Die Recklinghausener Ruhrfestspiele 2024 unter dem Motto „Vergnügen und Verlust“
Geradewegs ins Herz der Finsternis
von Simone Hamm
Die Ruhrfestspiele unter dem diesjährigen Motto „Vergnügen und Verlust“ haben fulminant begonnen. Mit dem Zirkus „Pulse“, bei dem die Akrobaten mit ihren Körpern schwindelerregend hohe Pyramiden bauten. Sie lassen sich fallen, zeigen die Kraft der Gemeinschaft. Seit Jahren gibt es in Recklinghausen Zirkus aus aller Welt zu sehen, Zirkus ist zum Schwerpunkt geworden. Theater und Tanzkompanien, Musiker und Schriftsteller werden kommen, das Festival für schwarze Literatur „Resonanzen“ gehört auch zu den Ruhrfestspielen. Tiago Rodriguez und die Comédie de Genève führen uns mit „As Far As Impossible“ geradewegs ins Herz der Finsternis. Stephanie Rheinsberger ist Thomas Bernhards Regietyrann. Dibbuk – zwischen (zwei) Welten. Der universelle Dämon
Die Comédie de Genève mit Adrien Barazzone, Beatriz Brás, Baptiste Coustenoble und Natacha Koutchoumov spielt „As far as possible“, Foto: Ruhrfestspiele
„As Far As Impossible“
Mit einem grandiosen Stück über Helfer in Krisengebieten beginnen die Theaterabende. Für „As far as Impossible“ hat Tiago Rodrigues, künstlerischer Leiter des Festival d’Avignon, 30 Interviews mit Mitarbeitern des „Roten Kreuzes“ und der Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ geführt. Vier über sich selbst herauswachsende Schauspieler: Adrien Barazzone, Beatriz Brás, Baptiste Coustenoble und Natacha Koutchoumov geben ihnen ihre Stimme auf Englisch, Französisch, manchmal auf Portugiesisch oder Spanisch.
Die Länder, in die sie reisen, um zu helfen, werden nicht benannt. Sie sind das „Unmögliche“. Das „Mögliche“ ist das bequeme Zuhause. Es geht um Gewalt, Krieg, Unmenschlichkeit als solche, nicht um einen bestimmten Konflikt. Und doch hat man den ganzen Abend Bilder vor Augen von zerstörten Häusern in Gaza, Hungernden in Dafur, gequälten Frauen in Äthiopien.
Die Schauspieler, die Ärzte und Krankenschwestern darstellen, geben sich überrascht, als sie auf die Bühne kommen. Was sollen sie sagen? Wollen die Zuschauer wirklich hören, wie es ist, zu entscheiden, welches der vier lebensbedrohlich verletzten Kinder die einzige Blutkonserve bekommen soll? Wie es ist, wenn es einen kurzen Waffenstillstand gibt, weil ein verletzter Junge aus dem Dschungel geholt werden kann? Kaum sind die Helfer mit ihm den Berg hinabgestiegen, hören sie wieder Schüsse. Der Kampf geht weiter. Oder was sie empfinden, wenn sie im Haus eines Vorgängers Fotos von Kindern finden, die mit den Helfern eine Orgie feiern (müssen). Und exquisites Katzenfutter, dass mit dem Diplomatengepäck geschickt worden ist, finden sie auch. Und die Katze.
Was sie erlebt haben, macht die Helfer traurig, wütend, letztlich hoffnungslos. Sie erkennen, dass sie helfen wollen und nicht immer können. Aber zu Hause bleiben, das können sie auch längst nicht mehr. Ein großes Zelt, das während der zweistündigen Dauer des Stücks langsam hochgezogen wird, ist das einzige Bühnenbild. Darunter der Schlagzeuger Gabriel Ferrandini. Er begleitet den ganzen Abend mit unglaublichen Sounds, die er aus dem Schlagwerk herausholt. Er gibt Rhythmus, Takt, steigert sich unaufhörlich. Seine Soli sind genauso erbarmungslos wie die Geschichten.
Tiago Rodriguez bleibt immer höchstsensibel, wird niemals platt, niemals pathetisch. Er weidet sich nicht am Leid, kostet die Obszönität des Krieges nicht aus – anderes als andere Reporter und Regisseure. Es ist ein Drahtseilakt, die Helfer über ihre Arbeit im Krieg erzählen zu lassen, Anteilnahme zu erzeugen und dabei weder sentimental zu werden noch sich in grausamen Details zu verlieren. Der portugiesische Regisseur Tiago Rodriguez meistert ihn mit einem unglaublichen Musiker und tollen Schauspielern. Ein Abend, der lange nachklingen wird.
Stephanie Rheinsberger als Thomas Bernhards Regietyrann
Thomas Bernhard erzählt von Tyrannei und Demütigungen auf der Theaterbühne. Der Tanzsaal vom Dorfgasthof „Schwarzer Hirsch“ in Utzbach ist völlig verdreckt. Alles ist verstaubt: die Plastikstühle, das Hirschgeweih, das Ölgemälde von Hitler, die gestapelten Klopapierrollen. Das ist die finstere Provinz in Österreich. Fettaugen auf der Fritattensuppe, Gestank aus einer Schweinemast. (Bühne: Hansjörg Hartung)
Szene aus „Der Theatermacher“, Foto: Mathias Horn, Ruhrfestspiele
Hier nun soll der Welt größter Theatermacher Bruscon sein Stück „Das Rad der Geschichte“ zeigen. In den letzten zwei Minuten soll das Notlicht gelöscht werden. Weltuntergang. Es soll völlige Finsternis herrschen. Der Feuerwehrhauptmann muß das genehmigen.
Stephanie Reinsperger ist in Oliver Reeses Interpretation des Berliner Ensembles Thomas Bernhards „Theatermacher“, brachialgewaltig, cholerisch. Sie schnauft, sie schreit, sie stöhnt, sie faucht, sie zuckt mit dem Kopf, mit den Händen. Sie schimpft ununterbrochen zweieinhalb Stunden lang.
Es ist ein furioser zweieinhalbstündigen Monolog. Die anderen Personen, die Ehefrau (Christine Schönfeld), die Kinder (Dana Herfurth, Adrian Grünewald), der staunende Wirt (Wolfgang Michael) sind allenfalls Stichwortgeber.
Bruscon macht seine Kinder, die das Stück mit ihm aufführen soll, nieder, er verachtet seine Frau so sehr, dass sie nur noch husten, gar nicht mehr sprechen kann. Selbstherrlich wie er ist, hält er sich für den Größten nach Goethe und Shakespeare. Als Thomas Bernhard seinen „Theatermacher“ schrieb, hatte er wohl Regisseure wie Werner, Peymann, Zadek, Stein von Augen: großartig, genialisch, selbstherrlich und (zu ihrer Zeit) hochverehrt.
Im Gegensatz zu ihnen spielt Bruscon weder an großen Theatern noch mit großen Schauspielern. Er tingelt über die Dörfer, erinnert sich an seinen großen Erfolg in Gaspoltshofen. Ausgerechnet.
Regisseur Oliver Reese betont das Komödiantische an Bernhards „Theatermacher“. Bei Reese ist Bruscon kein tragischer, gefallener Held. Ich hätte mir mehr Facetten gewünscht. Stefanie Rheinsberger kann mehr als nur einen Wüterich spielen. Zu selten zeigt sie nicht nur den größenwahnsinnigen, misogynen, sondern auch einen gebrochenen Theatermacher. Dann ist Bruscon nur ein armer Wicht, ein zutiefst einsamer Mensch. Dazu schrammelt eine Livecombo. Die schönsten Szenen sind die, in denen er seinen Kindern vorspricht, wie sie zu sprechen haben. Er spricht ruhig und klar. Und wie er dann tobt und kreischt, wenn sie was falsch machen. Von solch differenzierten Momenten hätte ich mir mehr gewünscht.
Einen Theaterbetrieb wie den, mit dem Thomas Bernhard abrechnet, gibt es so nicht mehr. Auch nicht die Regieberserker, die Schauspieler sund Schauspielerinnen erst recht schon mal runtermachten vor allen anderen. Was nicht heißen soll, dass es das Machtgefälle an den Bühnen heute nicht mehr gibt. Und weil es in subtileren Formen existiert, kommt der „Theatermacher“ immer noch an.
Und am Ende? Da bleibt das Notlicht an.
Dibbuk – zwischen (zwei) Welten. Der universelle Dämon
Die Aufführung Dibbuk – zwischen (zwei) Welten hat mich ratlos zurückgelassen.
Die Schauspieler der transnationalen KULA Compagnie kommen aus Israel, Afghanistan, Russland, Frankreich, Algerien, dem Iran und Deutschland. Meistens sprechen sie in ihrer Muttersprache. Als Wundermaschine wird das Anzeigen der Übertitel ins Theaterstück eingebaut. Wir sollten einander verstehen können. Unter der Regie von Robert Schuster führen KUKA die Geschichte des Dibbuk auf, jenes Totengeistes, der sich im jüdischen Volksglauben im Körper eines Lebenden einnistet und ihn wahnsinnig macht.
Dibbuk mit Schauspielern der KULA Compagnie, Foto: Felix Grünschloss / Ruhrfestspiele
Der Dibbuk tritt in Leahs (Hadar Dimand) Körper ein, als sie in Israel mit dem deutschen Reedersohn Jannis Janssen (Jonas Schlagowsky) Hochzeit feiern möchte. Plötzlich spricht sie mit der Stimme des Dibbuk. Hader Dimand spielt die Besessene überzeugend, verdreht die Augen, verzerrt den Mund. Der Rabbi findet heraus, dass ihr Vater, indem er sie einem Christen zur Frau gibt, Schuld auf sich geladen habe, denn er hatte versprochen, sie nur mit einem Juden zu verheiraten. Deshalb konnte der Dibbuk kommen.
Zwar verlässt er Leas Körper, bleibt aber in ihrer Seele und zieht sie zu sich.
Die schönste Szene im ersten Teil ein Tanz, den Leah mit ihren virtuell zugeschalteten Freunden und Familienangehörigen aus Deutschland tanzt. Sie sind auf tragbaren LED Flächen zu sehen, auf denen Bilder ihrer Körper mit Leahs Kopf, Leahs Bauch verschmelzen. Soweit, so gut. Traditionelles Theater, eine bekannte Geschichte, eine karge Bühne, unterhaltsam gespielt.
Im zweiten Teil wird die Geschichte des Dibbuk noch einmal erzählt. Jetzt ist der Dibukk ein böser Dschinn. Leyla, eine junge Frau aus Afghanistan (Tahera Rezaie) ist im Theater gewesen und hat eben jenes Theaterstück über den Dibbuk gesehen, das wir gesehen haben.
Der Schauspieler des Jannis hat sich in sie verliebt. Er ist der Dschinn, der in Leylas Körper eingedrungen ist, gerade, als sie sich entschieden hat, dem Willen des Vaters zu folgen und Mustafa zu heiraten, nachdem der ihr versprochen hat, dass sie weiter studieren und später arbeiten kann.
Während der Dibbuk ein Geist aus Leahs eigenen Kultur gewesen ist, kommt Laylas Dschinn aus einer anderen Kultur. Universell, sozusagen. Politische Aussagen werden eingestreut, nie vertieft, bleiben banal. Nie wird etwas so gesagt, dass es jemanden verstören könnten. Ein alter DJ macht die Geräusche. Dass Robert Schuster eine Geschichte zweimal erzählt, eben aus zwei Welten, gibt dramaturgisch nicht viel her. Der zweite Teil zieht sich in die Länge.
Ein Geist ist ein Geist, eine Besessene.