„Otto Ritschl – Bilder der späten Jahre“ im Kunsthaus Wiesbaden
Faszinierendes Spätwerk – ein Farb-Fest fürs Auge
Von Hans-Bernd Heier
Otto Ritschl gehört zu den wichtigsten Vertretern der abstrakten Kunst in Deutschland. Er stand in engem Austausch mit Alexej von Jawlensky, Ernst Wilhelm Nay, Willi Baumeister und Hanna Bekker vom Rath und war eine der bedeutendsten Malerpersönlichkeiten im Wiesbadener Kulturleben. Erstmals seit Jahrzehnten zeigt das Kunsthaus Wiesbaden eine repräsentative Auswahl der späten Bilder. Gerade „das Spätwerk hat Ritschls Ruhm ausgemacht“, so Peter Iden, Kunstkritiker und Gründungsdirektor des Frankfurter Museums für Moderne Kunst.
1975/35 Komposition; ©wiesbaden.de / Foto: Museumsverein Ritschl e.V.
Diese für Ritschl ganz entscheidende Phase seines Werks begann 1960 mit dem Umzug in sein nach den Plänen des Architekten Johann Wilhelm Lehr errichtetes Wohn- und Atelierhaus in der Schumannstraße, das heute nicht mehr existiert. Das fortan als „Ritschl-Haus“ benannte neue Domizil des Malers, das als Modell in der Ausstellung präsentiert wird, zählte zu den eindrucksvollsten Bauten von Lehr, der sich seit den 1920er Jahren einen Namen als einer der führenden Vertreter des Neuen Bauens in der Region gemacht hatte. Um sein Traumhaus finanzieren zu können, verkaufte Ritschl drei Werke von Jawlensky an die Mäzenin und Galeristin Hanna Bekker vom Rath.
Blick in die Ausstellung; © wiesbaden.de / Foto: Patrick Bäuml
Vorausgegangen war ein Jahrzehnt, in dem Ritschl nach Jahren in der inneren Emigration während des Nationalsozialismus an frühere Erfolge anknüpfen konnte. Durch seine Mitgliedschaft in führenden Künstlergruppen und die Teilnahme an großen Gruppenausstellungen zeitgenössischer Kunst – wie den ersten beiden Ausgaben der Documenta in Kassel 1955 und 1959 – gehörte Ritschl schon recht bald zu dem Kreis abstrakter Maler, die nach dem Zweiten Weltkrieg die westdeutsche Kunstszene maßgeblich prägten.
Der vielseitige Ritschl, geboren 1885 in Erfurt, gestorben 1976 in Wiesbaden, hat erst spät mit der Malerei begonnen. Zunächst startet er seine berufliche Laufbahn als Schriftsteller. 1915 wird sein erstes Theaterstück „Der Rechnungsdirektor. Komödie in drei Akten“ am Hamburger Thalia-Theater uraufgeführt. 1918 wendet sich der Spätberufene jedoch von seiner Tätigkeit als Schriftsteller ab und beginnt mit ersten Malversuchen. Im darauffolgenden Jahr hat er sein erstes Gemälde „Der irrende Soldat“ – ein Großformat von 2,5 x 1,5 Metern – mangels ordentlichen Malwerkzeugs mit Wattebäuschchen auf Leinwand getupft und gerieben.
Insgesamt hat der autodidaktische Maler ein immenses Werk von rund 1.900 Arbeiten hinterlassen, darunter etwa 1.600 Ölgemälde. Trotz hoch qualitativer Kompositionen ist dem Künstler der internationale Durchbruch versagt geblieben. „Da bin ich doch so alt geworden wie ein Methusalem, hab‘ geschafft wie ein Pferd, den großen Erfolg, nein, den hab‘ ich nicht gehabt“. Dieses lapidare Bekenntnis legte der bedeutende Einzelgänger als Neunzigjähriger nach nahezu 60 Jahren künstlerischen Schaffens ab.
Otto Ritschl; Foto: Wolff Mirus
Mit dazu beigetragen hat sicherlich die Diffamierung Ritschls als „entarteter Künstler“ durch die Nationalsozialisten. Er verzichtete deshalb während der Nazi-Diktatur auf Ausstellungen und malte nur noch heimlich. Auch nach dem Krieg mied der Maler, der häufig gegen den Strom schwamm, den von ihm abgelehnten „Kunstrummel“ und zog sich als Einsiedler in sein Wiesbadener Atelierhaus zurück.
In den 1950er Jahren beschreitet er gegenstandsloses Terrain und findet seinen persönlichen abstrakten Malstil, dem strengere geometrische und konstruktivistische Formen zugrunde liegen. Gegen Ende der 50er werden die gegenstandsfreien Formen weicher, farblich fein gestufte Übergänge und Differenzierungen halten Einzug in seine Bilder. Unscharfe, weiche wolkenartige Formen dominieren im Spätwerk, das mit seiner leuchtenden Farbkraft brilliert – ein Farb-Fest fürs Auge.
Zwei von Ritschls letzten Arbeiten; Foto: Hans-Bernd Heier
Beim Verkauf seiner Werke hielt er sich ebenfalls zurück. Wenn ein Kunstfreund ein Gemälde erwerben wollte, das er nicht verkaufen wollte, musste sein Adlatus Wolff Mirus dieses im Schlafzimmer sicherstellen. „Dem Sammler wurde gesagt, das Bild befände sich irgendwo auf Ausstellungstournee und wäre zur Zeit nicht greifbar. Mit der Zeit mussten immer mehr Bilder ins Schlafzimmer gebracht werden“. Ritschl selbst sprach schmunzelnd von „Schlafzimmerbildern“.
In seinen letzten Jahren umgab sich der laut seinem Schüler und Assistenten Mirus „disziplinierte“ Ritschl nur mit einem kleinen Kreis von Vertrauten und konzentrierte sich ganz auf seine Arbeit. In dieser ungemein produktiven Phase entstanden bis zu seinem Tod 1976 mehr als 900 Bilder. In der beeindruckenden Schau werden drei Dutzend seiner Hauptwerke gezeigt, darunter auch die letzten drei Bilder, die der Maler noch kurz vor seinem Tod vollendet hat.
Ritschls Staffelei, Malutensilien und Scherenstuhl aus seinem spartanisch eingerichteten Atelier; im Hintergrund Werke aus dem Jahre 1970; Foto: Hans-Bernd Heier
Die gezeigten Ölgemälde haben alle das gleiche Format – 130 x 97 cm – und stammen aus dem Nachlass des Künstlers, den der Museumsverein Ritschl e.V. betreut. Sie belegen eindrücklich, dass Ritschl mit ihnen eine der zentralen und originären Positionen der abstrakten Malerei formuliert hat. Der Maler gab seinen Kompositionen keine Titel, sondern ordnete sie nach Entstehungsjahr und Werknummer, zum Beispiel 1960/9.
Ergänzt wird die sehenswerte Präsentation durch zwei Dokumentarfilme „Otto Ritschl – Das Leuchten der Farbe“ von Stella Tinbergen von 2012 (Dauer: 16 Minuten) und „Otto Ritschl – Porträt eines Malers“ (Hessischer Rundfunk vom 9.8.1965, Dauer: 22 Minuten). Ein facettenreiches Rahmenprogramm begleitet die Schau, deren Eintritt kostenfrei ist.
Die Ausstellung „Otto Ritschl – Bilder der späten Jahre 1960 – 1976“, die noch bis zum 14. Juli 2024 im Kunsthaus Wiesbaden, Schulberg 10, gezeigt wird, ist in Kooperation mit dem Museumsverein Ritschl e.V. www.otto-ritschl.org und dem Museum Wiesbaden www.museum-wiesbaden.de entstanden. Begleitend zur Schau im Kunsthaus zeigt das Landesmuseum in einem Sammlungsraum Ritschls Werke aus den 1950er Jahren.
Der Museumsverein Ritschl e. V. wurde 1971 vom Künstler testamentarisch als Erbe der noch in seinem Besitz befindlichen Bilder eingesetzt und damit beauftragt, von ihm gekennzeichnete Bilder unter dem Titel „Der Weg meiner Malerei“ der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Ursprünglich war sogar an ein eigenes Museum gedacht. Um den Namen des Meisters der reinen Malerei lebendig zu halten, wurde der Otto Ritschl-Preis ausgelobt, der dem Preisträger eine Ausstellung im Museum Wiesbaden mit Katalog bietet und ein Preisgeld einschließt. Der rührige Verein vergab den „Otto Ritschl-Preis“ 2001 an so renommierte Künstler wie Gotthard Graubner, 2003 an Ulrich Erben, 2009 an Kazuo Katase, 2015 an Katharina Grosse und 2020 an Slawomir Elsner.