ÜBER LEBEN „Mitten am Rand“ – Das 3-tägige Festival und die Auftaktveranstaltung in der Alten Oper mit dem Museumsorchester
Angesichts der Erschütterung – musikalische Visionen vom Jüngsten Tag
Von Petra Kammann
Nach den Anschlägen in Israel vom vergangenen Oktober sehen sich viele Juden auch in Frankfurt verstärkt mit Angriffen und Antisemitismus konfrontiert, so dass sich Frankfurter Kulturinstitionen wie die Alte Oper Frankfurt, die Frankfurter Museums-Gesellschaft, die Oper Frankfurt und das Jüdische Museum zusammengetan haben, um in der dritten Ausgabe des Festivals „Mitten am Rande“ das jüdische Leben in der Stadt zur Zeit des Nationalsozialismus näher zu beleuchten. Schon der Rückblick auf eindrucksvolle Werke der Musikgeschichte wie auf das kurze Melodram „Ein Überlebender aus Warschau“, die erschütternde musikalische Erzählung vom Leid des jüdischen Volks im Warschauer Gettoaufstand von Arnold Schönberg, traf in der Auftaktveranstaltung im voll besetzten Großen Saal der Alten Oper auf Giuseppe Verdis Requiem und dessen klangstarker Vision vom Jüngsten Tag das Publikum mit voller Wucht. Das Frankfurter Opern- und Museumsorchester musizierte unter der perfekten Leitung seines Chefdirigenten Thomas Guggeis in Hochform. Eine fabelhafte Koordination aller Beteiligten: der hervorragenden Solisten Nombulelo Yende (Sopran), Tanja Ariane Baumgartner (Mezzosopran), Attilio Glaser (Tenor), Kihwan Sim (Bass) und Isaak Dentler (Erzähler), im Wechsel mit den vier profilierten Frankfurter Chören (Cäcilienchor Frankfurt, Figuralchor Frankfurt, Frankfurter Kantorei und Frankfurter Singakademie).
Würdigung der grandiosen Gemeinschaftsarbeit aller Beteiligten beim Schlussapplaus, Foto: Petra Kammann
Im prallgefüllten Saal der Alten Oper konnte man die berühmte Stecknadel fallen hören. Kein Räuspern, kein unangemessener Zwischenapplaus, Spannung ohne Pause bis zur letzten Minute. Dabei muteten die beiden sehr unterschiedlichen Werke, Arnold Schönbergs 7-minütiges für viele wegen der dissonant erscheinenden 12-Ton-Musik und der wechselnden Sprachen sicher gewöhnungsbedürftiges Melodram „A Survivor from Warsaw“ und Giuseppe Verdis „Messa da Requiem“ im unmittelbaren Anschluss ohne Pause dem Publikum einiges zu.
Aber der ergreifende Effekt war unmittelbar. Der brutale Bläserstoß zu Beginn hatte zweifellos das Publikum im Saal aufgerüttelt. Der Erzähler und Sprecher Isaac Dentler, Ensemblemitglied im Schauspiel Frankfurt, rezitierte mit seiner markanten Stimme zu Beginn den Augenzeugenbericht eines aus der Bewusstlosigkeit erwachenden Überlebenden aus dem Warschauer Gettoaufstand auf Englisch: „I cannot remember ev’rything. I must have been unconscious most of the time. I remember only the grandiose moments when they all started to sing, als if prearranged, the old Prayer they hat neglected for so many years – the forgotten creeds“.
Der einstige Agnostiker Schönberg erinnerte sich in der Emigration angesichts des Schreckens der Brutalität, von der er durch den Augenzeugenbericht eines Überlebenden über die brutale Niederschlagung des Warschauer Aufstands erfuhr, seiner ursprünglichen Religion. Ein Schmerz durchfährt die Glieder, wenn Dentler als Feldwebel der nationalsozialistischen Besatzer auf Deutsch skandiert: „Sie sind alle tot“ … „Ein, zwei, drei, vier – ,Achtung!“ … „Rascher! Nochmal von vorn anfangen! In einer Minute will ich wissen, wieviele ich zur Gaskammer abliefere! Abzählen!“
Die Unerbittlichkeit des Todes, der tiefen Trauer war auch in allen Momenten im Saal omnipräsent, zunächst im Crescendo des Männerchors, dann sparsam von vielen Pausen durchsetzt, die Brutalität der Nazi-Schergen in der kräftigen Stimme Dentlers sowie in den aggressiven Fanfaren der Blechbläser zum Schluss und schließlich im erlösenden auf Hebräisch gesungenen, lange vergessenen und vernachlässigten Glaubensbekenntnis Shema Yisrael Adonoy eloheynu , das auf das Wüten des ‚Feldwebels‘ als Hymnus folgt und daran erinnert, dass ihr Gott ein einig und unteilbares Wesen sei, den es zu lieben und zu ehren gelte.
Erste Reihe links: der Sprecher Isaac Dentler, Foto: Petra Kammann
„ÜBER LEBEN“ eben mit rituellen Gesängen. Oder wie die versierte Musikwissenschaftlerin Ulrike Kienzle im Programmbeiheft kommentierend schreibt: „Das lange in höchster Not in Vergessenheit geratene wieder erinnerte Gebet ist für die Totgeweihten die letzte Zuflucht und zugleich die größte Hoffnung. Dass sie sterben werden ist gewiss. Doch sie gehen im Bewusstsein des Aufgehobenseins in einer höheren Ordnung“, bei Schönberg gefasst und strukturiert durch die Ordnung der Zwölftonvarianten.
So klang das Ende des Melodrams, nachdem erst einmal Stille im Saal herrschte, wie ein Teil oder ein Vorspiel zu Verdis Requiem von 1874. Das vor 150 Jahren entstandene psychodramatisch angelegte Trauerwerk, dieser musikalische ,Todesgottesdienst‘, entspricht im Aufbau fast durchgängig der römisch-katholischen Liturgie, war zunächst von Verdi aus Trauer über den Tod des verehrten Dichters der italienischen Romantik, des freiheitsliebenden Dichters der „Promessi sposi“, Alessandro Mazzoni, entstanden und zweifellos als Hommage an ihn gedacht.
Mit dem einsetzenden „Kyrie, Requiem aeternam“ schimmert ein Teil der Geschichte von Freiheitskampf und Tod die Wiederauferstehung durch. Einem Opernorchester (vielleicht daher auch die Anspielung auf den „Don Carlos“) entspricht durchaus die Besetzung mit vier Solopartien und dem vierstimmigen Chor, hier bestens koordiniert durch die traditionsreichen profilierten Frankfurter Chöre (Cäcilienchor Frankfurt, Figuralchor Frankfurt, Frankfurter Kantorei und Frankfurter Singakademie), sowie dem starken Museums-und Opernorchester“.
Wenn der Chor ganz leise und zart anhebt: „Ewige Ruhe gib ihnen, Herr, und ewiges Licht leuchte ihnen. Dir gebühret Lobgesang, Gott in Zion, und Anbetung soll Dir werden in Jerusalem, erhöre mein Gebet, zu Dir kommt alles. Ewige Ruhe gib ihnen, Herr, und ewiges Licht leuchte ihnen. Herr, erbarme Dich! Christe erbarme Dich!“, erscheint der Anschluss an zuvor Gehörtes von Schönbergs Werk aus dem Jahre 1947 fast selbstverständlich.
Eindrucksvoll dann im Requiem das Einsetzen des unerbittlichen Paukenschlags beim Dies irae, dann wiederum das Bitten und Erbarmen im Wechsel der wunderbar aufeinander abgestimmten vier Solostimmen – fast schwebend im Lacrymosa – grandios die kräftige und fein modulierte Stimme der südafrikanischen Sopranistin Nombulelo Yende, die der Bayreuth erfahrenen Mezzosopranistin Tanja Ariane Baumgartner, des Tenors Attilio Glaser, Ensemblemitglied der Frankfurter Oper, der den Tamino in der „Zauberflöte“ sang, und des selbstbewussten koreanischen Bassbariton-Stars Kihwan Sim, der sich in Sebastian Weigles Abschiedskonzert die Solopartie mit Bruckners „Te Deum“ profilierte.
Schlussapplaus für Sprecher und Solisten, den Dirigenten Guggeis und alle beteiligten Musiker und Choristen, Foto: Petra Kammann
Der traditionellen Trauermesse fügte Verdi jedoch zum Abschluss den Wechselgesang, das „Libera me“ hinzu, in dem der Chor und die Solisten wechselweise noch einmal ihr geballtes Können demonstrieren konnten; „Rette mich, Herr, vor dem ewigen Tod an jenem Tage des Schreckens, wo Himmel und Erde wanken, da Du kommst, die Welt durch Feuer zu richten. Zittern befällt mich und Angst, denn die Rechenschaft naht und der drohende Zorn. O jener Tag, Tag des Zorns, des Unheils, des Elends, o Tag, so groß und so bitter, da Du kommst, die Welt durch Feuer zu richten. Herr, gib ihnen die ewige Ruhe, und das ewige Licht leuchte ihnen.“
Der lang anhaltende Applaus war allen sicher und hatte die Messlatte für das, was Erinnerungskultur bedeutet, hoch gelegt.Eine einmalige Wiederholung wird es noch einmal am heutigen Montagabend in der Alten Oper geben.
Demnächst in diesem Festival „Mitten am Rand“
Wandelkonzert am Dienstag 28. Mai 2024 um 19:00 Uhr in den Räumen des Jüdischen Museums Frankfurt: Bertha-Pappenheim-Platz 1, 60311 Frankfurt am Main
Blick auf das Jüdische Museum, Foto: Petra Kammann
Ein außergewöhnliches Konzerterlebnis in Bibliothek, Saal, Dauerausstellung und im Foyer des Jüdischen Museums
Das Publikum ist eingeladen, in Gruppendurch die Räume des Museums zu spazieren und an unterschiedlichen Orten den Klängen der Musik zu lauschen – unter anderem Werken von Felix Mendelssohn, Ernest Bloch und dem Frankfurter Komponisten Mátyás Seiber.
Dabei ergeben sich immer wieder neue Klangräume und reizvolle Bezüge zwischen Musik, Architektur und den ausgestellten Exponaten. Das Wandelkonzert umfasst neben den konzertanten Elementen auch eine persönliche Begrüßung durch den Intendanten der Alten Oper, Dr. Markus Fein, den Vorsitzenden der Frankfurter Museumsgesellschaft, Dr. Burkhard Bastuck, und die Museumsdirektorin Prof. Dr. Mirjam Wenzel sowie Kurzführungen durch die Ausstellungen.