Der Karneval von Venedig
Prunk und Pracht in der Lagunenstadt
von Paulina Heiligenthal
Wahr ist das Meer, wahr ist das Gebirge
wahr der Stein, wahr der Grashalm,
aber der Mensch?
Er ist immer maskiert, auch,
wenn er es nicht will und nicht weiß.
Luigi Pirandello (1867 – 1936)
italienischer Literatur-Nobelpreisträger 1934
Der Karneval von Venedig ist ein zweiwöchiges Fest voller Magie und Maskenbälle, mit prachtvollen Kostümen, traditionellen und originellen Masken, entwickelt aus den Bräuchen der Bürger der Lagunenstadt. Der Carnevale di Venezia ist leise, einer anderen Ära entrückt. Sinnenbetörend und melancholisch. Nur beim Defilee, um 17 Uhr am Markusplatz, werden die teilnehmenden Gruppen für den Wettbewerb der Kostümparade hörbar vorgestellt und interviewt. In diesem Jahr feiert man das Vorfastenfest vom 27. Januar bis zum 13. Februar.
Die edle und aufwendige Kostümierung erfordert große Kunstfertigkeit, Foto: Paulina Heiligenthal
Die offizielle Eröffnung findet am 3. Februar 2024 mit der Ankunft der 12 schönen Mädchen statt, die bei der „Festa delle Marie“, dem Marienfest, auf der Piazza San Marco in den schönsten Renaissance-Kostümen auftreten.
Am späten Vormittag kommen sie aus ihren Häusern geschlichen, die schlanken Gestalten in ihren schwarzen Gewändern. Überraschend huschen sie durch die schattenreichen Gässchen der Stadt an einem vorbei. Unerkennbar. Wie aus einer anderen Epoche, als die Welt noch mehr verschlossen war.
Lautlos und geheimnisvoll gleiten sie davon. Zu einem unbekannten Treffen, zum Mummenschanz?
Mit Rosenkranz in der Hand und mit sorgenvollem Blick ist auch Mater Dolorosa auf dem Markusplatz vertreten, Foto: Paulina Heiligenthal
Gitarrenklänge aus der Frühromantik! Dort, auf dem kleinen Vorhof einer Kirche werde ich von Fernando Carullis Werken in feinster Qualität angelockt. Ein intimes Gitarrenkonzert auf dem fast menschenleeren Platz: Andante Affettuoso und Larghetto. Auch der Walzer in E-Moll.
Der Gitarrist ist völlig versunken in seinem Spiel, das Spiel betörend schön.
Gekleidet in der Farbe der intensivsten Gefühle fordert der beringte Mann die Fotografin mit einer Geste auf, näher zu kommen, Foto: Paulina Heiligenthal
Carulli (1770- 1841), geboren als Spross einer wohlhabenden Familie aus Neapel, bekam in jungen Jahren Unterricht in Musiktheorie und im Spielen auf dem Violoncello. Hierzu wurde eigens ein Priester angestellt. Da es an Lehrern fehlte, brachte sich der Tüftler Carulli das klassische Gitarrenspiel, in Italien unbekannt, selbst bei. Er perfektionierte seine Technik und verbreitete die Musik, indem er Konzertreisen zunächst im eigenen Land, später im Ausland unternahm.
Sein erstes Konzert 1808 in Paris war von einem überwältigenden Erfolg gekrönt. Virtuos gespielt mit Tonleitern wie aus der Violin- und Klavierliteratur. Carulli machte die klassische Gitarrenmusik in Frankreich hoffähig. Für sein Lieblingsinstrument schrieb er über 360 Kompositionen, darunter „Carneval de Venise“.
„Legt die freundlichen Masken an, die finsteren Bösen legt beiseite,
warum denn Zorn auf Zorn, warum denn Neid auf Neid,
warum denn Gift auf Gift, warum denn Leid auf Leid,
legt die finsteren Masken beiseite und die freundlichen Masken an,
einfach getäuscht, täuscht genug.“
Gerd W. Heyse, 1930 – 2020, Schriftsteller und Aphoristiker
Ob elegant oder raffiniert, die Masken wirken immer geheimnisvoll und dienen der Anonymität, Foto: Paulina Heiligenthal
Das Wort Maske, italienisch „Maschera“, stammt mit ziemlicher Sicherheit vom arabischen „Mashara“ ab, was soviel wie Scherz oder Posse bedeutet. Ihr Ursprung entstammt den Ritualen der Naturvölker, die bei ihren Tänzen Masken trugen, um böse Geister zu vertreiben oder um Schutz bei den Göttern zu erbitten. In der Antike trugen Schauspieler Masken, um ihrem Spiel mehr Expressivität zu verleihen. Auch heute noch findet man Masken in der Oper – im „Phantom der Oper“, der chinesischen Oper – und im Theater.
Die Farbe Violett war einst die Farbe der Reichen und Mächtigen. Symbolisch steht sie für Demut und Buße, jedoch auch für Spiritualität, Kreativität und Selbstbestimmung, Foto: Paulina Heiligenthal
Wir setzen Masken auf, um unser fragiles, inneres Ich zu schützen. Venezia è fragile!
Bin ich Ihnen nicht schon Maske genug?, fragte sich der italienreisende Johann Wolfgang von Goethe (1749 -1832)
Die authentisch venezianischen Masken werden von Kunsthandwerkern in kleinen Manufakturen aus Pappmaché mit größter Fertigkeit hergestellt. Sie werden Bauta genannt. Einige Modelle entspringen den berühmten Charakteren der „Commedia dell’Arte“, wie beispielsweise die anmutige Colombina oder der naiv-fröhliche Arlecchino.
Die UNESCO hat die antike Kunst der Entstehung der venezianischen Glasperlen in die Liste des immateriellen Kulturerbes aufgenommen, Foto: Paulina Heiligenthal
Eine traurig-berühmte Bauta ist die Maske mit der sehr langen Nase: die des Pestdoktors. Sie geht auf das Mittelalter und auf die Assoziation mit der Geschichte der Stadt zurück. Damals war die Republik Venedig ein souveräner Staat und über 1100 Jahre lang eine See-Republik, außerdem eine der mächtigsten und reichsten Städte. Ein Knotenpunkt zwischen Orient und Okzident. Die Stadt wurde als Löwenrepublik bezeichnet, als Serenissima Repùblica di San Marco, die heiterste San Marco-Republik.
Eine altbabylonische Inschrift bezeugt den Ursprung einer einwöchigen Feierlichkeit vor 5.000 Jahren in Mesopotamien. Im Land der ersten urbanen Kulturen wird in diesen 7 Tagen kein Getreide gemahlen, Sklavin wie Sklave sind der Herrin und dem Herrn gleichgestellt. Die Mächtige und der Niedere sind gleich geachtet. Dieses Gleichheitsprinzip ist bis heute ein Charakteristikum des Karnevals.
Ob es sich bei diesem fürstlichen Paar um Königin Semiramis und König Ninos von Ninive handelt? Foto: Paulina Heiligenthal
In der Chronik des Dogen Vitale Falier wird das Karnevalsfest erstmals 1094 erwähnt. Die älteste Erwähnung einer Maske datiert nachweislich erst aus dem 13. Jahrhundert. In der Republik Venedig trug man das ganze Jahr über Masken, als Vorsichtsmaßnahme bei delikaten Geschäften zwischen Händlern und Schmugglern oder beim Glücksspiel. Nach den geltenden Gesetzen konnte niemand verhaftet werden, der dem Charakter der Maske Rechenschaft trug und entsprechend spielte.
Im Laufe der Geschichte dienten die Masken dazu, Spannungen zwischen den Menschen abzubauen, um Eskalationen zu vermeiden. Im Januar 1458 erließ der Rat der Zehn das Verbot, Masken in Kirchen zu tragen. Allem Anschein nach hatten sich Männer in Frauenkleidern und Frauen in Männerkleidung gehüllt, um so in die Nonnenklöster zu gelangen, respektive sich der verbotenen Leibeslust hinzugeben.
Nach der Eroberung durch den aufstrebenden Napoleon im Jahr 1797 und bis 1814 Teil des napoleonischen Königreichs Italien, hatte die mehr als tausendjährige stolze Republik Venezia, die bis dahin ein souveräner Staat gewesen war, aufgehört zu existieren. Es wehte ab 1815 als Teil des Lombardo-Venezianischen Königreich, das zu Österreich gehörte, die rot-weiße Flagge auf dem Markusplatz. La Serenissima wurde österreichisch. Die Bevölkerung hatte sehr unter Bonaparte zu leiden, der ihnen nicht nur die machtvolle Stellung in Europa, sondern auch ihre wertvollen Kunstschätze nahm. Eine Art psychologische Kriegsführung. Bedingt durch den wirtschaftlichen Niedergang, fand auch der Karneval ein Ende.
Eine Hommage an den großen Meister des Films Federico Fellini, Foto: Paulina Heiligenthal
Dank Federico Fellinis Film „Casanova” in 1976 wurde nach 170 Jahren die Tradition, mit Prunk und Pracht zu feiern, neu entfacht. Eine nachhaltige Wiederbelebung, die Fellini mit zahlreichen weiteren Künstlern organisierte, wurde ausgelöst. Das Revival des Karnevals wurde ein großer Erfolg. Auf der Bühne im Theatersaal, vor allem im Freien.
Sie sind freundlich, die Masken in Venedig. Nicht finster. Sie sind edel und ästhetisch. Auch opulent. Auf jeden Fall immer stilvoll.
Die Sonne versinnbildlicht das geistig schöpferische Zentrum im Menschen und zaubert ein Lächeln auf viele Lippen, Foto: Paulina Heiligenthal
Auf dem ikonischen Markusplatz herrscht eine himmlische Atmosphäre, wenn die Goldmosaiken des Domes in der abendlich glühenden Sonne mit den exquisiten Prachtkostümen der Maskerade wetteifernd leuchten .
Bellissima, la Serenissima!