Zum Glück der Städtepartnerschaft Frankfurt-Lviv /Lemberg
„Das ist phantastisch!“
Impressionen von Christian Weise
„Die Ukraine ist doch nur eine Phantasmagorie!“, sagte der ukrainische Freund letzten Herbst vom Hügel über Uschhorod schauend. Gleichzeitig blickte er düpiert und hilflos in sich lachend, die Hände knetend nach unten. Vor bald 30 Jahren kam ich morgens mit einem Nachtzug aus Kyjiw an in Lviv. Im herbstlichen Morgengrauen begrüßte mich holpriges Kopfsteinpflaster. Am Straßenrand fegte eine alte Frau die Gosse. Orange leuchtete unterhalb des graublauen Kopftuchs und über den anthrazitfarbenen Steinen ihre Schutzweste.
Unterzeichnung des Freundschaftsvertrags, v.l.: OB Mike Josef (Frankfurt), Bürgermeister Andriy Sadovyii von Lviv und Stadträtin Eileen O‘ Sullivan, Foto: Stadt Frankfurt/Chris Christet
Ein Morgen voller Verheißung in einer alten Stadt! Zweierlei beeindruckte: wieder in einer alten, geschichtsträchtigen und – einer Murmel aus der Kindheit gleich – vielschichtigen Stadt zu sein. Dies hatte ich möglicherweise nach unserem Wegzug aus Berlin im Herbst 1969 immer bitterlich vermisst und später etwa in Frankreich wiedergefunden. Und es beeindruckte durch die morgendliche Versprechung der aufgehenden Herbstsonne das Dynamische. Dynamiken entwickeln sich langsam, aber stetig.
Ukrainische Bücher, in denen Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges eingeschrieben ist, Foto: Christian Weise
Welch Entwicklungen seit 1994! Damals völlig leere postsozialistische Buchläden, mehr Kugeln auf dem Abakus als Bücher im Regal. Öffentlich völlig verhaltene Bürger, ganz anders als in jetzigen Zeiten der Selbstdarstellung und einer großen Weltläufigkeit. Damals die Präsenz der herausragenden Kämpfer für die Unabhängigkeit der Ukraine: die ehemaligen Dissidenten. Dagegen heute eine große und vor allem junge Zivilgesellschaft und der schwere Einsatz für den Bestand.
Das Entstehen wichtiger Institutionen – zunächst der Theologischen Akademie, aus der viel später die große Ukrainische Katholische Universität Lviv hervorging mit ihrem postmodernistischen Bau, einem wichtigen intellektuellen Zentrum. Damals die dynamischen Zeitungen und Zeitschriften „Postup“ und „Ji“ und „Halyzka Brama“, um die sich viele der heute bekannten Intellektuellen aus Lviv sammelten.
Langsam vertraut mit den Menschen und Straßen Lvivs beobachtete ich Neues, was heute bekannter ist und die Stadt und Kultur über die Grenzen der Ukraine hinaus darstellt: den Verlag des Alten Löwen und das Zentrum für Stadtgeschichte. Neben Musik und bildender Kunst, der IT-Branche und allerhand Industrie und Handel am Stadtrand entwickelte sich schließlich auch der Tourismus, von dem damals so gut keine Spur war.
Gefunden habe ich als Besucher, also als jemand, der sucht, oder eher findet, wen wunderts, in den 30 Jahren der Reisen in die Ukraine vor allem Bücher. Wie die Feuchtigkeit des Morgennebels sind sie ein Kondensat. Sie können Altes zusammenfassen, festhalten. Andererseits sind sie selbst Dynamik. Wer schreibt, kommt auf Neues.
Eine spirituelle Kraft ginge von den Orten im Osten Osteuropas aus, meinte vor Jahren ein Schulfreund. Das heißt, an Pseudo-Dionysius denkend, mit dem sich unser Latein- und Griechischlehrer beschäftigte, beides: es gibt etwas, das zwischen Unsichtbarem und Sichtbarem oszilliert, das einer Sache innewohnt und Dynamik entfaltet, kurzum – in Lviv fließt der Stadtfluss Poltwa seit langem unterirdisch! – ein Pflasterstrand… „Das ist phantastisch“, so sagen‘s mit einem Wort aus dem Schulbuch die ukrainischen Freunde.
An den Spurensicherungen und den Dynamiken teilzunehmen, so stelle ich mir das Glück vor, auch das Glück der jetzt beschlossenen Städtepartnerschaft zwischen Frankfurt und Lviv.