Ist Frankfurt noch eine Buch- und Literaturstadt?
„Was aber bleibet?“…
Impressionen von Petra Kammann
Natürlich fand auch in diesem Jahrt die weltgrößte und internationalste Buchmesse vom 18.-22. Oktober 2023 in Frankfurt wieder uneingeschränkt live statt. Was 1949, vor 75 Jahren, mit bescheidenen Mitteln im Eingang der im Krieg zerstörten Paulskirche begann, hat sich im Laufe der Jahre zur größten internationalen Buchmesse entwickelt. Klar ist aber auch: Times are changing just now… Wird noch gelesen? Wenn ja, sind es Bücher? Und gibt es noch echte Verleger, die sich für ihre Autoren krummlegen und mit denen man außerdem ganz unaufgeregt plaudern kann? Auch solche Fragen werden spotlightartig in dem folgenden Rückblick auf 2023 beleuchtet.
75 Jahre Buchmesse, 75 Stühle – 75 Stories, Foto: Petra Kammann
Juergen Boos, Buchmessedirektor seit 2005, hatte auf der Pressekonferenz zur 75. Frankfurter Buchmesse konstatiert:„Die Welt ist in Aufruhr“. Und das bekam man in diesem aufregenden Jahr, das so vieles in Frage gestellt hat, nicht zuletzt an allen Ecken auf der Buchmesse zu spüren. Und zwar nicht nur politisch. Das allerdings hat sich seither jedoch leider bislang nicht geändert. Vielleicht aber müssen wir nur umdenken, anders kreativ werden, vielleicht auch andere Akzente setzen.
Dennoch hat die 75. Frankfurter Buchmesse ihre einzigartige Stellung als wichtigster internationaler Treffpunkt der Buch- und Medienbranche auch 2023 gezeigt: Mit 105.000 Fachbesucher*innen aus 130 Ländern – im Vorjahr waren es nach zwei Coronajahren pandemiebedingt nur 93.000 – gab es diesmal 110.000 Privatbesucher*innen, und damit eine Steigerung. Und insgesamt präsentierten sich 4.000 Ausstellende aus 95 Ländern in den Hallen. Immerhin gute Nachricht. Dieser Wachsttumsschub zeigte sich auch vor allem an den beiden Publikumstagen Samstag und Sonntag. Da lagen die Zahl der Besuche um mehr als ein Drittel über dem Vorjahr 2022. Dennoch war die Anspannung spürbar hoch. Die Gründe waren unterschiedlicher Art.
Ort der Debatten war wie in den letzten Jahren auch der Frankfurt Pavilion auf der Buchmesse, Foto: Petra Kammann
„Waben der Worte“ – Ehrengastland Slowenien
Die Frankfurter Buchmesse war mit dem Gastlandthema „Slowenien“ eröffnet worden, deren Motto dank der Vielsprachigkeit des kleines Landes „Waben der Worte“ lautete. Ein entsprechender Pavillon war aufgebaut worden, der diese Waben in Form von schwebenden Wolken aus traditionellen Spitzen veranschaulichte.
Angesichts der weltpolitischen Lage war der angekündigte Bundeskanzler Olaf Scholz zur Eröffnungsveranstaltung nicht gekommen, denn er war nach der Hamas-Katastrophe kurzfristig auf Nahostreise unterwegs und ließ sich von der grünen Staatsministerin für Kultur und Medien Claudia Roth vertreten. Die Nerven der Verantwortlichen lagen wirklich blank, nicht nur wegen ständiger Umorganisationen, vor allem auch wegen der dadurch nochmal verschärften Sicherheitsvorkehrungen. Und prompt gab es schon am Eröffnungsabend den ersten Eklat, der beinahe das jähe Ende der Messe hätte bedeuten können.
Slavoij Žižek und sein Fischer-Lektor Alexander Roesler Foto: Petra Kammann
Sicher war es erwartbar, dass die Debatte um den Nahostkonflikt über allem als Thema auf der Messe schweben würde. Doch löste die Eröffnungsrede des oftmals wild denkenden slowenischen Star-Philosophen Žižek angesichts des frischen und grausam brutalen Hamas-Überfalls daher viel Unmut aus. Zugegebenermaßen war der provokative Hitzkopf Žižek lange vor dem Ereignis schon angefragt worden.
Angesichts der neuen politischen Lage improvisierte und extemporierte er also in seiner Rede. Er verurteilte zwar die terroristischen Angriffe der Hamas auf die israelische Bevölkerung, verkniff sicher aber nicht die Bemerkung, man müsse auch den Palästinensern zuhören und den Hintergrund des Konflikts beachten, um ihn zu verstehen. Daraufhin verließen mehrere Gäste unter Protest den Saal, u.a. der hessische Antisemitismusbeauftragte Uwe Becker. Doch sollte dieser Auftakt die Buchgemeinde aus aller Welt während der kommenden Tage spalten?
„And the story goes on“ lautete das Motto der 75. Buchmesse – Buchmessedirektor Juergen Boos an der Paulskirche, Foto: Petra Kammann
Im Anschluss fordert Buchmessedirekror Juergen Boos spontan Redefreiheit für Žižek ein. Es gelte auch hier die „Freiheit des Wortes“. Es müsse möglich sein, eine Rede zu unterbrechen, er, Boos, sei aber auch froh, „dass wir die Rede zu Ende gehört haben, auch wenn sie uns nicht gefallen mag. Auch wenn wir sie sogar verurteilten.“ Es war mutig von ihm. Auf dem Hintergrund bekam auch die noch kurz zuvor gefallene Aussage Michael Friedmanns eine neue Dimension:„Ohne die Frankfurter Buchmesse wäre mein Leben ganz anders geworden.“ Vielleicht in dem Falle unser aller Leben.
Der slowenischsprachige österreichische Buchverleger und Autor Lojsze Wieser, Foto: Petra Kammann
Sollte das kleine randständige Land Slowenien mit seiner multikulturellen Tradition Land deswegen nicht seinen Ehrengastauftritt genießen können? Die Autoren, Musiker und wunderbaren Übersetzer, die schon ein halbes Jahr lang zuvor durch das Land getingelt waren, machten es wieder wett.
Und es waren ein paar Independent-Verleger wie Lojsze Wieser. Der slowenischsprachige österreichische Buchverleger und Autor aus Klagenfurt – ein absolutes buchmessetreues Unikum und köstlicher Erzähler – machte uns mit ganzen Kassetten slowenischer Literatur ebenso vertraut wie mit der osteuropäischen Küche, die er nicht nur zwischen zwei Buchdeckel gepackt hat, sondern die man an seinem Stand auch kosten konnte. Seit nunmehr 30 Jahren versucht er, uns Bücher Mittel- und Südost-Europas nahezubringen. „Europa“, schreibt Wieser, „kann nur erlesen werden: Buch für Buch, nicht Krieg um Krieg“. Wieser, der zweisprachige Kärntner Slowene, war nicht zuletzt deswegen Verleger geworden, „um einer Literatur Sprache zu geben, die in dem bisherigen Raum wenig Gehör gefunden hat.“
Ähnliches hatte sich wohl auch in diesem Jahr der Frankfurter Verleger Axel Dielmann gedacht, als er mit seiner 16-bändigen Ausgabe eine slowenische Literatur-Box unter dem Titel „Die wilden Slowenen“ publizierte, und zwar von Hand fadengeheftete einzelne 16 Bändchen mit slowenischen Texten: Gedichtbände von Barbara Korun und Dane Zajc, Erzählungen von Breda Smolnikar, Jani Kovacic und Veronika Simoniti, ein Gespräch zwischen Aleš Steger und Tomaž Šalamun, Essays von Mladen Dolar und Herrman Noordung, zwei Klassiker-Bändchen mit den „must reads“ aus Slowenien, einem „Dystopischen Omnibus“ sowie etliche andere Überraschungen aus dem prallen Literaturland Slowenien.
Der Verleger Axel Dielmann mit der slowenischen Literatur-Box, Foto: Petra Kammann
Eine „PAX FRANKFURTIANA“
Höhepunkt und Abschluss der 75. Buchmesse jedoch war ein nicht zu toppendes Erlebnis. Es wird allen, die die Ereignisse um den ausgezeichneten indisch-britischenSchriftsteller mitverfolgt haben, unauslöschlich in Erinnerung bleiben: die Verleihung des Friedenspreises an Salman Rushdie in der Frankfurter Paulskirche.
Der Preis ging an den Mann, der sich von der jahrelangen Fatwa nicht beugen ließ und „der den Frieden als Preis erhielt“, wie er selbst in seiner Dankesrede über die„PAX FRANKFURTIANA“, die ihm von der Jury zugesprochen wurde, sagte. Immerhin musste der furchtlose Autor über Jahrzehnte unter einer religiös verbrämten Morddrohung leben und nun war es kaum ein Jahr her, dass er nach einer schweren Messerattacke dazu auch noch ein Auge verloren hatte. Um ihn – gerade in Zeiten des neuaufkommenden Hasses – sicher zu schützen, war nicht zuletzt auch deshalb die diesjährige Messe unter besonders strenge Sicherheitsbestimmungen gestellt. Nachträglich kann man nur mit Genugtuung und Erleichterung sagen: es ist noch mal gutgegangen.
Friedenspreisträger Salman Rushdie steht verbal und existenziell für Meinungsfreiheit, Foto: Petra Kamman
Trotz der dramatischen Weltlage, deren Rushdie sich nicht zuletzt wegen seiner eigenen existenziellen Erfahrungen in allen Verästelungen bewusst ist wie kaum ein anderer, brachte er in der Paulskirche seine Zuhörer mit seinem Humor und seiner Selbstironie sogar zum Lachen. Außerdem hatte dieser besondere Friedenspreisträger alle Vortragenden zu den besten Reden angestachelt, von der Börsenvereinsvorsteherin Karin Schmidt-Fridrichs bis hin zum neuen OB Mike Josef, vor allem aber auch den gleichgesinnten Laudator und Freund, den inzwischen in Newark lebenden österreichischen Erfolgsschriftsteller Daniel Kehlmann mit dem Tenor „Vom Himmel fallen und überleben“. Der Effekt: die religionsoffene Paulskirche wurde an diesem Sonntag nicht nur zu einem Hort der Demokratie, sondern auch zu einem Ort der Empathie und der Sympathie für den Kämpfer selbst und für die Freiheit des Wortes.
Lang anhaltende standing ovations für Salman Rushdie in der Paulskirche, Foto: Petra Kammann
Julius-Campe-Preis für Thea Dorn
Der Julius-Campe-Preis, der einmal jährlich an Persönlichkeiten und Institutionen verliehen wird, die sich „auf herausragende Weise literaturkritische und literaturvermittelnde Verdienste erworben“ haben, ging in diesem Jahr an die Schriftstellerin, Fernsehmoderatorin und Publizistin Thea Dorn. Die Preisverleihung fand am Buchmessefreitag im Frankfurt Pavilion auf dem Messegelände statt.
Julius-Campe-Preisträgerin Thea Dorn, Foto: Petra Kammann
Mit dem Preis greift der heutige Verlag Hoffmann und Campe, der auf Julius Campe (1792–1867) zurückgeht, damit auch eine Tradition der Freiheit des Wortes auf. Campe nämlich galt seinerzeit als Entdecker des spöttischen Schriftstellers Heinrich Heine und überhaupt als mutiger Förderer der Autoren des „Jungen Deutschlands“. Er verband seine literarische Entdeckungsfreude mit gesellschaftlichem Engagement. In seiner witzigen Laudatio frotzelte der Schriftsteller, Pen-Vorsitzende und Freund Deniz Yücel und bezeichnete Thea Dorn in seiner bewusst gewählten Siez-Rede als „scheißliberale“ Schriftstellerin und Moderatorin.
In ihrer Dankesrede wiederum sprach die Publizistin Thea Dorn den Mut zur positiven Kraft der Literatur in finsteren Zeiten an – in manchem Rushdie verwandt. Dabei wehrte sie sich auch gegen unreflektierte political correctness: „Geben wir der Sphäre des Politischen, was des Politischen ist, und lassen wir dem eigentümlichen Nebenreich der Literatur, was der Literatur ist. Streiten wir für eine bessere, friedlichere, zivilere Welt und bewahren wir uns die Literatur als einen Raum, in dem die Trauer, der Zorn oder das Gelächter über die Unrettbarkeit der Welt ihren Platz haben. Niemand sagt, dass dies einfach ist. Aber wenigstens wir Literaturmenschen sollten in finsteren Zeiten den Verlockungen der Vereinfachung widerstehen.“
Daniel Kehlmann im Gespräch mit FAZ-Feuilletonchefin Sandra Kegel, Foto: Petra Kammann
Unaufhaltsam strömte schon ab dem 2. Tag das Publikum ins Messegelände. Neben den schon erwähnten Preisträgern waren natürlich auch wieder jede Menge interessanter Autoren in den entsprechenden Foren des Buchmessegeländes im Gespräch zu erleben. Rushdie-Laudator und -Freund Daniel Kehlmann hatte auch selbst einen neuen Roman geschrieben: „Licht-Spiel“ (Rowohlt), der näherer Betrachtung wert war. Darin geht es um die faszinierende Biographie des Filmregisseurs Georg Wilhelm Pabst, um Kunst und die Verführung durch Macht, um Schönheit und Barbarei – eine groteske Geschichte von der Rückkehr des in den USA erfolglosen deutschen Filmregisseurs G.W. Papst, der 1939 nach Nazi-Deutschland kam und dort zum Nazi-Profiteur wurde. Da war FAZ-Literaturkritikerin Sandra Kegel, die auch Medienwissenschaftlerin ist, gerade die richtige, um dem Autor Hintergrundfragen zu stellen, zum Regisseur und zum Erzähler, der die Technik des Schnitts ebenso gut beherrsche wie der Filmemacher.
Elke Heidenreich und Kathie Sallié, Foto: Petra Kammann
Unerschütterlich in ihrer Vitalität und Lesefreude wie eh und je, frech und witzig, bisweilen gehässig und dann wieder tiefgründig zeigte sich die leidenschaftliche Leserin, Buchvermittlerin und Autorin Elke Heidenreich im Gespräch mit Kathie Sallié über ihr neues Buch „Frau Dr. Moormann & ich“ mit den herrlichen Illustrationen von Michael Sowa (Hanser). Heidenreich war natürlich an mehreren Stellen auf der Buchmesse präsent, eben auch am „aspekte“-Stand. Nicht zuletzt ist sie, die so schreibt, wie ihr der Schnabel gewachsen ist, wohl für das begeistert applaudierende Publikum aus diesem Grund auch so attraktiv…
Der australische Bestseller-Autor Christopher Clark im Gespräch mit FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube, Foto: Petra Kammann
Wie zig fach auf der Buchmesse dann Themenwechsel, aber in diesem Paulskirchenjubiläumsjahr natürlich sehr spannend: der „Frühling der Revolution. Europa 1948/49 und der Kampf für eine neue Welt“ (Rowohlt) von Christopher Clark. Eine Liebeserklärung an das vielgestaltige Europa, wie FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube im Gespräch mit dem kenntnisreichen australischen, in Cambridge lebenden und lehrenden Historiker Sir Christopher Clark herausfand, der bei uns vor allem durch seine brillanten Terra X-Sendungen bekannt ist. Im Gespräch ging es um die Frage, was eine erfolgreiche oder gescheiterte Revolution ausmache und nach welchen Kriterien sich denn deren Erfolg bemesse. Der verständlich sprechende Historiker, der detailverliebte und anekdotenreiche Erzähler sieht das weniger pessimistisch als so manch strenger Historiker bei uns.
Große und Unabhängige Verleger
Im Krisenjahr 2022 hatte der dynamische und belesene Zürcher Verleger Daniel Kampa nach dem Frankfurter Verlag Schöffling auch noch den Salzburger Verlag Jung & Jung übernommen.
Vergnügt: der heutige Verleger Daniel Kampa und die frühere Verlegerin Ida Schöffling, die immer noch den legendären Katzenkalender weiterführt, Foto: Petra Kammann
In diesem Jahr konnte er noch die Zürcher Verlegerin Dörlemann hinzugewinnen. Genügt heute ein Verlag allein nicht mehr, um sich erfolgreich auf dem Markt zu bewegen? Die im Januar dieses Jahres von Kampa, Jung und Jung sowie Schöffling & Co. gegründete unabhängige Vertriebskooperation jedenfalls umfasst einen gebündelten Vorschauversand, gemeinsame Auslieferungen und Verlagsvertreter, gemeinsame Messeauftritte und Verlagspräsentationen. Eine starke Vertriebsgemeinschaft scheint in diesen Zeiten unerlässlich zu sein.
Joachim Unseld, Verleger der Frankfurter Verlagsanstalt, seit 1994, Foto: Petra Kammann
Joachim Unseld, (früher Suhrkamp) hat gewissermaßen das Verlegen mit der Muttermilch aufgesogen und nach der Trennung vom Suhrkamp Verlag die Frankfurter Verlagsanstalt von Klaus Schöffling gekauft und erfolgreich weitergeführt. Im Verlagsprogramm von Joachim Unseld befindet sich neben dem Deutschen Buchpreisträger und Bestseller-Autor Bodo Kirchhoff auch die heute in Berlin lebende preisgekrönte aktuelle Stadtschreiberin von Bergen-Enkheim Nino Haratischwili, die zuletzt noch im Dezember bei der interessanten Konferenz Textland zum Thema „Utopie oder die Realität von morgen“ auftrat und temperamentvoll über das sprach, was für sie Heimat und Erinnerung bedeute: Georgien, die Ukraine oder Deutschland?
Nino Haratischwili bei der Veranstaltung Textand VI, Foto: Petra Kammann
Das Familienepos Das achte Leben (Für Brilka) der 1983 in Tbilissi/Georgien geborenen, auch preisgekrönten Theaterautorin, -regisseurin und Romanautorin Haratischwili wurde in 25 Sprachen übersetzt und geriet damit zum weltweiten Bestseller, der gerade international verfilmt wird. Ihr Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Anna-Seghers-Literaturpreis, dem Bertolt-Brecht-Preis und dem Schiller-Gedächtnispreis, ihr Roman Die Katze und der General stand bereits 2018 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis.
Foto- und Kunstbuchverleger Lothar Schirmer Jahr für Jahr selbst an seinem Stand, und das seit 1974, Foto: Petra Kammann
Der Verleger Lothar Schirmer ist eine Art verlegerisches Urgestein. Das Programm des Schirmer und Mosel Verlags umfasst die zeitgenössische Kunst von Joseph Beuys über Cy Twombly und Hanne Darboven bis zu renommierten Fotografen wie Heinrich Zille, Henri Cartier Bresson, Bernd und Hilla Becher und deren Schüler Candida Höfer, Andreas Gursky, Thomas Ruff. Lothar Schirmer agiert zwar täglich in München, ist aber in Frankfurt eine feste Größe. Und er ist bis heute erfolgreich und voller Obsession für Kunst und Fotografie.
Der Mann mit dem hintersinnigen Humor spricht mit einem leichten rheinischen Akzent, lacht und schmunzelt wohltuend viel. Das Rheinland mit seiner Kunstszene der Nachkriegszeit hat ihn wohl geprägt, persönlich und beruflich. Er war acht Jahre alt, als die Familie 1953 aus dem thüringischen Schmalkalden nach Köln kam und er später vom protestantischen Bremen aus die Welt der Kunst eroberte. „Aus dem protestantischen Osten, da war die rheinische Form der Lebensführung, der lockere Umgang mit Prinzipien etwas ganz anderes.“ Rheinischen Optimismus, Keckheit und Lebenslust strahlt er jedenfalls bis heute aus.
Gerade erschien im Verlag Schirmer und Mosel auch der poetische Bildband zum 80. Geburtstag des einstigen Hanser-Verlegers Michael Krüger. Das brachte mich dazu, über herausragende Verlegerpersönlichkeiten nachzudenken. Sind sie eine verschwindende Generation? Zu ihnen gehören etwa so absolut gegensätzliche starke und unverwechselbare Persönlichkeiten wie Siegfried Unseld und Klaus Wagenbach. Beide leben nicht mehr. Sie bestimmten Debatten, hatten ein enges Verhältnis zu ihren Autoren. Sie „regierten“ auch in entscheidenden Phasen in der Buchstadt Frankfurt: der Schwabe Unseld als Leiter des Suhrkamp Verlags und Erfinder der Suhrkamp-Kultur, wie auch der in Hessen aufgewachsene und zunächst bei S. Fischer arbeitende, liebevoll spöttische und unberechenbare Freigeist und Rote Socken-Träger Klaus Wagenbach, der sich selbst als „Kafkas älteste Witwe“ bezeichnete.
Just in die Kategorie dynamischer Freigeist fällt auch der mit ihm befreundete, langjährige Hanser-Verleger Michael Krüger, der vor seiner schweren Krankheit jemals weder eine Frankfurter Buchmesse noch einen Friedenspreis versäumt hat. Er ist aber darüberhinaus noch Schriftsteller, Lyriker und außerdem ein brillanter Netzwerker und hat schreibend eine kleine Renaissance erlebt.
Der Verleger und Schriftsteller Michael Krüger, Foto: Petra Kammann
Unseld gehörte wohl auch zu seinen Vorbildern. Sein bei Suhrkamp herausgekommenes Selbstporträt, die Erinnerung an seine „Verabredungen mit Dichtern“ erschien ebenfalls aus Anlass seines 80. Geburtstag in dem einstigen Frankfurter Verlag. Man kann es kaum glauben. Nach einer schweren Leukämie und knapp dem Tod entronnen, schreibt Krüger so lebendig, dass man von der ersten bis zur letzten Zeile gebannt ist.
Anrührend schon die Geschichte des hochbegabten Enkels, der über seinen Großvater schrieb, der ihn unter seine Fittiche genommen hatte: ein Mann vom Lande, der zwar alles verloren hatte, nicht aber die Fähigkeit, noch über 100 Vogelstimmen unterscheiden zu können. Phänomenal!
Er schreibt von dem befreienden Gefühl, der Enge des damals piefigen noch zweigeteilten Berlins der 1960er Jahre nach London entronnen zu sein, um dann in der deutschen Abteilung der Buchhandlung des Londoner Edelkaufhauses Harrods auf unbekannte deutsche Exilanten zu treffen, die sein weiteres Leben prägten. Dann über die wunderbare Freundschaft mit dem polnischen Autor Zbigniew Herbert, über den Verleger Hubert Burda, den Schriftsteller Peter Handke und Bazon Brock, mit denen er den wunderbaren Petrarca-Preis ins Leben rufen konnte. Nicht nur beim Aufstieg auf den windumtosten Berg Mont Ventoux, für den der italienische Dichter Pate gestanden hatte, waren im Laufe der verlegerischen Jahre bei Hanser noch eine Reihe von Bergen zu bezwingen. Wie es dann kam, einfach so und natürlich mit viel persönlichem Einsatz, unendlicher Neugier und einer ausgeprägten Lese- und Kommunikationslust. „Nie aufgeben!“ muss wohl Krügers Lebensmotto geheißen haben.
„Meteorologie des Herzens“ wie eines Kapitel überschrieben ist, ist das Eine, vielleicht aber sind es auch noch ein paar weitere Zutaten wie zum Beispiel so tatkräftige und weitsichtige Mitstreiter im Verlag zu haben das Andere, wie zum Beispiel die marketingbegabte Felicitas Feilhauer, mit der er auch einen Kinderbuchverlag gründete, ganz abgesehen von zahlreichen Autoren, die ihm die Stange gehalten haben. Alles gut beobachtet und aller Ruhm, auch mit seinen Nobelpreisträgern nach Stockholm fahren zu können, sei ihm gegönnt.
Krügers Erinnerungen an Begegnungen mit Lyrikern und Lyrikerinnen aus (fast) aller Welt kann man nur mit großem Vergnügen lesen, auch wenn es hier und da ganz subjektiv, sprunghaft und anekdotisch zugeht. Das Buch spiegelt auf wunderbare Weise auch, wie der Glaube an die aufklärende Macht der Sprache ebenso an die Kraft der Phantasie Berge nicht nur erklimmen, sondern auch versetzen kann. Wer dafür dann noch die richtigen Worte findet, der macht das Leben reicher. Und davon hat bis heute im Wesentlichen die Buchszene gelebt und profitiert. Das ist durch kein booktok und keine KI zu ersetzen.
Neben der Buchmesse: die Stadt als offenes Buch
Natürlich gibt es in Frankfurt ein gut funktionierendes Literaturhaus unter der kundigen Leitung von Hauke Hückstädt, aber auch neue Formate wie die sogenannten OPEN BOOKS – offene Bücher für alle. Das seit 2009 von der Stadt Frankfurt parallel zur Buchmesse veranstaltete eintrittsfreie Lesefest hat neue Leserschichten im Blick und findet parallel zu den Buchmesseveranstaltungen auf dem Messegelände statt.
Sonja Vandenrath, Organisatorin von OPEN BOOKS, am Paulsplatz vor Torsten Casimir (Buchmesse) und Michel Friedmann, Foto: Petra Kammann
Sonja Vandenrath, die für Literatur Verantwortliche in der Stadt, sagt in einem Interview: „In Frankfurt, der Goethestadt, steckt viel Buch mit der internationalen Buchmesse als Markenkern, umrahmt vom Deutschen Buchpreis und dem Friedenspreis.“ Und weiter: „Hier sind wichtige Verlage ansässig, leben großartige Autorinnen und Autoren und experimentiert eine tolle junge Literaturszene. Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels, als Schaltstelle des deutschen Buchmarktes, hat seinen Hauptsitz in der Braubachstraße, der Mediacampus bildet den buchhändlerischen Nachwuchs aus, die Deutsche Nationalbibliothek hütet und bewahrt unsere Bücher, es gibt die älteste Poetikdozentur und den ersten Stadtschreiberpreis und nicht zu vergessen, das großartige Romantikmuseum neben Goethes Geburtshaus.“
Das müssen andere Städte erst einmal nachmachen. Die Frankfurter Institutionen sind gerade zur Messe allesamt eingebunden, neuerdings auch zum Beispiel Michael Quasts „Volksbühne“ im Großen Hirschgraben und inzwischen ebenso andere Institution in der näheren Umgebung. Dieses Lesefestival erfreut sich seither ungebrochener Beliebtheit. Ebenso die neu entwickelten „Debüts im Römer“, die am Buchmessefreitag mit 400 Zuschauer:innen aufgrund des großen Erfolgs auch künftig fortgesetzt werden sollen.
Sonja Vandenrath, hier mit Herfried Münkler, Foto: Paul Alexander Englert
Das lässt sich so leicht nicht toppen. Die Veranstaltungen, die Sonja Vandenrath und ihr städtisches Team rund um den Römer anbietet, sind immer vollbesetzt. Das Angebot, sich bei kostenfreien Lesungen einen Überblick über die wichtigen Bücher des Herbstes zu verschaffen, wurde dankbar angenommen und zog die Buchmesse an den Abenden in die Stadt hinein. Bei OPEN BOOKS waren es in diesem Jahr 13 Lesungen mit rund 170 Mitwirkenden und dies jeweils vor vollen Sälen. Nach der glanzvollen Eröffnung in der Deutschen Nationalbibliothek mit dem Blauen Sofa fanden die Lesungen ab dem Buchmessen-Mittwoch rund um den Römer statt.
Traditionell: Verleihung des Deutschen Buchpreises im Römer
Sechs ganz unterschiedliche Romane und Autoren und Autorinnen verschiedener Generationen und Prägungen hatte die unabhängige Fury für die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2023 ausgewählt: Terézia Mora: Muna oder Die Hälfte des Lebens (Luchterhand Literaturverlag, August 2023), Necati Öziri: Vatermal (claassen, Juli 2023), Anne Rabe: Die Möglichkeit von Glück (Klett-Cotta, März 2023), Tonio Schachinger: Echtzeitalter (Rowohlt Verlag, März 2023), Sylvie Schenk: Maman (Carl Hanser Verlag, Februar 2023), Ulrike Sterblich: Drifter (Rowohlt Hundert Augen, Juli 2023)
Die 6 Finalisten (v.links, unten): Sylvie Schenk, Anne Rabe, Ulrike Sterblich , oben Therézia Mora, Tonio Schachinger, Necata Öziri, Foto: Petra Kammann
Preisträger des Deutschen Buchpreises wurde Tonio Schachinger mit seinem reflektierten und kritischen Gesellschaftsroman, der das Aufwachsen seines Helden Till an einer Wiener Eliteeinrichtung beschreibt, an dem aus den gebildeten Zöglingen aus besserem Hause die rohe Gewalt spricht.
Preisträger des Deutschen Buchpreises wurde Tonio Schachinger, Foto: Petra Kammann
Das Lesefestival „Frankfurt liest ein Buch“
Bookfamily is perfect. Erstmals wurde das Buch „Streulicht“ (Suhrkamp) einer ganz jungen Autorin, Deniz Ohde, für das Lesefestival „Frankfurt liest ein Buch“ ausgewählt: Es hat mit Sindlingen und den Industriepark Höchst, wo es spielt und wo die Autorin aufwuchs zu tun und daher den Frankfurter Westen erkundet. „Streulicht“ steht für das Licht, das nachts vom Industriepark ausgeht und den Himmel seltsam erleuchtet. Und so ging es diesmal auch um das Sichtbarmachen dieser westlichen Vororte. Auch wurde in diesem Jahr besonders mit den Veranstaltungsformaten experimentiert. Neben der klassischen Lesung mit Gespräch gab es u.a. Ausstellungen, literarische Stadtspaziergänge, Urban Sketching, Filmvorführungen, Fotokurse, Videoworkshops und einen Kurzfilmwettbewerb, eine szenische Lesung, Werkstattgespräch, Shared Reading und Silent Reading sowie verschiedene Formate mit Musikeinsatz.
FF-Autorin Hannelore Kaus-Schwoerer im Gespräch mit Deniz Ohde, („Streulicht“), Foto: Petra Kammann
Die in in Leipzig lebende Autorin Deniz Ohde war in Frankfurt sehr präsent. Mit einer gelungenen Eröffnungsveranstaltung in der Deutschen Bibliothek lasen zum Auftakt von „Frankfurt liest ein Buch“ Vertreter der sogenannten Frankfurter „Stadtgesellschaft“, Passagen aus ihrem Roman „Streulicht“, angefangen vom frischgebackenen Frankfurter OB Mike Josef, über einen Lehrer der Max-Beckmann-Schule, Steffen Schwarz, die Taz-Kritikerin Isabella Cadart, bis hin zu einer Schülerin der Heinrich-von-Kleist-Schule Eschborn, Sarya Akdeniz. Darauf folgte eine anschließende „Liebeserklärung“ der Autorin selbst an die Stadt Frankfurt, in der sie humorvoll auf den erzählenden Flaneur Wilhelm Genazino Bezug nahm…
OB Mike Josef in der Rolle des Vorlesers in der Deutschen Bibliothek, Foto: Petra Kammann
Die Orte und Veranstalter waren gewohnt vielfältig und haben unterschiedlichste Interessentengruppen angezogen: Senioren- und Nachbarschaftszentren, Nachtclubs und Kneipen wie das Ulenspiegel in Gießen, die ExZesshalle in Bockenheim oder das habel.elf in Heddernheim, Kirchen und Gemeinden, Stadtbüchereien und Buchhandlungen, Cafés und Kinos, Museen wie etwa in Eschborn oder Geldmuseum und Museum für Kommunikation in Frankfurt. Mitgewirkt haben an der Gesamtgestaltung u.a. Schaupieler:innen und Musiker:innen, Wissenschaftler:innen, Studierende und Schüler:innen, renommierte Fachjournalist:innen und (Debüt-) Moderator:innen.
Lothar Ruske. Seit 2010 hat der Veranstaltungsmanager das große Lesefest „Frankfurt liest ein Buch“ auf die Beine gestellt, Foto: Petra Kammann.
Und einen Abschied mit Standing Ovations gab es für den engagierten Organisator Lothar Ruske nach 14 Jahren konsequentem Arbeiten und Ausweiten des Lesefestivals „Frankfurt liest ein Buch“ in die Region. Auch die Tochter der letztjährigen Preisträgerin Irmgard Keun war eigens zur Eröffungsveranstaltung in der Deutschen Bibliothek angereist. Hier ist eine Kontinuität schon angelegt.
40 Jahre Hölderlin-Preis – Ein Fest für herausragende Literatur
Eine Verjüngungskur gab es bei der Preisverleihung des renommierten Hölderlin-Preises am 4. Juni 2023 in der Bad Homburger Schlosskirche an Leif Randt. Der Autor erhielt die Auszeichnung für sein Gesamtwerk, während der damit verbundene Förderpreis in diesem Jahr an Anna Yeliz Schentke für ihr Buch „Kangal“ ging.
Hölderlin-Preis an Leif Randt in der Bad Homburger Schlosskirche, Foto: Petra Kammann
Ein Novum bei der Preisverleihung war die Kooperation mit Lehrern und Schülern und Schülerinnen des Bad Homburger Kaiserin-Friedrich-Gymnasiums, die mit vielen Fragen und einem Orchesterbeitrag zum Gelingen der Feier beitrugen. Moderiert hatte die Juryvorsitzende und FAZ- Feuilletonchefin Sandra Kegel und die Bad Homburger Kulturdezernentin Dr. Bettina Gentzcke. Auch der Initiator des Preises, der frühere Bürgermeister Wolfgang R. Assmann und der heutige OB Alexander W. Hetjes, der Schuldirektor des KfG und die eingebundenen Lehrer:innen hatten der Feier die Ehre gegeben…
Auch hier wurde wieder spürbar: nooktok, TikTok hin oder her. Nichts ist durch die Begegnung mit lebendigen Autoren und Verlegern zu ersetzen. „Die Gutenberg Galaxie hört nicht auf zu enden“, sagt der emeritierte Literaturprofessor und Autor Jochen Hörisch weise.
Diesmal waren die Schüler und Schülerinnen des Bad Homburger Gymnasiums diskutierend und musizierend in die Preisverleihung eingebunden, Foto: Petra Kammann
In Frankfurt spielt die Musik – in jeder Hinsicht
Aber nicht nur die Literatur hat in Frankfurt und im Rhein-Main-Gebiet ihren festen Platz. In Frankfurt spielt auch die Musik: die alte und die neue, die jazzige und die experimentelle, die Weltmusik in den großen Institutionen wie der Alten Oper und der Oper Frankfurt beim Hessischen Rundfunk, im Holzhausenschlösschen, an der Weseler Werft, im Romantik Museum, im Goethehaus und im Städel und natürlich auch in der freien Szene bei der Familie Montez und nicht zu vergessen in erreichbarer Nähe eben auch im Taunus, in Kronberg im wunderbaren neuen Casals Forum und im romantischen Rheingau mit seinen Klöstern und Schlössern und dem über Hessens Grenzen bekannten Rheingau Musik Festival, das parallel auch ein Rheingau Literatur Festival geschaffen hat.
Kinderfreuden und nicht nur Seifenblasen von 1805 – „Die Natur will, dass Kinder Kinder sind … Kindheit im Wandel: Von der Aufklärung zur Romantik!“ heißt die Ausstellung im Deutschen Romantik-Museum (Abb. Freies Deutsches Hochstift)
Aber das ist eine andere Geschichte, die zu schreiben ich wegen einer schweren Jahresendgrippe leider nicht mehr gekommen bin. So müssen wir den Faden im kommenden Jahr eben wieder mit neuen vereinten Kräften aufnehmen. And the Story goes on, you know?..
FeuilletonFrankfurt wünscht nun erst einmal:
Einen guten Rutsch, mit und ohne Feuerwehrkskörper, in ein hoffentlich friedlicheres Jahr!
Und möge doch auch ein Großteil der reichen Kultur in diesem fruchtbarem Rhein-Main-Raum in schwierigen Zeiten, die auf uns zukommen werden, auch künftig weiterhin erhalten bleiben!
„Was bleibet aber, stiften die Dichter“…
das wusste schon Friedrich Hölderlin.