“Alice Springs. Retrospektive” in den Opelvillen
Faszinierende Menschenbilder voller Empathie
Von Hans-Bernd Heier
Im letzten Jahr hätte June Newton alias Alice Springs (1923–2021) ihren 100. Geburtstag gefeiert. Unter dem Pseudonym Alice Springs arbeitete June Newton seit 1970 als Fotografin. Ihren runden Geburtstag nahm die Helmut Newton Foundation in Berlin zum Anlass, rund 200 Fotografien neu zusammenzutragen. Das Ergebnis ist eine grandiose Schau, die Mitte der 1940er-Jahre beginnt und mit dem letzten Fotoshooting 2004 endet. Diese ist jetzt unter dem schlichten Titel „Alice Springs. Retrospektive” in den Rüsselsheimer Opelvillen zu sehen. Alice Springs arbeitete wie ihr Ehemann Helmut Newton in den drei Genres: Porträt, Akt und Mode beziehungsweise Werbefotografie, allerdings mit unterschiedlicher Gewichtung – und auf Augenhöhe.
Alice Springs, Charlotte Rampling, Paris 1982; © Helmut Newton Foundation
Am Anfang des fotografischen Œuvres von June Newton stand eine Grippe ihres Mannes Helmut. Er bat sie, ihn zu vertreten, und erklärte ihr die Handhabung von Kamera und Belichtungsmesser. June fotografierte 1970 in Paris ein Werbebild für die französische Zigarettenmarke „Gitanes“. Das Porträt des lässig rauchenden Models war der Startschuss für die neue Karriere der ausgebildeten Theaterschauspielerin. In der Folgezeit vermittelte ihr José Álvarez, der damals eine Werbeagentur leitete, Aufträge für Produktwerbung. Bekannt wurde insbesondere eine große Kampagne für den Pariser Star-Friseur Jean Louis David, die jahrelang als ganzseitige Anzeigen in zahlreichen Magazinen veröffentlicht wurden.
Nach ihrem Durchbruch als Fotografin veröffentlichte June Newton ihre Aufnahmen unter dem Pseudonym Alice Springs. Die Wahl ihres Künstlernamens erläuterte sie in ihrer Autobiografie mit einer kleinen Anekdote: Während eines Abendessens mit Freunden habe Helmut sie gefragt, welchen Namen sie zu verwenden beabsichtige, wenn sie ihre Fotografien in einer Publikation veröffentlicht werde. Als die Unterhaltung darüber zum Stillstand kam, habe ein Freund des Paares kurzerhand die australische Karte im Atlas aufgeschlagen, nach eine Stecknadel gefragt und June gebeten, mit geschlossenen Augen zu zielen. Die Stecknadel sei im Zentrum des Kontinents in Alice Springs gelandet: „Das ist dein Name“, rief der Freund. Seitdem veröffentlichte June ihre Werke unter dem Pseudonym Alice Springs.
Vor den gegenseitigen Großporträts von Helmut Newton und Alice Springs informieren Kuratorin Dr. Beate Kemfert und Dr. Matthias Harder von der Helmut Newton Foundation die Presse; Foto: Hans-Bernd Heier
Helmut Newton lernte June, die 1923 in Melbourne mit dem Mädchenname Browne geboren wurde, 1947 in der australischen Metropole kennen. Während sie als Schauspielerin mit dem Künstlernamen June Brunell bereits zahlreiche Engagements hatte und erste Erfolg verzeichnen konnte, war Helmut, der vor der Naziherrschaft von Berlin nach Australien geflohen war und erst kurz zuvor ein Fotostudio eingerichtet hatte, im Lande noch kaum bekannt. 1924 heirateten June und Helmut. Danach reiste das Paar durch Europa, lebte in London und Paris, später wieder in Melbourne, bevor die beiden 1961 endgültig nach Paris zogen. Hier endete wegen der Sprachbarriere Junes Schauspielkarriere und sie begann autodidaktisch zu malen.
Startete Junes Foto-Karriere mit Werbefotografie, so konzentrierte sie sich ab den 1976er Jahren auf die Porträt-Arbeiten. Es entstanden zahlreiche Porträts, Menschenbilder voller Empathie, welche die für Alice Springs ihre so charakteristische Mischung aus Einfühlung und Neugierde auf ihre Zeitgenossen transportieren. Ihre unvergleichlichen Porträts wirken bis heute mit großer Authentizität und Intensität nach. Dazu gehören Aufnahmen ihrer Fotografenkollegen – darunter Manuel Álvarez Bravo, Peter Hujar, Robert Mapplethorpe, Sheila Metzner oder Sebastião Salgado – sowie anderer prominenter Persönlichkeiten wie Charlotte Rampling, Catherine Deneuve, Joseph Beuys, Karl Lagerfeld, Fanny Ardant, oder Niki de Saint Phalle.
Alice Springs „Self-portrait with Sirpa Lane“, Paris 1970s; © Helmut Newton Foundation
„Alice Springs konzentrierte sich in ihren Menschenbildern größtenteils auf die Gesichter, häufig fasste sie diese im engen Bildausschnitt als Brust- oder Dreiviertelporträt, ohne zusätzliche Accessoires. Nur wenige Porträts nahm sie im Studio auf, die Mehrzahl entstand – meist bei natürlichem Licht – im öffentlichen Raum sowie vor oder in den Wohnungen der anderen“, erklärt Dr. Matthias Harder, Direktor der Helmut Newton Foundation. Während die von Alice Springs Porträtierten den Betrachter meist direkt anzuschauen scheinen, schweift der Blick der von Helmut Newton Abgebildeten dagegen häufig in die Weite oder ist am Betrachter vorbei gerichtet.
Junes Selbstporträts und die Porträts ihres Mannes sind bekanntgeworden als legendäres Langzeitprojekt »Us and Them«. Sie nehmen in der Retrospektive eine Sonderstellung ein. Das Projekt umfasst auch Aufnahmen von weltbekannten Schauspielerinnen und Schauspielern, Künstlerinnen und Künstlern sowie anderen prominenten Personen aus dem damaligen kulturellen Jetset, die Alice Springs und Helmut Newton unabhängig voneinander fotografiert haben.
Alice Springs „Advertisement for Gitanes“, Paris 1970; © Helmut Newton Foundation
In der beeindruckenden Schau werden die bei unterschiedlichen Sitzungen aufgenommenen Porträts als Bildpaare nebeneinander präsentiert und offenbaren so zwei Facetten derselben Persönlichkeit. „Der Blick June Newton erscheint privater und intimer als der ihres Mannes, der die Porträtierten stets wie ein Choreograf mit geschickter Lichtregie und ausgewählten Accessoires inszenierte“, so Dr. Beate Kemfert, Vorstand und Kuratorin der Opelvillen Kunst- und Kulturstiftung. „Jedes Bildnis erzählt eine komplexe und individuelle Geschichte, und die Menschen auf den Schwarz-Weiß-Aufnahmen begegnen uns mal als private und mal als öffentliche Person – mit entsprechend unterschiedlichen emotionalen Ausdruck. Die Porträtierten spielen sich gewissermaßen selbst oder eine selbst gewählte Rolle“.
Alice Springs „Helmut in pumps“, Monte Carlo 1987; © Helmut Newton Foundation
Helmut Newton und Alice Springs haben sowohl Männer als auch Frauen nackt abgelichtet. Dabei waren die Aktmodelle meist die gleichen. Beim Nebeneinander der Akt-Bildnisse werden ihre unterschiedlichen Arbeitsweisen deutlich: „Helmut Newton hat auch in diesem Genre in erster Linie inszeniert, wie auch in seiner Mode- und Porträtfotografie. Alice Springs dagegen hat ihr Gegenüber wie in einer Gesprächspause eher beiläufig und stets natürlich abgelichtet“, sagt Harder. Alice arbeitete nicht wie Helmut im Auftrag des „Playboy“ oder vergleichbarer Magazine, sondern zunächst für sich selbst. Erst Ende der 1970er Jahre erschienen diese Aufnahmen in der französischen Zeitschrift „Photo“.
Die facettenreiche Schau „Alice Springs. Retrospektive” ist in Kooperation mit der Helmut Newton Foundationentstanden; von ihr stammen die Leihgaben mit Originalabzügen. Die Helmut Newton Foundation in Berlin ist eine internationale Stiftung mit weltweiter Ausstrahlung, die sich der Aufarbeitung und Präsentation des fotografischen Werkes von Helmut und June Newton widmet.
Die Ausstellung, die noch bis zum 11. August 2024 in den Opelvillen Rüsselsheim zu sehen ist, wird von einem vielseitigen Führungsangebot und Begleitprogramm ergänzt; weitere Informationen unter: www.opelvillen
„Alice Springs. Retrospektive” ist ein Partnerprojekt der internationalen Triennale der Fotografie „RAY“; weitere Informationen zur Triennale unter:
Parallel zu der Alice Springs-Retrospektive werden in der SCHLEUSE bis zum 16. Juni 2024 unter dem Titel »egg in stone« Arbeiten von Tatiana Vdovenko gezeigt. Die Künstlerin, die 2021 Teil der RAY MASTER CLASS im Museum Angewandte Kunst in Frankfurt war, studiert an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach, wo sie lebt und arbeitet.