kinder ein normales Leben führen können. Ich muss noch ein Stück weiter in die Welt der letzten Haltestellen gehen, wo nur Krieger wissen, wie man diesen Raum nennt. Das Leben am Rande ist eine bewusste Entscheidung. Wer hilft uns dabei, dieses ‚noch ein bisschen mehr‘ zu leben? Unsere Ältesten und unsere Toten. Diese Zeit ist ein Leben mit geliehener Zeit“, sagt Olena Stiazhkina.

Oleksandr Mykhed: „Bei der Aufzeichnung der Grenzerfahrung geht es darum, dem Ganzen einen bestimmten Sinn zu geben. Grenzerfahrungen sind Versuche der Rationalisierung. Sie versuchen, das Chaos und die Leere zu erklären, mit denen wir jeden Tag konfrontiert sind.“

Ich halte unterdessen Ausschau nach Radomyr Mokryk, mit dessen Buch „Aufstand gegen das Imperium“ ich mich gerade intensiv beschäftige. Kaum habe ich ihn erblickt, flanieren wir gemeinsam uns unterhaltend einmal rund um das gesamte Galerien-Geviert mit allen Ausstellungen, Bereichen und Szenen.

↑↓ Jugendbücher, Comics und Graphic Novels – vor allem französische Bücher  fanden viele Interessenten, Foto: Christian Weise

Es gibt zu Beginn des Rundgangs im Uhrzeigersinn nach der Ausstellung von Plakaten ukrainischer Illustratoren die Neuigkeiten-Vitrine, später kommen Illustrationen zu Motiven des Romans „Parade in Moskau“ von Vasyl Kozhelyank, die Ausstellung „Dialoge“ der Meisterschule für Kalligraphie und Schrift, dann ein Projekt „Einfache Dinge“ der Künstlerin Maryna Talutto, und schließlich wieder Buchprojekte, darunter die besten Buchdesigns ukrainischer Bücher 2023, 100 Bücher des Deutschen Foto-Buchpreises und Kinderund Jugendbücher aus Frankreich, Comics und Grafic-Romane eingeschlossen.

↑ Bestes Buchdesign der Ukraine 2023, Fotos: Christian Weise

↓ Deutscher Foto-Buchpreis – 100 Beteiligungen aus den vergangenen Jahren

Dann tauschen sich Radomyr mit Yaryna Tsymbal, Anna Yutchenko, Yevhen Stasinevych über das Thema „Gräben überwinden: eine Belastung, die auftritt“ aus . Moderiert von Ivanna Skyba-Yakubova wurden in mehreren Stationen die Epochen der Generationen der 20er, 40er und 60er in den Blick genommen. Der gleichzeitige Blick auf das jeweilige Bild Europas verdeutlichte, wie sehr auch Europa höchst unterschiedlich und zerrissen war, was seine Attraktivität beeinträchtigte.

Diskussionsrunde über die 1920er, 40er und 60er Jahre, Foto: Christian Weise

Für die 60er stellte Mokryk fest, dass diese zwischen dem Holodmor 1932 und dem 2. Weltkrieg geboren seien, was einen formativen Einfluss auf den Humanismus dieser Generation gehabt habe.

Unterdessen singt draußen auf der Straßen-Szene Marjana Sadovska und wird von der Dichterin Kateryna Kalytko begleitet, die ihre Texte kurz dazwischen rezitiert. Das Feuer im Hintergrund spiegelt das gewaltige Feuer Sadovskas wider. Kalytko ist mit ihrem kühlen Stil ein Gegenpart, zwei Gegenpole haben einander gefunden! Sadovska ist in Deutschland, vor allem im Kölner Raum, wo sie seit viele Jahren lebt, bekannt.

Marianna Sadovska und Kateryna Kalytko, Foto: Christian Weise

Nun zieht es mich zurück zu Viktoria Amelina, der kurz nach dem vorhergehenden Buch-Arsenal 2023 bei dem Raketenangriff auf die Pizzeria im ostukrainischen Kramatorsk getöteten Autorin. „Zeugnisse“ heißt das kleine Bändchen mit Gedichten, die Freunde abwechselnd vortragen.

Cover des Gedichtbands von Viktoria Amelina

Viktoria zeichnete sich vor allem Ironie, Sarkasmus und die Liebe für Schnelligkeit aus, Schnelligkeit beim Autofahren, wenn sie vor allem seit Beginn des Krieges rasch wechselnden Orte ihrer Aktivitäten aufsuchte, und die Schnelligkeit, Pläne zu machen. So die Redebeiträge der engsten Freundinnen Viktorias.

Halyna Kruk, Sofia Cheliak, Marianna Savka, Olena Huseinova sprechen über Viktoria Amelina, Foto: Christian Weise

Beim Verlassen des Buch-Arsenals sehe ich noch Ostap Slyvynskyj, der unter anderem Olga Tokarczuks Jakobsbücher ins Ukrainische übersetzt hat. Er moderiert im Rahmen eines Programms des PEN Ukraine gemeinsam mit Mariya Tytarenko eine Reihe junger Autorinnen und Autoren.

Ostap Slyvynsky und Mariya Tatarenko, Foto: Christian Weise

Zwischendrin galt es, viele alte Bekannte zu begrüßen. Von den Verlegern Volodymyr Samoylenko (Nika-Centr), Oleksandr Savchuk aus Charkiv – „manchmal überkommen mich Depressionen“Olena Rybka, deren Verlag „Vivat“ gerade durch die Bombardierung Charkivs großen Schaden genommen hat, eine Verlegerin von Lybid, die nach Auslösung des bewährten Verlages nun zum Verlag Mystetstvo gewechselt hat und mit anderen diesen sehr alten ukrainischen Verlag verjüngt. Die Direktorin des Verlags Klio, der schon lange wichtige historische Bücher publiziert (die leider zu wenig übersetzt werden), Marjana Savka vom Verlag des Alten Löwen, Konstantin Sigov vom Verlag Duch i Litera – er wird am 5. Juni den 5. Band des Wörterbuchs der Philosophie“ vorstellen. Yevheniia Chupryna, die immer zwischen verschiedenen Verlagen wechselt, der Bildhauer und Verleger Rostyslav Luzhetskyy (Komora), der vor allem die Werke Oksana Sabushkos verlegt, vor nicht so langer Zeit aber auch eine sehr schön gestaltete Ausgabe eines dicken Werkes von Nina Haratischwili, übersetzt von Roksolana Svyato oder jüngst einen umfangreichen Band mit den Predigten von Patriarch Svyatoslav Shevchuk herausgegeben hat.

Rostyslav Luzhetskyy vom Verlag Komora im Gespräch, Foto: Christian Weise

Dann viele von denen die auf der Bühne standen. Darüber hinaus schon die, die erst in den nächsten Tagen zu Wort kommen. Etwa die alte Freundin Haska Shyjan: „Die Farbkombination Deiner Kleidung erinnern mich an die Gestaltung irgendeines Buches, das heute hier gesehen habe!“ „So etwas kannst nur wieder nur Du sagen…!“, war ihre Replik. Lilija Bomko ist eine junge Philosophin und Dichterin, die bereits engagiert in die Zukunft blickt.

Von den Fotografen kannte ich vor allem Alex Zakletsky und seinen Kollegen Oleksandr.

Und natürlich konnte ich es mir nicht verkneifen, das eine oder andere Buch zu erwerben. Volodymyr Yermolenko prüfte mit der Hand kurz das Gewicht meines Rucksacks – der allerdings durch das mitgeführte Notebook vom Gewicht her erheblich täuschte… Da es heute keine Luftalarme gab, musste ich auch nicht schwerbepackt in die Ukryttja, den Luftschutzkeller rennen.

Auf dem Heimweg erhaschte mein flanierender Blick wieder eine interessante Trouvaille: Eine junge Frau mit Baseballcap und mit durch ein Gummiband gebändigtem lockigen Haar las auf ihrem Smartphone einen philosophischen Text: „Devenir bourgeois, ça s’apprend?“ („Lernt man es (Staats-)Bürger zu werden?“).

Smartphone-Lektüre auf der Metro-Rolltreppe

Nachdem ich schließlich mit dem „leichten Rucksack“ und den drei schweren Tüten vom Kheshchatyk den Hang hoch zurückgelaufen bin, ging es entlang der blauen Klostermauer vorbei an tausenden Fotos von Soldaten und Zivilisten, die im Einsatz für die Freiheit der Ukraine seit 2014 ihr Leben gelassen haben, zurück zum Michaelkloster, meinem Domizil. Die Treppen hinauf in den sechsten Stock erinnerten mich in ihren lehmbraunen und rotbraunen Anstrichen schließlich an die Umschläge der Lubliner „Encyklopedia Katolicka“.

Bei diesem etwas schrägen Blick auf die Welt von Architektur und Menschen wäre es vielleicht Zeit für eine weitere kreative Erfindung: ein Buch-Parfüm.

Vorher aber galt es nun, vom Ciel bleu über dem Michaelskloster zu träumen.

↑ Das Michaelkloster bei Nacht, Fotos: Christian Weise

Blick auf die Klostermauer des Michaelkosters am helllichten Tag

 

PS: Das Programm des Buch-Arsenals, zu dem auch der vom Goethe-Institut Kiev organisierte Literaturgarten und mehrere Diskussionsbeteiligungen von Franziska Davies zählen, findet sich auf der Seite der Veranstaltung:

https://book.artarsenal.in.ua/

 

PS 2: Die Frankfurter Buchmesse war auf Anweisung von Jürgen Boos diesmal nicht nach Kiew gekommen. Der Leiter des Goetheinstituts Kiew war bei der Eröffnung kurz zu sehen, ebenfalls ein Verleger aus Jena.

PS 3: Gegen 3 Uhr 20 erklang schließlich der Luftalarm, am Rande zwischen tiefem Schlaf und erstem Erwachen, zwischen Nacht und baldigem Morgengrauen.

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